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Glaubt man so manchem Bericht, nähern wir uns gerade dem Anfang vom Ende. DreiCovid-19-Impfstoffe zeigen hervorragende Ergebnisse, weitere sollen folgen. Aber wir erleben nicht den Anfang vom Ende; es ist nur der Anfang eines endlosen Wartens: In den reichsten Ländern der Welt gibt es nicht genügend Impfdosen, in den ärmsten erst recht nicht.

Deswegen ist es unverständlich, dass bei der Welthandelsorganisation (WTO) unter anderem die USA, Großbritannien und die Europäische Union einen Antrag blockieren, durch den die gesamte Welt mehr von den Impfstoffen und Behandlungen erhalten würde, die wir doch alle brauchen. Der Antrag, von Indien und Südafrika im Oktober gestellt, fordert, im Rahmen des TRIPS-Abkommens über Rechte des geistigen Eigentums WTO-Mitglieder von der Pflicht zu befreien, den Schutz bestimmter Patente, Geschäftsgeheimnisse oder pharmazeutischer Monopole durchsetzen zu müssen.

Der Antrag benennt die pandemiebedingte „Ausnahmesituation“ und argumentiert, dass der Schutz geistigen Eigentums derzeit „eine rechtzeitige Versorgung mit bezahlbaren medizinischen Produkten behindert oder potenziell behindert“; mit einer Ausnahmegenehmigung dürften WTO-Mitglieder Gesetze ändern, damit Unternehmen vor Ort Generika von Covid-19-Impfstoffen und -Therapien herstellen könnten.

Die USA, die EU, Großbritannien, Norwegen, die Schweiz, Japan, Kanada, Australien und Brasilien lehnten den Vorschlag sofort ab. Bei einem weiteren Treffen im November wurde er wieder abgelehnt, Anfang Dezember noch einmal. Nach unserer Zählung befürworten knapp einhundert Staaten den Antrag. Weil aber in der WTO fast alle Beschlüsse im Konsens gefasst werden, können sich wenige Länder gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen (selbst den einer beachtlichen Mehrheit: Insgesamt zählt die WTO 164 Mitglieder).

Pfizer erhielt von der deutschen Bundesregierung einen Zuschuss von 455 Millionen US-Dollar für die Impfstoffentwicklung.

Der US-Handelsbeauftragte sagte Berichten zufolge, der Schutz geistiger Eigentumsrechte und sonstige „Begünstigungen von Anreizen für Innovation und Wettbewerb“ seien der beste Weg, um die „rasche Lieferung“ von Impfstoffen und Therapien zu gewährleisten. Die EU meinte, es gebe „keine Hinweise, dass Fragen des geistigen Eigentums bei Covid-19-bezogenen Medikamenten und Technologien ein reales Hindernis darstellten“. Die britische Vertretung bei der WTO schloss sich dem an und bezeichnete eine Ausnahmegenehmigung als „extremes Mittel gegenüber einem unbewiesenen Problem“.

Doch in Wirklichkeit wurde zum Beispiel die neue Technologie, die dem Moderna-Impfstoff zugrunde liegt, teilweise von einer Behörde des US-Gesundheitsministeriums entwickelt, den National Institutes of Health, also mithilfe öffentlicher Gelder. Zusätzlich erhielt Moderna insgesamt etwa 2,5 Milliarden Steuergelder zur Forschungsförderung und Vorbestellung von Impfdosen; seine Forschungskosten konnte das Unternehmen nach eigener Aussage durch einen Zuschuss von einer Milliarde US-Dollar komplett abdecken.

Zwar hat Moderna zugesichert, seine „Covid-19-bezogenen Patente nicht durchzusetzen, wenn Impfstoffe zur Pandemiebekämpfung hergestellt werden“. Doch wie die NGO Ärzte ohne Grenzendarlegt, ist dieses Angebot weniger großzügig, als es wirken mag: Denn zur Entwicklung und Produktion von Impfstoffen sind in der Regel noch andere Arten geistigen Eigentums vonnöten, etwa Fachwissen oder Geschäftsgeheimnisse.

Pfizer wiederum erhielt von der deutschen Bundesregierung einen Zuschuss von 455 Millionen US-Dollar für die Impfstoffentwicklung, gefolgt von, nach unserer Rechnung, Abnahmeverpflichtungen vonseiten der USA und der EU im Wert von knapp 6 Milliarden US-Dollar.

Diese Impfstoffe wurden vollständig oder zumindest teilweise mithilfe von Steuergeldern entwickelt. Und so gehören sie eigentlich der Bevölkerung.

Auch AstraZeneca profitierte in der Impfstoffentwicklung von öffentlichen Mitteln. Für Forschung und in Form von Abnahmeverpflichtungen erhielt das Unternehmen von den USA und der EU über 2 Milliarden US-Dollar. Zudem unterzeichnete es einen Vertrag im Wert von 750 Millionen US-Dollar für insgesamt 300 Millionen Impfdosen zur Versorgung der beiden globalen Impfallianzen CEPI (Koalition für Innovationen in der Epidemievorbeugung) und Gavi (Globale Allianz für Impfstoffe und Immunisierungen).

Anders gesagt: Diese Impfstoffe wurden vollständig oder zumindest teilweise mithilfe von Steuergeldern entwickelt. Und so gehören sie eigentlich der Bevölkerung. Trotzdem sieht es so aus, als müsse die Bevölkerung erneut für sie zahlen, und das mit wenig Aussichten, die benötigte Anzahl an Impfdosen schnell genug zu bekommen.

Nach unseren Berechnungen, auf Grundlage der von Pfizer und Moderna angegebenen Produktionskapazität und ihrer Lieferverträge mit den USA, der EU, JapanundKanada, können diese Länder im besten Falle erwarten, bis Ende 2021 etwa die Hälfte ihrer Bevölkerungen geimpft zu haben. Laut der NGO Global Justice Now sind 82 Prozent von Pfizers Produktionskapazität für 2021 sowie 78 Prozent bei Moderna bereits an reiche Länder verkauft; in Anbetracht dieser Zahlen sind die Engpässe und Verzögerungen für den Rest der Welt absehbar. (Kanada soll so viel vorbestellt haben, dass es am Ende zehn Impfdosen pro Kopf erhalten könnte.)

AstraZeneca muss man zugutegehalten, dass es Verträge mit Herstellern in Indien und Lateinamerika abgeschlossen hat, ebenso wie mit der Gavi, um armen Ländern den Zugang zum Impfstoff zu ebnen. (Auch hat sich das Unternehmen verpflichtet, in der Pandemie keinen Gewinn aus dem Impfstoff zu erwirtschaften – wenngleich sich AstraZeneca laut Financial Times und Firmenunterlagen zufolge das Recht vorbehält, die Pandemie schon im Juli 2021 für beendet zu erklären.) Jedenfalls schätzt das Unternehmen, bis Ende 2021 drei Milliarden Impfdosen produzieren zu können; was lediglich für 20 Prozent der Weltbevölkerung reicht.

Probleme beim Zugang zu bezahlbaren Arzneimitteln betreffen auch jene Länder, deren Regierungen der Industrie einen weitreichenden Schutz geistigen Eigentums einräumen.

Arme Länder kennen derlei Probleme schon von früher. Als die WTO 1994/95 gegründet wurde, schnellten in Subsahara-Afrika gerade die HIV/AIDS-Infektionen in die Höhe. 1996 wurden dann neue Therapien entwickelt, mit denen sich eine HIV-Infektion weitestgehend handhaben ließ – doch nur bei Menschen, die sich die Behandlung auch leisten konnten. Um die Jahrtausendwende kosteten Nichtgenerika jährlich etwa 10.000 US-Dollar und waren für viele Menschen etwa in Südafrika völlig unerschwinglich. Die südafrikanische Regierung brauchte fast ein Jahrzehnt, um das Monopol ausländischer Pharmaunternehmen zu durchbrechen – eine Geiselhaft, die zahllose Menschen im Land das Leben gekostet hatte.

Brasilien befindet sich derweil in einer Pattsituation mit Gilead Sciences, Monopolist für den Wirkstoff Sofosbuvir, den Durchbruch bei der Behandlung von Hepatitis-C; es geht darum, der brasilianischen Bevölkerung einen leichteren und günstigeren Zugang zum Medikament zu verschaffen. Als Gilead Sciences Anfang 2019 Patente für Sofosbuvir erhielt, erhöhte das Unternehmen laut mehrerenQuellen für brasilianische Behörden den Preis von 16 auf 240 US-Dollar pro Tablette. Diese Kosten würden auf 8 US-Dollar sinken, wenn das Medikament vor Ort mithilfe einer Zwangslizenz produziert werden würde, die das TRIPS-Abkommen unter bestimmten Umständen bereits zulässt.

Länder wie Indien, wo Medikamente verhältnismäßig günstig sind, sehen sich wiederum einem anderen Problem gegenüber: Angriffe auf ebenjene Gesetze, die die Medikamente im Land bezahlbar machen. So kämpfte in Indien der Schweizer Pharmariese Novartis jahrzehntelang um die Monopolstellung für die Leukämiebehandlung und versuchte, eine Schlüsselbestimmung des indischen Patentrechts wegen Verfassungswidrigkeit zu kippen. (Novartis erreichte keins von beidem.) Probleme beim Zugang zu bezahlbaren Arzneimitteln betreffen auch jene Länder, deren Regierungen der Industrie einen weitreichenden Schutz geistigen Eigentums einräumen: So kann etwa Insulin in den USA ungemein teuer sein.

Remdesivir, ein Medikament, das zur Behandlung von Covid-19 eingesetzt wird (mit gemischten Ergebnissen), ist in den USA und Europa mittlerweile Mangelware. Gilead Sciences, Hersteller von Remdesivir, hat zwar in reichen Staaten sein Monopol auf das Medikament behalten. Doch im Mai unterzeichnete das Unternehmen Lizenzvereinbarungen mit Firmen in 127 Ländern, sodass dort Generika für den Verkauf vor Ort hergestellt werden können. Das Ergebnis? Während es bei Remdesivir im Westen zu Engpässen kommt, ist es in mehreren armen Ländern bei einem immer stabileren Vorrat manchmal zu einem Zehntel des ursprünglichen Preises erhältlich.

Die reichen Länder könnten den wachsenden Druck der armen Länder bei der WTO in Verhandlungen mit ihren Pharmaunternehmen nutzen, um günstigere Medikamente und Impfungen weltweit auszuhandeln.

Reiche Länder können sich gegen die Pharmaindustrie zur Wehr setzen, was sie mitunter auch tun, trotz der bisweilen ungeheuren finanziellen Schlagkraft der Branche. (Einer jüngeren Studie zufolge beliefen sich zwischen 1999 und 2018 Zuwendungen an die US-Regierung durch US-amerikanische Arzneimittelhersteller in Form von Wahlkampfspenden und Lobbying auf knapp 4,7 Milliarden US-Dollar.) Nach dem 11. September 2001 befürchteten die USA einen Anschlag mit Milzbranderregern (Anthrax) und benötigten von Bayer ungewöhnlich große Lieferungen des Antibiotikums Ciprofloxacin; als die USA drohten, das Bayer-Patent einfach zu umgehen und generische Alternativen zu kaufen, senkte das Unternehmen den Preis und erhöhte die Liefermengen.

Im vergangenen Jahr reichten in Großbritannien Familien von Kindern mit Mukoviszidose bei der Regierung eine Petition ein, damit das Monopol auf Orkambi aufgehoben wird, das erste aussichtsreiche Medikament zur Behandlung der Krankheit. Als die Petition die Unterstützung politischer Parteien erhielt, willigte Vertex, der Produzent von Orkambi, schließlich ein, das Medikament zu einem sehr viel niedrigeren Preis als geplant zu verkaufen.

Was Covid-19-Impfstoffe und -Behandlungen angeht, war für den 10. Dezember ein weiteres Treffen des TRIPS-Rats veranschlagt; am 16. und 17. Dezember soll der Allgemeine Rat zusammenkommen, eines der höchsten Entscheidungsgremien der WTO. Die USA, die EU und Großbritannien werden voraussichtlich auf ihrem Standpunkt beharren.

Dabei könnten die reichen Länder den wachsenden Druck der armen Länder bei der WTO in Verhandlungen mit ihren Pharmaunternehmen nutzen, um günstigere Medikamente und Impfungen weltweit auszuhandeln. Angesichts einer globalen Pandemie ist es richtig, diese Unternehmen unter Druck zu setzen; zudem ist es für die Regierungen reicher Länder auch der einfachste Weg, um die eigenen Bevölkerungen zu versorgen, die bei Arzneimitteln mancherorts ernsteren Engpässen ausgesetzt sind als Menschen in sehr viel weniger wohlhabenden Weltgegenden.

Die Redaktionsleitung des Wall Street Journal prangerte im November den indisch-südafrikanischen Antrag auf eine Ausnahmegenehmigung als „Patentraub“ an, als ein „Vorhaben, das allen schaden würde, auch den Armen“. Tatsächlich würde eine Ausnahmeregelung allen helfen, auch den Reichen – wenn die das nur sehen wollten.

(c) The New York Times 2020

Aus dem Englischen von Sabine Wolf