Als ich vor rund zwanzig Jahren aus Los Angeles nach Berlin gezogen bin, hat mich eines in der studentisch-linken Szene, in der ich mich hier wiederfand, sofort überrascht: Wie weiß diese Szene war. Und wie unbewusst, bzw. unwichtig, dies den Protagonistinnen zu sein schien. Obwohl Kreuzberg, wo viele wohnten und die einschlägigen Treffpunkte waren, stark migrantisch geprägt ist, schien es kaum Überschneidungen zu geben. Die weißen, linken Studierenden und Aktivisten kamen, so schien es mir, mit der türkischen und arabischen Community vor allem dann in Kontakt, wenn sie einen Döner kauften.

Ganz anders in LA: Dort waren die linken Gruppen, in denen ich unterwegs war, viel stärker kulturell und ethnisch durchmischt, und es war für jede europäischstämmige Aktivistin eine Frage der Ehre, zumindest ein paar Worte Spanisch sprechen zu können. Die Solidarität und Vernetzung mit den Lateinamerikanern der Stadt, das Bewusstsein, dass diese Gruppe ausgebeutet und diskriminiert wurde, aber gleichzeitig ein progressives Potential besaß, war so groß, dass kaum ein Linker sich mal kurz einen Taco im Imbiss erwarb, ohne über Privilegien und das soziale Gefälle zwischen ihm und der Verkäuferin nachzudenken. Und diese Privilegien wurden thematisiert als politisch relevant für unsere Kämpfe.

Ganz anders in Deutschland, wo es natürlich zu der Zeit auch schon die Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland, kanak attack und andere migrantisch geprägte linke Gruppierungen gab. Aber sie und ihre Perspektiven waren im Großteil der aktivistischen und linksintellektuellen Strömungen kaum präsent, geschweige denn in der Mehrheitsgesellschaft. Darüber hinaus leiteten viele weiße deutsche Linke von ihrer Überzeugung, dass „Rasse“ ein ideologisches Konstrukt ist, die Annahme ab, dass phänotypische Merkmale wie Hautfarbe in politischen Kämpfen nichts zu suchen hatten, ja gar nicht thematisiert werden sollten.

Anfangs vor allem von Empörung über die Zustände in den USA gekennzeichnet, wandte sich die Diskussion darauf zunehmend auf unseren Rassismus, auf unsere unvollständig aufgearbeitete und gesühnte Kolonialgeschichte, auf unsere Schulbücher.

Das hat sich mittlerweile geändert. Auch wenn viele in der Linken „Identitätspolitik“ als von der sozialen Frage ablenkend und spalterisch ablehnen, sind sie mittlerweile gezwungen, sich zumindest mit der These auseinanderzusetzen, dass eine rassistische Gesellschaft verschiedenen ethnischen Gruppen verschiedene, ungleiche Möglichkeiten der Teilhabe und der Mitsprache einräumt. Diese These hat sich auch in nicht unwesentlichen Teilen der Mehrheitsgesellschaft herumgesprochen und wird dort verunsichert wahrgenommen, zögerlich mitgedacht, lautstark beklagt oder auch vehement bestritten. Die Selbstverständlichkeiten, die noch Anfang dieses Jahrhunderts das Selbstbild der Deutschen prägten, sind dies immer weniger. Auch wenn es in diesen Jahrzehnten wohl mehr Plattformen für offenen Rassismus gibt als damals, ist es zunehmend mit der Ahnungslosigkeit dahin. Der, der die weiße Mehrheitsgesellschaft als Norm vertritt, tut dies immer seltener ohne zu wissen, dass dies eine partikulare und keine universale Meinung ist.

Das ist uneingeschränkt ein Gewinn, der vielen unermüdlichen Aktivistinnen, Künstlern und Intellektuellen, viele von ihnen Menschen of Color, zu verdanken ist, sowie – nicht zuletzt –„einfachen“ nicht-weißen Menschen, die ihre Erfahrungen in dieser Gesellschaft aus einer weniger privilegierten Position in die Debatte einbringen. Angestoßen wurde diese Entwicklung auch immer wieder durch Angriffe von Rechts auf Menschen of Color, ob diskursiv durch Vereinigungen wie Pegida oder die AfD, oder mit tödlicher Gewalt wie von der NSU oder in den Attentaten von Halle und Hanau. Zuletzt gab der auf Kamera festgehaltene Mord am Afro-Amerikaner George Floyd durch einen weißen Polizisten in Minneapolis der Debatte einen gewaltigen Schub, auch hierzulande. Anfangs vor allem von Empörung über die Zustände in den USA gekennzeichnet, wandte sich die Diskussion darauf zunehmend auf unseren Rassismus, auf unsere unvollständig aufgearbeitete und gesühnte Kolonialgeschichte, auf unsere Schulbücher. Auch das ist uneingeschränkt zu begrüßen.

Wenn diese Debatte weiter fruchten soll, wenn sie den Kampf für soziale Gerechtigkeit, für den Abbau unverdienter Privilegien seitens einer ethnischen Gruppe, für eine Polyphonie der Stimmen und Lebensweisen voranbringen soll, dann sollten wir vor allem dies tun: Uns mit den deutschen Verhältnissen und der deutschen Geschichte auseinandersetzen und eine Debattenkultur pflegen, die den hiesigen Umständen gerecht wird. Die Geschichte des Weißseins, des Rassismus und Antisemitismus, ist in Deutschland eine wesentlich andere als in den USA. Dort der Gründungsgenozid an der indigenen Bevölkerung, die ersetzt wurde durch ein diverses Volk der Einwanderer und Sklaven, dann die Bürgerrechtsbewegung bis hin zu einem schwarzen Präsidenten. Hier die Zerstörung der ethnischen Vielfalt durch Pogrome, den Faschismus und den Holocaust, gefolgt von den sogenannten Gastarbeitern und der sehr späten Einsicht, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist. Und, allzu oft noch unterschlagen, der deutsche Kolonialismus in Afrika. Mit dieser spezifischen Geschichte und den von ihr geschaffenen Lebensrealitäten gilt es sich auseinanderzusetzen, auch eigene Begriffe zu finden.

Ein kritischer Blick in die USA zeigt, wie reflexartige Angriffe auf scheinbar unaufgeklärte Äußerungen eine Atmosphäre schaffen, die mehr mit moralisch aufgeladener Entrüstung und im Eigeninteresse betriebener Schadensbegrenzung zu tun haben kann, als mit Gesellschaftskritik oder politischem Kampf.

In den USA brennt es momentan nicht nur in den Innenstädten, sondern auch in Stadträten und Schulen, in den Personal- und Marketingabteilungen von Firmen und Universitäten, und natürlich in den sozialen Medien. Stellen werden aufgrund von teilweise (aber bei weitem nicht nur) fadenscheinigen Rassismusvorwürfen geräumt, es kommt zu mobartigem Verhalten gegenüber Beschuldigten, die nicht nur im Internet schwere Folgen haben. Eine Revolution ohne Blutvergießen gibt es nicht – aber die Frage ist auch, wie viel Blutvergießen eine Revolution aushält, ohne dass ihre Ziele im Gemetzel verlorengehen.

Wir können in Deutschland z.B. froh sein, dass wir nicht jederzeit kündbar sind, im Unterschied zu den meisten US-amerikanischen Arbeitnehmerinnen, und sollten diesen Mechanismus der Verzögerung auch in anderen Bereichen nutzen. Und zwar nicht, weil eine Reaktion auf unseren Rassismus weniger dringend wäre als dort. Sondern weil wir mit einem kritischen Blick in die USA sehen können, wie reflexartige Angriffe auf scheinbar unaufgeklärte Äußerungen eine Atmosphäre schaffen, die mehr mit moralisch aufgeladener Entrüstung und im Eigeninteresse betriebener Schadensbegrenzung zu tun haben kann, als mit Gesellschaftskritik oder politischem Kampf. Dies lässt die eigentlich zu verändernden Strukturen unangetastet.

Diesen Weg müssen wir nicht mitgehen. Wenn Rassismus als strukturelles Problem sichtbar gemacht werden soll, dann dürfen die Diskussionen nicht zu Beschuldigungsschlachten gegenüber Einzelpersonen verkommen, vor allem wenn die beanstandeten Äußerungen oder Handlungen eher aus Unbeholfenheit als bewusstem Vorsatz erfolgen, und vor allem, wenn die Einzelperson über wenig Macht verfügt. Ob berechtigt oder nicht, sind viele weiße (aber nicht nur weiße) Menschen hierzulande von der Rassismus-Debatte zutiefst verunsichert bis abgestoßen und trauen sich aus Angst davor, etwas „Falsches“ zu sagen, nicht, daran teilzunehmen.

Um Bewusstseinsveränderungen und vor allem gesellschaftliche Transformationen voranzubringen, braucht es ein Klima, in dem diese Verunsicherung ohne Häme oder Einschüchterung artikuliert werden und fragend nach neuen Perspektiven gesucht werden darf.

Das schadet der, nennen wir es gerne Revolution, nur. Wenn Menschen of Color oder Juden immer wieder darauf hinweisen, dass es nicht ihre Aufgabe ist, ahnungslosen weißen Deutschen die Hand zu halten und ihnen geduldig zu erklären, warum und inwiefern sie privilegiert sind, haben sie natürlich recht. Aber das Wissen, das diese Betroffenen zwangsläufig durch ihr Leben in diesem Land erlangt haben, ist von einer solchen Wichtigkeit, dass es einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden muss, und zwar auf eine Art und Weise, die es dieser Öffentlichkeit erlaubt, es sich mündig anzueignen.

Genau dies wird von den allermeisten Antirassismus-Trainerinnen auch geleistet, trotzdem wird in gewissen Räumen – im Internet, aber auch etwa in Bildungseinrichtungen – gelegentlich so getan, als hätte die Linke eine Pädagogik, die die Zielgruppe diszipliniert und zum stillen Rezipienten reduziert, nicht schon seit Jahrhunderten abgelehnt. Nicht, dass weiße Menschen vor Verunsicherung geschützt werden sollten, im Gegenteil. Aber um Bewusstseinsveränderungen und vor allem gesellschaftliche Transformationen voranzubringen, braucht es ein Klima, in dem diese Verunsicherung ohne Häme oder Einschüchterung artikuliert werden und fragend nach neuen Perspektiven gesucht werden darf.

Die USA mag uns in manchem weit voraus sein, in anderem als abschreckendes Beispiel dienen, aber es ist auch nicht so, dass wir uns auf dem gleichen Weg befinden oder befinden sollten. So hat etwa die traditionelle Abscheu vieler deutscher Linker gegenüber dem Begriff der „Rasse“, die sich zunehmend im Mainstream durchsetzt, das Potenzial, uns vor einem Essentialismus zu bewahren, der teilweise in den USA (aber nicht nur dort) die Debatte prägt und ethnische Gruppen in starre, hieb- und stichfeste Identitäten einzwängt. Lasst uns diese Potenziale nutzen, während wir gleichzeitig die Scheuklappen entfernen und die Abwehrreflexe auflösen, die wir aufgrund eben dieser Geschichte mit uns herumtragen. Und vielleicht könnte die eine oder andere, mit mondäner Selbstverständlichkeit Englisch sprechende Linke auch mal Türkisch lernen.