Ruanda 1994, Srebrenica 1995, Südsudan 2013, Zentralafrika 2017. Jedes Mal ist die Erschütterung groß, wenn UN-Blauhelme dabei versagen, die Bevölkerung vor Gewaltausbrüchen zu schützen. Wenn es um die Eindämmung internationaler Gewaltkonflikte geht, wird dennoch schnell der Ruf nach Blauhelmen laut. Vor allem, wenn Völkermord, Kriegsgräuel und Vertreibung drohen, sollen UN-Missionen eingreifen und die Lage befrieden. Auch für den seit vier Jahren andauernden „Konflikt niedriger Intensität“ in der Ostukraine ist schon länger ein UN-Blauhelmeinsatz im Gespräch. Doch trotz der hohen Akzeptanz bei uns herrscht gleichzeitig Unbehagen, über die nötigen militärischen Fähigkeiten zu reden, diese gutzuheißen oder gar bereitzustellen.
Wenig Aufmerksamkeit erweckt bei uns die Tatsache, dass auch die Opferzahlen der Vereinten Nationen in den Einsätzen steigen. Hierauf wirft ein aktueller Bericht für den UN-Generalsekretär ein Schlaglicht. Mit Carlos Alberto dos Santos Cruz, einem ehemaliger UN-Kommandeur in Haiti und im Kongo, wurde ein erfahrener Militär beauftragt, Vorschläge für die Vermeidung weiterer Todesopfer zu erarbeiten.
Cruz‘ Bericht bilanziert zunächst wenig überraschend, dass gewaltsame Todesfälle in den Missionen immer dann zunehmen, wenn die Vereinten Nationen aktiv in Gewaltkonflikte eingreifen. Solch ein „robustes“ Vorgehen, auch mit militärischen Zwangsmaßnahmen, ist auch nötig für Einsätze, die den Auftrag zum Schutz der Bevölkerung umfassen. „Klassische“ Blauhelmeinsätze, bei denen die Vereinten Nationen lediglich als neutrale Beobachter auftreten, werden gegenwärtig kaum noch mandatiert.
Die Todesfälle sind in der Regel nicht auf besonders gefährliches Eingreifen, sondern auf unterlassenes Handeln zurückzuführen.
Allein im Jahr 2017 kamen 56 Angehörige von UN-Einsätzen durch äußere Gewalt ums Leben. In den letzten fünf Jahren waren es 195 – mehr als in jeder anderen Periode seit 1948, als die Vereinten Nationen ihren ersten Friedenseinsatz durchführten. Nur wenige der Toten sind Zivilisten, über 90 Prozent sind Blauhelm-Soldaten. Afrika ist dabei das gefährlichste Terrain: Die Einsätze hier forderten 87 Prozent aller Todesopfer. MINUSMA, die UN-Mission in Mali, war mit 91 Toten zwischen 2013 und 2017 der mit Abstand tödlichste Einsatz, gefolgt von jenen in Zentralafrika, Darfur, im Kongo und im Südsudan. Vor allem Angehörige der afrikanischen Truppensteller, die sich auf ihrem eigenen Kontinent besonders stark engagieren, waren betroffen.
Die bedeutendste Aussage des Reports ist, dass die Todesfälle in der Regel nicht auf besonders gefährliches Eingreifen, sondern auf unterlassenes Handeln zurückzuführen sind: „Todesopfer sind selten ein Ergebnis von Aktionen der Truppen oder des Führungspersonals: Meistens werden die UN aufgrund von Untätigkeit angegriffen.“ Und wenn Gewaltakteure erst einmal den Respekt vor den Blauhelmen verlieren, so wirkt dies gerade wie eine Einladung zu weiteren Angriffen auf Missionen und Zivilbevölkerung.
„Es ist unsere Schwäche, die uns tötet“ – so das Fazit des Berichts. Um weitere Todesopfer in risikoreichen Einsätzen zu vermeiden, bräuchten die Blauhelme deshalb bessere Führung, bessere Fähigkeiten und bessere Ausrüstung. Vor allem aber sei die defensive Einstellung von Blauhelmen in eine selbstbewusste, aktive Haltung zu transformieren. Statt sich einzubunkern, sollten sie ihr Umfeld konsequent „dominieren“, damit ihre Standorte Sicherheit „ausstrahlen“. Dazu kann auch massive Gewalt gegen Angreifer nötig sein.
Scheitern die Blauhelme beim Selbstschutz, versagen sie umso mehr beim Schutz der Bevölkerung.
Die mitunter drastischen Aussagen des Cruz-Berichts unterscheiden sich deutlich von den diplomatisch gehaltenen offiziellen UN-Dokumenten. Dies hat auch Kritiker auf den Plan gerufen. Der militaristische Duktus, so die zentrale Kritik, weise in die falsche Richtung. Schließlich seien politische Lösungen der Schlüssel zur Konfliktbefriedung. Auch würden die Grenzen militärischer Stärke nicht thematisiert – wichtiger als Allmachtsphantasien mit Blauhelmen sei eine Debatte darüber, ab wann die Vereinten Nationen „nein“ zu Einsätzen sagen müssten. Ansonsten würde man die richtigen Instrumente für den falschen Zweck verbessern.
Dies alles ist nicht falsch und muss auch diskutiert werden. Doch sollte man dem Cruz-Bericht nicht vorwerfen, dass er seine spezifische Fragestellung abarbeitet. Auch er fordert die Vereinten Nationen auf, aktiver nach politischen Lösungen zu suchen – doch das ist nicht sein Hauptthema. Und während politische Lösungen Zeit brauchen, dauern die gefährlichen UN-Einsätze an. Scheitern die darin entsandten Blauhelme beim Selbstschutz, versagen sie umso mehr beim Schutz der Bevölkerung.
Wenn UN-Mitgliedstaaten und Sicherheitsrat also an robusten Schutzaufträgen festhalten, und das ist aus verschiedenen Gründen abzusehen, dann müssen sie der außerordentlichen Verantwortung für das Personal im Einsatz gerecht werden. Deutschland strebt für 2019 erneut einen Sitz im Sicherheitsrat an. Es sollte dieses Anliegen aktiv unterstützen.