Das Wort „system change“ ist in aller Munde. Während in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine Forderung nach einem systemischen Wechsel noch im besten Fall allgemeines Stirnrunzeln ausgelöst hätte, ist jüngst die Forderung nach einer systemischen Neuausrichtung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von prominenten Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik beim Global Solutions Summit mit Nachdruck gefordert worden.
Der Anlass für eine solche Neuorientierung ist wenig überraschend: Der Klimawandel und der Verlust an Biodiversität stellen die Lebensgrundlagen auf unserem Planeten infrage, eine immer ungerechtere Armuts- und Reichtumsverteilung in und zwischen den Gesellschaften kratzt an der Legitimität politischer Herrschaft, und die Verwerfungen in allen gesellschaftlichen Bereichen, die durch die Digitalisierung und das Aufkommen von künstlicher Intelligenz an Dynamik gewinnen, schließen ein „Weiter-So“ aus.
Wie im Brennglas hat die Covid-Pandemie die Verletzlichkeit und Ungerechtigkeit der derzeitigen politischen Ordnung gezeigt. UN-Generalsekretär António Guterres hat auf das schreiende Unrecht bei der globalen Impfverteilung hingewiesen. Nur einige verbohrte Ideologen glauben noch immer daran, dass „der Markt“ die oben beschriebenen Herausforderungen lösen könne und übersehen dabei vielfach zynisch, dass es genau die als Neoliberalismus bezeichnete Ideologie war, die durch Deregulierung, Privatisierung und eine vermeintliche Selbstregulierung des Marktes manche Meta-Krise sogar noch befördert hat.
Viele Unternehmen sind angesichts dieser Herausforderungen inzwischen offen für eine Neuausrichtung und fordern beispielsweise ein Umsteuern bei der Betriebs-Bilanzierung, das Nachhaltigkeitsaspekte stärker berücksichtigt. Auf makroökonomischer Ebene wird die Kritik an der Wohlstandsmessung durch das Bruttoinlandsprodukt immer lauter, auch weil bisher die Messung von Wohlstand und Fortschritt absurderweise einzig auf eine nichtssagende Wachstumszahl verkürzt wird. Alternative Messungen wie beispielsweise das sogenannte Recoupling-Dashboard, das Nachhaltigkeit, gesellschaftlichen Zusammenhalt und individuelle Befähigung mit Wachstum zusammendenkt, gewinnen in der Debatte innerhalb internationaler Organisationen immer mehr Aufmerksamkeit, und sie haben das Zeug dazu, zu einem neuen globalen Narrativ zu werden – zu einer neuen Erzählung über die Wertigkeit eines globalen Miteinanders.
Wie können soziale Gruppen, die über keine Lobby verfügen, aber am meisten von disruptiven Veränderungen betroffen sind, an Einfluss gewinnen?
Denn die Pandemie hat eben auch gezeigt, dass Wachstum allein nicht ausreicht, weil es darüber hinaus ein Bedürfnis nach gesellschaftlichem Zusammenhalt gibt und den Wunsch, das eigene Schicksal selbst bestimmen zu können. Das einstige Gütesiegel „shareholder value“ wird von immer mehr Akteuren hinterfragt, weil eben nicht nur Anteilseigner von Unternehmen oder die eigene Bevölkerung, sondern alle Menschen auf dem Planeten von vielen Politik- und Wirtschaftsentscheidungen unmittelbar betroffen sind.
Klimawandel und Pandemien haben ihrem Wesen nach globale Auswirkungen, und deshalb kann es auch nicht einzelnen Akteuren überlassen bleiben, durch ihr Handeln über Fragen des planetarischen Wohls zu entscheiden. Diese Feststellung ist zugleich anschlussfähig an die Post-koloniale-Debatte, die zu Recht die derzeitige Form der Globalisierung als Mechanismus der globalen Ausbeutung und der kulturellen Dominanz brandmarkt.
Damit stellt sich unmittelbar auch in der politischen Sphäre die Systemfrage, aber eben nicht in dem Sinne wie querdenkende Hassprediger prognostizieren, wenn sie vor einer kommenden Öko-Diktatur warnen. Fragen muss man aber: Wie kann international sichergestellt werden, dass die, die besonders von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen sind, gleichberechtigt mitentscheiden können? Schließlich geht es auch um ihre unmittelbare Zukunft, bislang haben sie aber nahezu keinen Einfluss auf die internationalen Klimaverhandlungen. Oder allgemeiner: Wie können soziale Gruppen, die über keine Lobby verfügen, aber am meisten von disruptiven Veränderungen betroffen sind, an Einfluss gewinnen?
Damit sind national und international institutionelle Fragen berührt, die beispielsweise bei den Reformdebatten innerhalb der UNO oder der WTO eine Rolle spielen. Aber selbst bei einer erfolgreichen Reform, die diesem Aspekt eher gerecht würde, sind noch nicht die Interessen der nachfolgenden Generationen berücksichtigt, obschon diese fundamental von den aktuellen Entscheidungen, etwa im Bereich Klima oder Digitalisierung, betroffen sein werden. Auch hier gibt es vielfältige Debatten und Vorschläge, etwa die Herabsetzung des Wahlalters oder einen stärkeren Einfluss von Erziehungsberechtigten. Diese Fragen sind ähnlich kompliziert wie die genannten institutionellen Fragen, weil sie fundamentale demokratische Prinzipien berühren.
Bis zur Jahrtausendwende ging man wie selbstverständlich davon aus, dass Demokratien quasi automatisch den besseren Politik-Output produzieren.
Demokratische Politik sieht sich damit mindestens mit drei Herausforderungen konfrontiert: Erstens muss sie im Wettbewerb mit dem erfolgreichen chinesischen staatskapitalistischen Modell die Politik-Ergebnisse liefern, die die drängenden globalen Herausforderungen lösen und gleichzeitig die berechtigten Interessen der eigenen Bevölkerung befriedigen. Bis zur Jahrtausendwende ging man wie selbstverständlich davon aus, dass Demokratien quasi automatisch den besseren Politik-Output produzieren, weil sie mehr und vielfältigere Ideen bei Entscheidungen berücksichtigen. Davon ist heute angesichts des chinesischen Powerplays kaum noch die Rede.
Zweitens muss Politik die Erkenntnisse systemisch einbeziehen, dass mit dem Klimawandel und dem Verlust der Biodiversität das planetarische Leben an sich gefährdet ist. Demokratische Politik muss also dafür werben, langfristige Folgeabschätzungen in Entscheidungen einzubeziehen. Das verlangt vom Wähler stellenweise auch kurzfristig schmerzhafte Veränderungen und gegebenenfalls Verzicht im Interesse nachfolgender Generationen. Diese Aufgabe scheint schier unlösbar, in einer Zeit der „rund um die Uhr“-Berichterstattung und der sozialen Medien, die fieberhaft nach Verfehlungen, Zuspitzungen und Polarisierung suchen.
Und drittens hat Donald Trump versucht, einen Politikstil auf der Weltbühne hoffähig zu machen, der auf Lüge und Betrug fußt und der gegen vermeintliche Eliten gerichtet ist. Gerade die Antwort auf die zuletzt genannte Herausforderung der Fake-News-Politik darf aber nicht sein, bei Politikentscheidungen nur auf naturwissenschaftlich orientierte Evidenz zu setzen. Denn Politik ist die Suche nach einem Ausgleich verschiedener Interessen, nach mehrheitsfähigen Kompromissen.
„System change“ scheint angesichts der epochalen Mega-Krisen ein Gebot der Stunde.
Da kann es beispielsweise passieren, dass ein Virologe einen Lockdown fordert, den Jugendpsychologen wegen drohender „Kollateralschäden“ durch fehlende soziale Interaktion von Heranwachsenden ablehnen. Beides mag im jeweiligen System richtig und evidenzbasiert sein, und es ist Aufgabe von Politik, hier eine verantwortungsbewusste Entscheidung zu treffen, die unterschiedliche Erkenntnisse und Interessen im besten Fall versöhnt.
Wissenschaft sollte sich in diesem Zusammenhang wieder daran erinnern, dass nicht die politische Entscheidung ihre Aufgabe ist, sondern (unter anderem) die Substantiierung von Entscheidungen und das Aufzeigen von Optionen. Der Nimbus der evidenzbasierten Politikentscheidung, die quasi alternativlos daherkommt, erinnert punktuell an eine Rhetorik des wissenschaftlich basierten Sozialismus, der fälschlicherweise für sich reklamierte, keine Weltanschauung zu sein, sondern einer Marx´schen Gesetzmäßigkeit zu folgen.
„System change“ scheint angesichts der epochalen Mega-Krisen ein Gebot der Stunde. Innerhalb von gesellschaftlichen Sub-Systemen wie der Wirtschaft ist der diesbezügliche Diskurs bereits in vollem Gange. Aber auch in Gesellschaft und Politik steht uns eine anspruchsvolle und schwierige Debatte bevor, wie unser politisches System auf die Veränderungen reagieren muss, ohne Demokratie, Gewaltenteilung und gesellschaftliche Solidarität dabei zu schleifen. Diese Diskussion ohne Schaum vorm Mund zu führen und dabei gleichzeitig die neuen Herausforderungen anzugehen, ist jede Mühe wert.