Mit Spannung wird der 15. BRICS-Gipfel erwartet, der vom 22. bis 24. August in Johannesburg stattfindet. In mehrfacher Hinsicht wird diesem Ereignis eine besondere Bedeutung attestiert. Erstens ist die Zusammenkunft das erste Präsenztreffen der Gruppe seit der Covid-19-Pandemie. Zweitens wurden, laut Informationen aus Südafrika, um die 70 weitere Länder aus Afrika, Asien, Lateinamerika und aus der Karibik zur Teilnahme eingeladen, was ihn zur „größten Zusammenkunft des Globalen Südens in jüngster Zeit zur Erörterung aktueller globaler Herausforderungen“ machen würde. Der per Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gesuchte russische Präsident Wladimir Putin wird allerdings lediglich per Videokonferenz teilnehmen. Außenminister Sergej Lawrow wird ihn vor Ort vertreten. Die Perspektive der BRICS-Erweiterung soll als eines der zentralen Themen auf der Agenda stehen. Laut dem südafrikanischen Außenministerium haben bereits 23 Länder offizielle Aufnahmeanträge gestellt, darunter Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emirate, Argentinien, Indonesien, Ägypten, Äthiopien und Kasachstan.

Im Verlauf des russischen Krieges gegen die Ukraine wurde ein Paradoxon immer sichtbarer: Während Moskau seine politischen Ziele in der Ukraine (Demilitarisierung und Regimewechsel) nicht erreichen konnte, scheint es bei einem langfristigen Ziel seiner Außenpolitik voranzukommen: Bereits um die Jahrhundertwende kündigte Russland in seiner Konzeption der Außenpolitik an, die Bildung eines multipolaren Systems der internationalen Beziehungen und ein Ende der westlichen Hegemonie anzustreben. Als Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine ist ein geopolitisches Auseinanderdriften des Westens und des sogenannten Globalen Südens verstärkt zu beobachten. Während sich der Westen weitgehend hinter die Ukraine stellt, ihr mit Waffenlieferungen hilft und Sanktionen gegen Russland verhängt hat, reagieren viele Staaten in Afrika, Asien, Lateinamerika und in der arabischen Welt zurückhaltend. Die Vereinigten Arabischen Emirate etwa betonten, dass eine Parteinahme die Gewalt fördern würde, statt eine politische Lösung zu unterstützen. Angesichts dessen räumt die am 31. März 2023 veröffentlichte neue Fassung der russischen Konzeption der Außenpolitik dem Ausbau der Beziehungen zum Globalen Süden Priorität ein. Seit Kriegsbeginn war der russische Außenminister mehrfach zu Besuch in den genannten Regionen.

Während sich die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses Nancy Pelosi auf ihrer Taiwanreise befand, brach der russische Außenminister am 2. August 2022 nach Südostasien auf. Nach einem kurzen Stopp in der Hauptstadt des engen Verbündeten Myanmar, das als einziges Mitgliedsland im Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN) das Vorgehen Russlands in der Ukraine zumindest rhetorisch unterstützt hat, nahm Lawrow in Kambodscha an der Sitzung des Außenministerrats Russland-ASEAN, am Außenministertreffen des Ostasiengipfels (EAS) sowie am regionalen Sicherheitsforum der ASEAN teil. Die Agenda des Kambodscha-Besuchs veranschaulicht den multilateralen Charakter der Reise. Wie das russische Außenministerium im Vorfeld erklärte, sollte der Schwerpunkt auf der Stärkung der Position Russlands in der asiatisch-pazifischen Region liegen.

Südafrika ist der wichtigste Partner Russlands auf dem Kontinent.

Da die Perspektiven für eine westlich-russische Zusammenarbeit auf absehbare Zeit eher düster sind, ist damit zu rechnen, dass Russland viel entschiedener als zuvor um Präsenz in Asien bemüht sein wird. Es ist bezeichnend, dass die Reise Lawrows zeitgleich mit der Asien-Tournee (Japan, Südkorea, Malaysia, Singapur) von Nancy Pelosi stattfand, einschließlich des brisanten Taiwan-Besuchs. Vor diesem Hintergrund schien es für Moskau umso wichtiger, zu betonen, dass es „Kooperation statt Provokation“ in die Region bringen wolle. In einem Interview am Rande des ASEAN-Gipfels in Indonesien Mitte Juli 2023 beteuerte der russische Außenminister zudem die Absicht Moskaus, die Große Eurasische Partnerschaft auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen der Eurasischen Union (EAEU), der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) und der ASEAN zu etablieren. Das Südostasien-Engagement Russlands dient offensichtlich dazu, seine durchaus vorhandenen diplomatischen Optionen jenseits der USA und Europas sowie im asiatisch-pazifischen Raum jenseits Chinas aufzuzeigen.

Obwohl Südostasien ganz oben bei den regionalen Prioritäten Moskaus steht, hat Russland seit dem 24. Februar 2022 keiner Region so viel Aufmerksamkeit geschenkt wie Afrika. Insgesamt elf Ländern des Kontinents stattete der russische Außenminister seitdem einen Besuch ab, darunter Südafrika, Äthiopien, Kongo und Uganda. Wie in Südostasien musste Moskau dabei teilweise mit den USA, aber auch mit China konkurrieren: Chinas Außenminister Qin Gang besuchte Mitte Januar 2023 Äthiopien, Gabun, Angola, Benin und Ägypten, während die US-Finanzministerin Janet Yellen am 21. Januar 2023 fast zeitgleich mit Lawrow zu einer Reise nach Senegal, Sambia und Südafrika aufbrach.

Südafrika ist der wichtigste Partner Russlands auf dem Kontinent. Bei den UN-Abstimmungen im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg hat sich Pretoria jedes Mal enthalten. Beim Treffen mit Lawrow kündigte die südafrikanische Außenministerin Naledi Pandor an, dass ihr Land für eine baldige friedliche Lösung des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine mit diplomatischen Mittel eintrete. Doch die politische Opposition in Südafrika sieht es kritisch: Der Abgeordnete der Oppositionspartei Democratic Alliance (DA) Darren Bergmann forderte Pandor auf, auf das Treffen mit Lawrow zu verzichten. Der Vorsitzende der DA John Steenhuisen reiste im Mai 2022 in die Ukraine und kritisierte die Position Pretorias in der UNO. Zuletzt ging die Opposition vor Gericht, um die Regierung in Pretoria zu zwingen, den russischen Präsidenten zu verhaften, sollte er nach Südafrika zum BRICS-Gipfel kommen.

Im Gegensatz zu Südafrika waren die Besuche Lawrows in der Republik Kongo und in Uganda ein Novum und hatten strategische Gründe. Beide Länder enthielten sich bisher bei allen Abstimmungen der UN-Generalversammlung zum Ukraine-Krieg. Uganda hat außerdem 2022 im Namen Afrikas den Vorsitz der Bewegung der Blockfreien Staaten übernommen und wird 2024 das 19. Gipfeltreffen der Vereinigung ausrichten. Im Kontext der Konfrontation mit dem Westen liegt Russland viel daran, sich mit möglichst vielen unparteiischen Staaten gut zu stellen. Kongo und Russland verbinden seit der Sowjetzeit enge Beziehungen. Der heutige kongolesische Außenminister Jean-Claude Gakosso machte 1983 seinen Abschluss an der Fakultät für Journalismus der Staatsuniversität von Leningrad. Hinzu kommt eine historische Tradition afrikanischer Blockfreiheit und das Streben nach einer stärkeren Stimme in internationalen Angelegenheiten, worauf auch die afrikanische Vermittlungsinitiative im Krieg in der Ukraine hindeutet.

Russlands Beziehungen zu lateinamerikanischen Ländern haben sich seit 2000 intensiviert.

Russlands Beziehungen zu lateinamerikanischen Ländern haben sich seit 2000 intensiviert. Aktuell unterhält Moskau diplomatische Kontakte mit allen 33 Staaten der Region. Umso überraschender ist, dass in der neuen russischen Konzeption der Außenpolitik lediglich vier Länder Lateinamerikas unter die Begriffe „Freundschaft“ und „Partnerschaft“ fallen – Brasilien, Venezuela, Kuba und Nicaragua. Die Beziehungen zu den restlichen Staaten sollen unter „Berücksichtigung des Niveaus ihrer Selbstständigkeit und des konstruktiven Kurses ihrer Politik gegenüber der Russischen Föderation“ gefestigt werden. Auch die offiziellen Besuche von Lawrow umfassten im April dieses Jahres nur die genannten vier Länder.

Brasilien ist für Russland seit Jahren der wichtigste ökonomische und politische Partner in der Region. Beide sind Mitglieder der BRICS-Gruppe. Billigend nahm Moskau zudem wahr, wie der brasilianische Präsident Lula sich im Januar 2023 weigerte, die Ukraine durch Munitionslieferungen zu unterstützen. Mitte April 2023 empörte er Washington mit seinem Vorwurf, die USA würden zur Fortsetzung des Krieges beitragen, statt Frieden zu fördern. In Nicaragua spielen hauptsächlich geopolitische Erwägungen eine zentrale Rolle. Diese bestehen im Wesentlichen im Bestreben beider Seiten, sich der westlichen Hegemonie zu widersetzen. Die internationale Isolation von Nicaraguas Staatschef Daniel Ortega wurde durch das jüngste Urteil der UN-Expertengruppe verstärkt, die ihm Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorwirft, während gegen Wladimir Putin ein Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine vorliegt.

Es ist anzunehmen, dass die Besuche in Venezuela und Kuba vom Umstand angetrieben waren, dass beide Länder seit Ende 2022 ihre angespannten Beziehungen mit den USA etwas aufgelockert hatten. Anfang Dezember 2022 unterzeichnete der US-amerikanische Ölkonzern Chevron Vereinbarungen mit dem venezolanischen staatlichen Ölunternehmen PDVSA über die Fortsetzung der Ölförderung in Venezuela. Im Januar schickte der US-Konzern die ersten Schiffe mit in Venezuela gefördertem Öl in die USA. Neben Ersatz für die weggefallenen Ölimporte aus Russland geht es Washington auch darum, den russischen Einfluss in Venezuela zu verringern. In dieser Gemengelage sind die Kapazitäten Russlands, dem wirksam entgegenzutreten, erheblich reduziert worden. Lawrow warnte Caracas dennoch davor, den Vereinigten Staaten zu vertrauen, denn „sehr oft täuschen sie eher, als dass sie ihre eigenen Versprechen einhalten“.

Eine Renaissance der russisch-kubanischen Beziehungen wie zu Sowjetzeiten ist jedoch nicht zu erwarten.

Eine leichte Dynamik im Verhältnis zwischen den USA und Kuba entwickelte sich über die Wiederaufnahme von Linien- und Charterflügen sowie die Erlaubnis von Gruppen- und Bildungsreisen in beide Richtungen. Auch dort will Moskau seine Präsenz festigen und berät Havanna bei der marktwirtschaftlichen Transformation der kubanischen Wirtschaft. Russland verurteilt außerdem konsequent das US-amerikanische Embargo gegen Kuba, während Kuba die westlichen Sanktionen und die Politik der Isolierung gegenüber Russland ablehnt sowie die Nato-Erweiterung als Hauptursache des Krieges in der Ukraine sieht. Eine Renaissance der russisch-kubanischen Beziehungen wie zu Sowjetzeiten ist jedoch nicht zu erwarten: Kuba steht heute eine Vielzahl außenpolitischer Partnermöglichkeiten zur Auswahl, die eine stärkere Autonomie erlauben.

Die russische Diplomatie in Lateinamerika zeugt von einer Verschiebung von Moskaus Prioritäten: Ähnlich wie im 20. Jahrhundert werden in der Konfrontation mit dem Westen ideologisch-geopolitische Kriterien hervorgehoben und Länder priorisiert, die die russische Position entweder unterstützen oder sich, wie Brasilien, unparteiisch verhalten.

Auf den ersten Blick suggeriert die russische diplomatische Offensive, dass die vom Westen angestrebte internationale Isolation Moskaus gescheitert ist. Bei näherem Hinsehen ergibt sich jedoch ein differenzierteres Bild: Erstens ist Moskaus Partner-Spektrum nach der Invasion kleiner geworden. Das lässt sich in Lateinamerika am deutlichsten beobachten. Zweitens, gibt es in manchen wichtigen Partnerländern, wie Südafrika, eine starke Anti-Russland-Opposition. Trotzdem rechnet Moskau mit Loyalität und Unterstützung vor allem in Afrika, wovon die drei Reisen Lawrows mit insgesamt elf Staatsbesuchen zeugen. Der zunehmende Wettbewerb um die Länder des Globalen Südens und ihre Beteiligung an der Suche nach einer Lösung für den militärischen Konflikt in Europa führen eine Trendwende vor Augen: Großmächte sind heute kaum mehr in der Lage, ihre Interessen einseitig und gegen den Willen der Länder in Asien, Afrika und Lateinamerika durchzusetzen. Dieser zentrale Unterschied zur Blockkonfrontation im 20. Jahrhundert wird die entstehende multipolare Weltordnung prägen. Denn das neue Privileg, zwischen mehreren großen Akteuren zu lavieren und die außenpolitischen Spielräume zum eigenen Vorteil zu nutzen, wird sich der Globale Süden nicht mehr nehmen lassen.