Versetzen Sie sich doch einmal nach Amsterdam, 400 Jahren zurück. Es gibt eine Börse, einen Währungsmarkt und eine Zentralbank. Die Niederländische Ostindien-Kompanie ist das mächtigste Handelsunternehmen der Welt. Die Handelsflotte der Vereinigten Provinzen ist größer als sämtliche Handelsflotten Europas zusammengenommen. Amsterdam ist die „Buchhandlung der Welt“. Und es ist eine Republik.

Es war die erste Blüte des Handelskapitalismus. Aber für dieses neue System gab es keine Bezeichnung. Das Wort „Kapitalismus“ entstand erst Mitte des 19. Jahrhunderts, als Marx, Proudhon und Louis Blanc mit diesem Begriff den Ausschluss der Produzierenden vom Vermögensbesitz beschrieben. Die These vom „Postkapitalismus“ besagt, dass wir heute Ähnliches erleben. Wir wissen, dass etwas Großes und Neues entsteht, doch uns fehlt das Vokabular, es zu beschreiben – auch, weil wir noch nicht wissen, wo es uns hinführt.

Erstens sind da die Güter, die auf freiwilliger Basis und kostenfrei hergestellt werden: 70 Prozent aller Mobiltelefone und 90 Prozent aller Supercomputer weltweit laufen mit Open-Source-Programmen. Zweitens haben wir frei zugängliche Informationsprodukte wie Wikipedia und die Stanford Encyclopedia of Philosophy. Dazu kommen gemeinnützige Unternehmen – B-Corps und Genossenschaften – und freie Technologiestandards globaler Organisationen wie des Institute of Electrical and Electronics Engineers.

Die Voraussetzungen für das postkapitalistische Projekt: Tech-Monopole brechen, Arbeit vom Arbeitslohn entkoppeln, gewinnorientierte Geschäftsmodelle verbieten, Datenrechte einführen.

Vor allem aber gibt es den allgegenwärtigen „Netzeffekt“. Wenn viele Menschen zu Informationsnetzwerken beisteuern, ist der Nutzen größer, als es eine gezielte Entwicklung mittels Marktinteraktionen jemals erreichen könnte. Bittet man etablierte Wirtschaftswissenschaftler um eine Einordnung der Open Source-Software, so kategorisieren sie sie als Regelwidrigkeit, als Akt des Wohlwollens. Der Netzeffekt gilt als „positiver externer Effekt“, wird aber meist als etwas Zufälliges und Überraschendes wahrgenommen. Heterodoxe Geschäftsmodelle müssen sich in den Nischen des Unternehmensrechts und der Wirtschaftsinstitutionen einrichten, die der Bürgerschaft der Vereinigten Niederlande bekannt vorkämen.

Diese kleinen Urformen einer neuen Wirtschaft können den Kapitalismus ersetzen. Das geht, weil sie als Funktionen der digital vernetzten Technologie wirken, die im Begriff ist, das Leben auf dem Planeten zu transformieren. Und das muss sein, weil das derzeitige System nicht funktioniert. Doch die Frage lautet: Wie lässt sich der Übergang in die Wege leiten? Die Antwort lautet: Über die Stadt. Die vernetzte Stadt des 21. Jahrhunderts verändert unseren Blick auf Zeit, Kultur, Verknappung und Raum. Die offensichtliche Schieflage von Macht, Wohlstand und Demographie zwischen Chicago und dem Rest von Illinois, La Paz und dem übrigen Bolivien oder Helsinki und dem ländlichen Finnland ergibt sich nicht mehr nur aus dem Gegensatz Industrie und Landwirtschaft. Der Einzug vernetzter Technologien in die Großstädte intensiviert die sozialen Beziehungen und erodiert damit möglicherweise die kleinstädtische Gesellschaft.

Damit sich aber dieser neue Lebensstil entfalten kann, braucht die Stadt neue Institutionen, die der technologischen Dynamik Rechnung tragen. In meinem Buch Klare, lichte Zukunft skizziere ich vier Voraussetzungen für das postkapitalistische Projekt. Erstens: die gigantischen Tech-Monopole brechen, um deren Supergewinne und soziale Macht zu zerstören. Zweitens: Arbeit vom Arbeitslohn entkoppeln durch die Einführung eines Grundeinkommens oder in Ländern mit einem ausgeprägten Sozialstaat von Grundversorgungsleistungen zur Förderung schneller Automation. Drittens: den Netzeffekt vorantreiben durch das Verbot gewinnorientierter Geschäftsmodelle. Und schließlich: Datenrechte einführen, damit für den Datenzugang von Unternehmen und Kunden beziehungsweise Bürgern und Staat eine Symmetrie hergestellt wird.

Was der Postkapitalismus braucht, ist so etwas wie das Amsterdam des 17. Jahrhunderts: einen Ort, an dem Menschen die Kontrolle übernehmen und Politiker mutig mit sozialen Innovationen jenseits der Marktwirtschaft experimentieren.

In einigen Städten werden die letzten drei dieser vier Vorschläge mittlerweile in der Praxis vorsichtig erprobt. In Amsterdam gibt es FairBnB und FairPhone. Barcelona hat das Recht auf öffentliche Daten als öffentliches Gut eingeführt. Die kostenlose oder sehr günstige Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel und eine Mietpreisbeschränkung können eine Basis für Grundversorgungsleistungen schaffen. Doch Innovationen kollidieren oft mit der politischen Realität. So musste in Barcelona Bürgermeisterin Ada Colau eine Koalition mit der Sozialistischen Partei eingehen, die am alten neoliberalen Modell der Auslagerung öffentlicher Aufgaben an große Unternehmen festhalten wollte. Berlin legt AirBnB Grenzen auf, und London versucht, Uber zur Einhaltung der Gesetze zu zwingen, doch beide gehen bislang nicht konsequent genug vor.

Was der Postkapitalismus braucht, ist so etwas wie das Amsterdam des 17. Jahrhunderts: einen Ort, an dem Menschen die Kontrolle übernehmen und Politiker mutig und entschlossen mit sozialen Innovationen (jenseits der Marktwirtschaft) experimentieren. Amsterdam hatte eine Börse, eine Bank, einen Handelshafen und eine kostenlose Zeitung. Wenn Stadtväter und -mütter des 21. Jahrhunderts an die Zukunft denken, haben sie oft „Silicon“-Projekte im Sinn wie den Wissenschaftspark Silicon Roundabout im Londoner Stadtteil Shoreditch oder die vorsichtige Ausweisung neuer Immobilien für den sozialen Wohnungsbau.

Ich würde Stadtregierungen stattdessen zu folgenden Strategien raten: Erstens Datensouveränität wie in Barcelona und Amsterdam. Öffentlich generierte Daten der Stadt sollten ein öffentliches Gut sein. Städte sollten den Bürgern das Recht einräumen, zunächst vertraglich, dann mittels nationaler Gesetzgebung, über öffentliche Institutionen die von ihnen generierten Daten kollektiv zu besitzen. Außerdem sollten drei Angebote günstig oder kostenlos zur Verfügung stehen: Bildung bis zu einem akademischen Grad, öffentlicher Nahverkehr und Gesundheitsversorgung. Ein vierter Punkt ist das Wohnen, auf das alle Bürger ein Anrecht haben sollten; Mieten und Immobiliendarlehen müssten reguliert werden, damit ihr Anteil an den Ausgaben der Haushalte rasch sinkt.

Die frühe bürgerliche Gesellschaft überwand Widerstand nicht nur durch Klassenkampf, sondern durch Erfolge.

Diese Maßnahmen würden für Niedrigverdiener und prekär Beschäftigte das Leben revolutionieren. Sie würden als Umverteilungsmechanismus wirken und den Klebstoff liefern, der die ansonsten unstete urbane Gesellschaft zusammenhält. Der Erfolg solcher Maßnahmen wäre nicht durch ein steigendes Bruttoinlandsprodukt zu messen – obwohl sich sinkende CO2-Emissionen und eine verbesserte körperliche und geistige Gesundheit zweifelsohne positiv auswirken würden. Das Ziel wäre vielmehr eine nicht marktgebundene Wirtschaft, die nicht nur Wohnungsgenossenschaften, Genossenschafts- und Ethikbanken und genossenschaftliche Unternehmen einschließt, sondern auch eine umfassende, günstig zugängliche Kulturwirtschaft. Dafür wären rechtliche Maßnahmen notwendig: Gesetze gegen Immobilienspekulation, die Rücknahme der Privatisierung des öffentlichen Transportwesens und neue Gesetze, die die Entstehung heterodoxer Geschäftsmodelle zulassen.

Die globale Wirtschaft des 21. Jahrhunderts besteht aus Menschen, Ideen und Dingen, wobei die Dinge eindeutig an dritter Stelle stehen. Die postkapitalistische Stadt könnte ein Angebot machen: Hier findet ihr alle sozialen Instrumente, um Menschen in die Stadt zu ziehen, die anders leben wollen, und hier entstehen die Ideen. Genau, wie Amsterdam ein Transformationsmotor für Güter und Geld war, wäre eine postkapitalistische Stadt ein Transformationsmotor für Menschen und Ideen. Wie soll das von statten gehen? Das Projekt darf nicht etwa als erfolgreiche Verwaltung des Status quo angelegt werden, der auf Immobilienspekulation und Hochfinanz setzt, sondern muss als Übergang zu etwas anderem verstanden werden. Da die neoliberale Macht überall verankert ist – in den Netzwerken der Hochfinanz, der Kriminalitätsoligarchien, der staatlichen Bürokratien und Erbeliten –, wird es Widerstand geben. Aber die frühe bürgerliche Gesellschaft überwand Widerstand nicht nur durch Klassenkampf, sondern durch Erfolge. Entscheidend war, dass die Bezugsgrößen für den Erfolg neu definiert wurden.

Die Dringlichkeit der Klimakrise und die spürbare Unzulänglichkeit des Bruttoinlandsprodukts als Maßstab in einer Epoche der virtuellen und immateriellen Güter hat bereits eine Debatte über andere Messeinheiten für den sozialen Wohlstand losgetreten. In der nächsten Kolumne werde ich darstellen, warum ein neuer Maßstab, der sich auf Arbeitsaufwand und freigesetzte Zeit stützt, in der Politik neue Erfolgskriterien liefern könnte.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

Dieser Artikel ist eine gemeinsame Veröffentlichung von Social Europe und dem IPG-Journal.