Im Vorfeld des BRICS-Gipfels 2023 – es war das 15. Treffen der Staats- und Regierungschefs von Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika – gaben zwei mögliche Ergebnisse Anlass zu Spekulationen. Das erste betraf die „Entdollarisierung“, das zweite die BRICS-Erweiterung. Das erste Thema soll noch weiter beraten werden, doch das zweite hat mit der Aufnahme von sechs neuen Ländern, die im Januar 2024 die Vollmitgliedschaft erhalten werden, ein schockierendes Ergebnis gebracht.
Die Erklärungen der vergangenen 15 BRICS-Gipfel zeichnen sich durch eine auffallende Stringenz aus. Vier Themen hat die Staatengruppe in sämtlichen Gesprächen beraten: Erstens haben die BRICS-Staaten infolge der globalen Finanzkrise, der Rezession 2008/2009 und des schwindenden Gewichts des Westens (zumal nach der Eurokrise 2010) stets die Bedeutung des Multilateralismus hervorgehoben. Zweitens legen sie Wert auf anhaltendes Wirtschaftswachstum und behalten dabei die Fortschritte bei den UN-Millenniums-Entwicklungszielen und dem Nachfolgekonzept „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ im Blick. Drittens zeigen sich die fünf Staaten solidarisch und treten immer wieder für Souveränität und Ziele der jeweils anderen ein. Das gilt insbesondere für den Wunsch Brasiliens, Indiens und Südafrikas, einen ständigen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu bekommen – auch wenn sich China und Russland hier eher bedeckt halten.
Viertens hat die Gruppe immer wieder gefordert, durch Reformen der globalen Strukturen dem Umstand Rechnung zu tragen, dass auch jenseits der Nordatlantikstaaten, die seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die internationalen politischen Institutionen dominieren, große Volkswirtschaften entstanden sind. Zu diesem Thema heißt es schon im ersten Kommuniqué: „Die Schwellen- und Entwicklungsländer müssen in den internationalen Finanzinstitutionen mehr Mitsprache erhalten und besser vertreten sein. Leitung und Führungspersonal dieser Institutionen sollten in einem offenen, transparenten und leistungsorientierten Auswahlverfahren ernannt werden.“
Der Wunsch nach einer eigenen BRICS-Währung lässt sich mit Gipfelerklärungen allein nicht verwirklichen.
Ein fünftes Ziel, das in der Erklärung zum ersten Gipfel enthalten war, kam in nachfolgenden Kommuniqués sporadisch zur Sprache: „Wir sind der Überzeugung, dass die Welt ein stabiles, verlässliches und stärker diversifiziertes internationales Währungssystem braucht.“ In den vergangenen, insbesondere den letzten beiden Jahren, hat dieses Ziel wieder an Bedeutung gewonnen. Grund dafür sind der Russland-Ukraine-Krieg, die Sanktionen gegen Russland und dessen Ausschluss aus den globalen Zahlungssystemen. Im Vorfeld des Gipfels hieß es oft, die BRICS-Staaten hätten vor, eine neue Währung zu schaffen. Doch das ist nicht eingetreten – und eine entsprechende Erklärung kam vom Finanzministerium des Gastlandes. Allerdings haben sich die BRICS-Staaten verpflichtet, Handel statt wie üblich in US-Dollar in ihren Landeswährungen abzuwickeln.
Der Wunsch nach einer eigenen BRICS-Währung lässt sich mit Gipfelerklärungen allein nicht verwirklichen. Vielmehr müssen Bevölkerung und Unternehmen der BRICS-Länder zunächst Vertrauen in die wirtschaftlichen Grundlagen der jeweils anderen Staaten fassen, nachdem das Verhältnis bislang eher gespalten war. Das liegt unter anderem daran, dass nur die Wirtschaften Chinas und Indiens nachhaltiges Wachstum verzeichnen, wohingegen die der anderen drei Mitgliedstaaten seit 2015 stagnieren oder schrumpfen. China und Indien haben keinen Anreiz, die relativ instabilen Währungen Südafrikas (Rand) und Russlands (Rubel) zu akkumulieren – eine Ausnahme mag der brasilianische Real sein.
Die Währungsdiskussion mündete in eine schwammige Erklärung Präsident Ramaphosas: „Als BRICS-Staaten wollen wir ermitteln, wie sich Stabilität, Zuverlässigkeit und Fairness der globalen Finanzarchitektur verbessern lassen. Auf dem Gipfel wurde vereinbart, die Finanzminister und/oder gegebenenfalls die Zentralbankchefs der BRICS-Staaten zu beauftragen, sich mit der Thematik lokaler Währungen, Zahlungsinstrumente und -plattformen zu befassen und den BRICS-Staats- und Regierungschefs auf dem nächsten Gipfel Bericht zu erstatten.“
BRICS hat Staaten aufgenommen, die den in den letzten 15 Jahren gewachsenen Zusammenhalt schwächen könnten.
Vollzogen wurde dagegen die mit Spannung erwartete und viel diskutierte Erweiterung der BRICS-Gemeinschaft. Präsident Ramaphosa erklärte dazu: „Wir haben beschlossen, die Argentinische Republik, die Arabische Republik Ägypten, die Demokratische Bundesrepublik Äthiopien, die Islamische Republik Iran, das Königreich Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) aufzufordern, der BRICS-Gruppe als Vollmitglieder beizutreten.“ Der Beitritt der neuen Länder soll im Januar nächsten Jahres vollzogen werden.
Relevant ist hier nicht so sehr, dass der Staatenbund erweitert wird, sondern vielmehr wie. In dieser Hinsicht hat der Gipfel ein schlechtes Ergebnis hervorgebracht. Man hat Staaten aufgenommen, die den in den letzten 15 Jahren gewachsenen Zusammenhalt schwächen könnten. Argentinien hat eine notorisch instabile Wirtschaft, eine hohe Staatsverschuldung und eine unbeherrschbare Inflation (von derzeit 113 Prozent). Der Iran und Saudi-Arabien befinden sich seit Jahrzehnten in einem „Kalten Krieg“ und führen Stellvertreterkriege im Nahen Osten. Das Tauwetter in den Beziehungen, das im April mit chinesischer Hilfe zustande kam, ist noch neu und wird einige Jahre brauchen, bis es als stabil gelten kann. Auch die gleichzeitige Aufnahme von Ägypten und Äthiopien könnte den Zusammenhalt der Staatengruppe schwächen und Konflikte im BRICS-Verbund nach sich ziehen: Seit Fertigstellung der äthiopischen Grand-Ethiopian-Renaissance-Talsperre, die flussabwärts die Versorgung Ägyptens gefährdet, streiten die beiden Staaten über die Nutzung des Nilwassers. Zwischen den BRICS-Mitgliedstaaten China und Indien kommt es nicht selten zu Auseinandersetzungen, die die Staatengruppe bisher zwar überstanden hat – aber warum holt man sich nun Mitglieder mit neuen, potenziell explosiven Konflikten ins Boot?
Es fehlt auch die ideologische Verankerung in der BRICS-Vision, eine Alternative zum Westen zu verkörpern.
Die BRICS-Erweiterung muss nicht nur wegen dieses Konfliktpotenzials überraschen. Es fehlt auch die ideologische Verankerung in der BRICS-Vision (zumindest aus chinesischer und russischer Perspektive), eine Alternative zum Westen zu verkörpern. Einige der Neumitglieder, insbesondere Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate, sind mit der US-geführten Weltordnung durchaus einverstanden. Beide Staaten haben Abkommen über eine Verteidigungskooperation mit den USA geschlossen. 5 000 US-Militärangehörige sollen auf der Al Dhafra Air Base in den Vereinigten Arabischen Emiraten stationiert sein, auf saudischem Staatsgebiet befinden sich mindestens fünf US-Stützpunkte. Während die BRICS-Staats- und Regierungschefs zusammensaßen, fanden – vermittelt durch die USA –wichtige Gespräche zwischen Saudi-Arabien und Israel über die erstmalige Aufnahme diplomatischer Beziehungen statt.
Möglicherweise erhofft sich die Staatengruppe, das globale Gewicht des US-Dollars zu schwächen, indem sie Länder aufnimmt, die besonders große Reserven des meistgehandelten Rohstoffs der Welt besitzen – Öl. Eine solche Langzeitstrategie setzt jedoch einen Zusammenhalt voraus, der angesichts der konkurrierenden Interessen, Identitäten und Loyalitäten der Neumitglieder bröckeln dürfte. Man könnte somit behaupten, dass dieser Gipfel der Vereinigung der BRICS-Staaten, wie wir sie kennen, ein Ende gesetzt hat.
Aus dem Englischen von Anne Emmert