Zuerst Afghanistan: Im August 2021 bricht plötzlich die Regierung zusammen und mit ihr 20 Jahre westliches „Nation-Building“. Im Februar 2022 dann die Ukraine: Erstmals seit 1945 kommt es in Europa wieder zu einem großen konventionellen Krieg. Russland entfesselt eine Barbarei im Stil des 20. Jahrhunderts, verschärft durch einen Informationskrieg im Stil des 21. Jahrhunderts.
Am 7. Oktober nun der brutale Angriff der Hamas und die todbringende Antwort Israels. Israels Einmarsch in den Gazastreifen droht nicht nur einen regionalen Krieg auszulösen, mit koordinierten Angriffen der iranischen Stellvertreter im Libanon, Jemen und Irak. Strategisch droht auch die Gefahr, dass die Macht der Vereinigten Staaten in der Region einbricht. Letztlich zeigt sich in jedem dieser traumatischen Ereignisse das Versagen der USA: Erst scheiterte Donald Trumps Friedensabkommen mit den Taliban, dann gelang es Joe Biden nicht, diesen Fehler rückgängig zu machen, und schließlich schaffte Biden es auch nicht, die russische Aggression gegen die Ukraine durch Abschreckung zu verhindern.
Jetzt drohen die USA im Nahen Osten zu scheitern – der wichtigsten Region, in der sie seit ihrem Rückzug aus Vietnam in den 1970er Jahren ihre Macht durchsetzen wollen. Ihr Einfluss in den relevanten Hauptstädten von Riad bis Kairo ist gering, ihr Ruf auf den „arabischen Straßen“ ist ruiniert, und der Kongress mit republikanischer Mehrheit ist nicht in der Lage, Geld für den Konflikt zu bewilligen, ohne dies durch entsprechende Einsparungen bei der amerikanischen Steuerbehörde IRS auszugleichen.
Die massiven Seestreitkräfte, die die USA im östlichen Mittelmeer zusammengezogen haben, sollen den Iran und seine Anhänger von einer Eskalation abhalten und den Verbündeten in der Region die beruhigende Botschaft vermitteln, dass die Sicherheitsarchitektur der US-Basen, Horchposten und schäbigen Abkommen mit Autokraten tragfähig bleiben wird. Doch in den finsteren Fantasien radikaler Islamisten ist plötzlich etwas vorstellbar, von dem der Westen dachte, es sei dank ihm undenkbar: dass Israel besiegt wird und die Bereitschaft der USA, für Israel in den Kampf zu ziehen, schwindet. Es war nicht angedacht, dass lachende Teenager Plakate mit entführten jüdischen Jugendlichen von Litfasssäulen reißen. Amerikanische Präsidenten sollten auch nicht zum Aufstand im eigenen Land blasen. Charkiw, Cherson und Odessa sollten mit den Schrecken des Zweiten Weltkriegs assoziiert werden, nicht mit der Gegenwart. Wir erleben derzeit den Zerfall einer Ordnung. Mit ihr löst sich auch die Macht des Sachverstandes auf.
Die Weltwirtschaft hat begonnen, sich zu deglobalisieren, und zerfällt in rivalisierende Sphären.
Wenn ich in Veranstaltungen mit Nahost-Expertinnen und -Experten sitze und deren jähe Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit erlebe, habe ich den Eindruck, dass dies für sie eine neue Erfahrung ist. Im Februar 2022 nahm ich an Seminaren mit gleichermaßen renommierten Russlandfachleuten teil, deren lang gehegte Vorstellungen über ihren Präsidenten Wladimir Putin und den Putinismus sich ebenfalls in Wohlgefallen auflösten. Wenn ich weiter zurückdenke, erinnern sie mich an die Ökonominnen und Ökonomen, mit denen ich während der globalen Finanzkrise 2008 zusammengearbeitet habe. Mit einem Mal war deren gesamtes Wissen nur noch für das relevant, was der Schriftsteller Stefan Zweig so treffend „die Welt von gestern“ nannte.
Auf einer übergeordneten Ebene geht es deshalb ums Verstehen. Nur wenn wir das Geschehen richtig einordnen und die miteinander verwobenen Krisen als ein komplexes Ganzes begreifen, können wir eine Vorstellung davon entwickeln, was getan werden muss, um das zu verteidigen, was es zu verteidigen gilt. In den internationalen Beziehungen haben wir uns jedoch in einer fruchtlosen Debatte zwischen „Realismus“ und „Idealismus“ verfangen. Dabei handelt es sich nicht einmal um eine wirkliche Debatte, sondern nur darum, sich wechselseitig die miteinander unvereinbaren Prämissen entgegenzuhalten. Wenn die eine Seite Recht hat, sind Tausende von Doktortiteln und Lehrstühlen der anderen Seite hinfällig.
Um hier einen Schritt weiterzukommen, regt Benjamin Tallis von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik einen „Neo-Idealismus“ an. Damit ließen sich die humanitären und universalistischen Prinzipien wiederbeleben, welche 1945 das Fundament für die Gründung der Vereinten Nationen und 1948 für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte lieferten – diesmal jedoch ohne Kompromisse mit den Diktaturen auf „unserer Seite“ der geopolitischen Kluft des Kalten Krieges.
Tallis verweist auf eine neue Generation führender Politikerinnen und Politiker wie Kaja Kallas, Sanna Marin und Wolodymyr Selenskyj, die diesen neuen Geist verkörpern. Zugleich wirft er Olaf Scholz und Emmanuel Macron vor, dass sie Russlands Macht weiterhin als gegebene Realität hinnehmen. Wenn ich mich in dieser Debatte positionieren sollte, würde ich mich als Idealist in einer realistischen Welt definieren. Ich wünsche mir eine regelbasierte Weltordnung, einen universellen Menschenrechtsbegriff und ein Völkerrecht, das den einzelnen Menschen in den Mittelpunkt stellt. Doch mir ist bewusst, dass die bestehende Ordnung dabei ist, sich aufzulösen.
Es gibt, um eine Metapher von Karl Marx zu bemühen, einen rechtlichen und geopolitischen Überbau, der von der darunter liegenden wirtschaftlichen Basis nicht mehr getragen werden kann, weil diese Basis zerbrochen ist. Die Weltwirtschaft hat begonnen, sich zu deglobalisieren, und zerfällt in rivalisierende Sphären. Der globale Informationsraum wird balkanisiert. Russland und China haben einen Systemwettbewerb gegen den Westen gestartet und sind mit Erfolg dabei, Oligarchien und gescheiterte Demokratien für ihr Projekt zu rekrutieren.
Jede neu zu schaffende Rechtsordnung muss anerkennen, dass sich das Gravitationszentrum der Welt nach Süden verlagert.
Natürlich sollten wir dagegenhalten und die globalen Institutionen stützen – vom UN-Hilfswerk, das in Gaza so massiv in Bedrängnis gerät, bis zum Internationalen Strafgerichtshof, der dort Kriegsverbrechen untersuchen könnte –, so wie es in den 1930er Jahren unsere Vorfahren taten, um den zusammenbrechenden Völkerbund zu retten. Doch wir müssen den Zerfallsprozess erkennen, der an den Fundamenten dieser Institutionen nagt.
Wir sollten uns nicht fragen: „Wie erhalten wir die alte Weltordnung aufrecht?“, sondern wir sollten uns die Frage stellen, die 1943/44 John Maynard Keynes und sein amerikanischer Amtskollege Harry Dexter White formulierten: Wie soll die Welt aussehen, wenn wir gewinnen? (Wobei mit „wir“ heute alle Völker der Welt gemeint sein müssten und nicht nur „der Westen“.) Als der britische Labour-Parteichef Clement Attlee in den 1930er Jahren sich angesichts des Spanischen Bürgerkriegs vom Pazifismus und der „Nichteinmischung“ abwandte und fortan die Wiederaufrüstung aktiv unterstützte, pochte er zugleich darauf, dass das Ziel einer jeden Kriegskoalition mit seinem konservativen Amtskollegen Winston Churchill eine „Weltregierung“ sein müsse. Die Welt nach 1945 war das Resultat lang gehegter juristischer, ökonomischer und geopolitischer Visionen.
Ich will weder eine Rückkehr zur unipolaren Welt im Zeichen der US-Macht noch ein Zurück zu einem Multilateralismus, bei dem mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung weiter in Armut lebt und der Gewalt von Diktatoren ausgeliefert bleibt. Jede neu zu schaffende Rechtsordnung muss anerkennen, dass sich das Gravitationszentrum der Welt nach Süden verlagert. 1948 lebten 2,7 Milliarden Menschen auf der Welt, heute sind es acht Milliarden. 1948 war Asien der bevölkerungsreichste Erdteil, und Europa folgte auf Platz zwei. Heute steht Afrika mit seinen 1,4 Milliarden Menschen an zweiter Stelle, hat aber im internationalen Gesamtgefüge nur minimalen Einfluss.
Dass im Globalen Süden sich manche offenbar bereitwillig hinter Diktatoren wie Putin und den kruden Antisemitismus stellen, den wir in den „sozialen Medien“ erleben, liegt allem Anschein nach daran, dass die bestehende Weltordnung ihnen nicht zusagt und sie sich eine neue Weltordnung wünschen. Deshalb muss der neue Multilateralismus ein Gemeinschaftswerk sein, in das die fortschrittlichen und humanistischen Traditionen Chinas ebenso einfließen wie die des indischen Subkontinents, Afrikas und Lateinamerikas sowie des Westens. Er muss sich auf ihr Wissen stützen und ihre Werte verkörpern – aber er muss auch den Universalismus neu formulieren und Zusammenhalt stiften.
Die Alliierten des Zweiten Weltkriegs brauchten fast ein ganzes Jahrzehnt, um eine Zukunftsvision für die Nachkriegswelt zu entwerfen. Dass ihnen dies gelang, während sie gleichzeitig dem täglichen Leid und den technischen Herausforderungen der Kriegszeit standhielten, machte diese Generation „großartig“. Was wir aus der Entstehungsgeschichte der nach 1945 geschaffenen Ordnung lernen sollten, ist dies: Das Nachkriegsgefüge erforderte eine jahrzehntelange intellektuelle Anstrengung und rechtlich, politisch und ökonomisch ein in entscheidenden Punkten neues Denken des Westens – lange bevor dieses neue Denken in Form von Gesetzen und Institutionen in die Tat umgesetzt wurde.
Dieser Artikel ist eine gemeinsame Publikation von Social Europe und dem IPG-Journal.
Aus dem Englischen von Christine Hardung