Es gibt keine feste Ordnung mehr und die Welt treibt vor sich her. Das letzte Mal, dass die internationale Ordnung sich zu einer koordinierten Reaktion auf eine länderübergreifende Herausforderung zusammengerauft hat, war der Londoner G20-Gipfel im April 2009. Damals wurden die Staats- und Regierungschefs aktiv, um nach dem Finanzcrash von 2008 mit vereinten Kräften eine neue Weltwirtschaftskrise abzuwenden und das globale Bankensystem zu stabilisieren. Wie die internationale Gemeinschaft seither auf den Klimawandel, die immer weiter um sich greifende Schuldenkrise in den Entwicklungsländern und die Coronapandemie reagiert, kann man dagegen nur als jämmerlich bezeichnen.

Der Grund für dieses Versagen liegt auf der Hand: Immer weniger Länder fühlen sich der bisherigen internationalen Ordnung verpflichtet – nicht einmal diejenigen, die diese Ordnung aufgebaut haben. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die USA die Führungsmacht zweier Weltordnungen. Die erste war keynesianisch geprägt und interessierte sich nicht sonderlich dafür, wie die Staaten in der bipolaren Welt des Kalten Krieges ihre inneren Angelegenheiten regelten. So war es möglich, dass in den 1950er, 1960er und 1970er Jahren das sozialistische Indien die meisten Hilfen von der Weltbank erhielt.

Nach dem Kalten Krieg wurde diese Ordnung durch eine neoliberale abgelöst, die in der nunmehr unipolaren Welt die nationale Souveränität und die Ländergrenzen ausblendete, wenn es sein musste. Beide Ordnungen erhoben den Anspruch, „offen, regelbasiert und freiheitlich“ zu sein und die Werte der Demokratie, der sogenannten freien Märkte, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit hochzuhalten. In Wahrheit gründeten sie auf der Dominanz und den Imperativen der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Macht der Vereinigten Staaten. In der Zeit nach dem Untergang der Sowjetunion trugen die meisten Mächte – auch das aufstrebende China – die von den USA angeführte Ordnung über weite Strecken grundsätzlich mit.

Seit einigen Jahren mehren sich jedoch die Anzeichen, dass dieses Arrangement der Vergangenheit angehört. Etliche Großmächte verhalten sich zunehmend „revisionistisch“, verfolgen zum Schaden der internationalen Ordnung ihre eigenen Ziele und sind bemüht, die Ordnung selbst zu verändern. Häufig zeigt sich dieser Revisionismus in Form von Territorialstreitigkeiten, insbesondere im indopazifischen Raum – man denke nur an Chinas spannungsvolles Verhältnis zu seinen Nachbarn Indien, Japan, Vietnam und anderen Ländern im maritimen Asien. Wladimir Putins Einmarsch in die Ukraine war ein Verstoß gegen internationale Standards und eine weitere Absage an jede Hoffnung, Russland könnte in einer US-geführten Ordnung in Europa eine komfortable Rolle finden.

Revisionismus macht sich aber auch im Handeln vieler anderer mächtiger Länder bemerkbar: In der wachsenden Freihandelsskepsis in den USA ebenso wie in der Aufrüstung des einst pazifistischen Japans und in der Wiederaufrüstung Deutschlands. Viele Länder sind mit der Welt, die sie wahrnehmen, unzufrieden und wollen sie zu ihrem eigenen Vorteil verändern. Diese Entwicklung könnte dazu führen, dass es geopolitisch künftig mehr Streit gibt und die weltwirtschaftlichen Perspektiven sich verschlechtern. Die Frage, wie man erfolgreich mit einer von revisionistischen Mächten geprägten Welt umgeht, wird vielleicht die entscheidende Herausforderung der kommenden Jahre sein.

Viele Länder sind mit der Welt, die sie wahrnehmen, unzufrieden und wollen sie zu ihrem eigenen Vorteil verändern.

Die Großmächte zweifeln an der regelbasierten Ordnung, und viele schwächere Länder verlieren immer mehr das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit und Fairness der internationalen Ordnung. Das gilt besonders für die Länder im Globalen Süden. Sie erleben, dass die Vereinten Nationen und dass Internationaler Währungsfonds (IWF), Weltbank, Welthandelsorganisation sowie die G20 nichts gegen ihre Entwicklungsprobleme und – noch dringlicher – gegen ihre Schuldenkrise unternehmen, die durch die Coronapandemie und den steilen Anstieg der Energie- und Lebensmittelpreise infolge des Ukrainekrieges noch zusätzlich verschärft wird. Laut IWF sind inzwischen mehr als 53 Länder von schweren Schuldenkrisen bedroht.

Zu diesem ökonomischen Versagen kommt erschwerend hinzu, dass die Großmächte in diesem Jahrhundert in rekordverdächtigem Ausmaß Invasionen, Interventionen und Regimewechselversuche unternehmen und sich verdeckt in anderen Ländern einmischen. Die russische Invasion in der Ukraine ist das jüngste und eklatanteste Beispiel für solche Verletzungen der nationalen Souveränität, aber auch viele westliche Staaten haben sich schuldig gemacht, indem sie ähnlich vorgegangen sind. All das führt dazu, dass viele Entwicklungsländer sich noch unsicherer fühlen und an der internationalen Ordnung zweifeln.

Das Vertrauen in das Fundament der bisherigen Weltordnung ist im Schwinden begriffen. Früher wurden Wirtschaftssanktionen oder Militäreinsätze gegen bestimmte Länder dem UN-Sicherheitsrat und anderen multilateralen Gremien zur Zustimmung vorgelegt. Heute steht und fällt die Wirksamkeit von Sanktionspaketen und militärischen Interventionen mit der Macht der USA und des Westens. Das gespaltene Verhältnis zwischen den Großmächten beraubt die internationalen Institutionen Schritt für Schritt ihrer Wirkmöglichkeit. Indem sie dem Handeln der Mächtigen keine völkerrechtlichen Zügel anlegen, verlieren diese Institutionen immer mehr ihre Legitimationsgrundlage. Seit Langem etablierte Standards beginnen zu bröckeln, was sich zum Beispiel daran zeigt, dass in Nordostasien eine nukleare Proliferation immer wahrscheinlicher wird und die japanische Führung laut über die Anschaffung von Atom-U-Booten und die Stationierung amerikanischer Nuklearwaffen in der Region nachdenkt.

In die internationalen Beziehungen schleicht sich eine Art Anarchie ein, nicht im wortwörtlichen Sinn, sondern in dem Sinne, dass es kein zentrales Organisationsprinzip und keinen Hegemon mehr gibt. Es gibt keine Macht, die im Alleingang die Bedingungen der heutigen Weltordnung diktieren kann, und die Großmächte verständigen sich nicht auf einen klar definierten Katalog von Prinzipien und Standards. Wenn so viele Länder ihre eigenen Wege gehen, ist es schwer, gemeinsame Verkehrsregeln aufzustellen.

China und Russland stellen verbal und durch ihr Handeln Kernpunkte der liberalen Ordnung des Westens infrage, vor allem wenn es um die universellen Menschenrechte und die Pflichten von Staaten geht. Sie nutzen den Grundsatz der staatlichen Souveränität als Vorwand, um nach eigenem Gutdünken verfahren zu können, und sind bestrebt, in Bereichen wie Cyberspace und Neuer Technologien eigene Regeln aufzustellen. Bislang haben sie allerdings kein Alternativmodell mit genug Anziehungskraft auf andere Länder entwickelt. Ihr Umgang mit ihren Nachbarn – in der Ukraine, im Südchinesischen Meer, im Ostchinesischen Meer und an der Grenze zwischen Indien und China – erweckt den Eindruck, dass sie ohne Rücksicht auf Standards und Institutionen vor allem auf militärische und wirtschaftliche hard power setzen.

Wenn so viele Länder ihre eigenen Wege gehen, ist es schwer, gemeinsame Verkehrsregeln aufzustellen.

Trotzdem lässt sich die heutige Weltlage nicht als neuer Kalter Krieg beschreiben, in dem sich trennscharf zwei Blöcke gegenüberstehen – etwa eine „freie Welt“ und eine Welt der „Autokratien“. Zwar präsentiert sich das transatlantische Bündnis gefestigt, und China und Russland scheinen in ihrer Abneigung gegen den Westen geeint, aber von einem neuen Kalten Krieg kann keine Rede sein. Auch einige demokratische Staaten gerieren sich zunehmend autokratisch. Die Reaktionen der Welt auf den Ukrainekrieg und die Sanktionen des Westens gegen Russland zeigen, dass es außerhalb der transatlantischen Allianz keinen einheitlichen Block gibt.

Die gegenseitige wirtschaftliche Abhängigkeit Chinas und der USA ist nicht mit der Situation im Kalten Krieg vergleichbar, denn damals waren die Hauptrivalen zwei Pole, zwischen denen Welten lagen. Hinzu kommt, dass die Kontrahenten im Kalten Krieg, die USA und die Sowjetunion, für ein ideologisches Entweder-oder standen. Doch zu der Anziehungskraft, die Kommunismus und Sozialismus in den 1950er und 1960er Jahren für die Entwicklungsländer hatten, ist heute weit und breit kein Äquivalent in Sicht. China bietet keine Ideologie- oder Systemalternative, sondern lockt andere Länder mit finanziellen und technologischen Versprechen und Infrastrukturprojekten, aber nicht mit Prinzipien.

Stattdessen wird die Geopolitik immer stärker fragmentiert und verliert zunehmend den Zusammenhalt. Eine Welt der Revisionisten ist eine Welt, in der jedes Land seine eigenen Wege geht. Die globalisierte Weltwirtschaft zerfällt in regionale Handelsblöcke, die sich in Bereichen wie Hightech und Finanzwirtschaft teilweise von anderen abkoppeln. Die mächtigen Länder ringen immer erbitterter um die wirtschaftliche und politische Vorherrschaft. Die Welt wird dadurch immer stärker gefährdet.

Die Staaten müssen lernen, mit dieser Welt zurechtzukommen, die in einer Ordnungslücke steckt und von revisionistischen Mächten bestimmt wird. Sie werden sich auf eine ungewisse Zukunft einstellen müssen. Manche sehen die Lösung darin, sich nach innen zu wenden. Diesen Weg haben in den vergangenen Jahren China, Indien, die USA und andere Staaten gewählt. Sie stellen in der einen oder anderen Form die Autarkie in den Vordergrund: China mit seinem Entwicklungsmodell des „dualen Kreislaufs“, Biden mit der Build Back Better-Agenda und Indien mit der von Premierminister Narendra Modi propagierten atmanirbharta (Selbstständigkeit). Die Staaten wollen jedoch nicht nur wirtschaftlich unabhängiger, sondern auch militärisch sicherer werden. Alle Großmächte sind daher bestrebt, ihre Verteidigungsfähigkeit und nuklearen Kapazitäten auszubauen. Trotz der wirtschaftlichen Belastungen durch die Coronapandemie haben die weltweiten Verteidigungsausgaben 2021 erstmals die 2-Billionen-Dollar-Marke überschritten.

Eine Welt der Revisionisten ist eine Welt, in der jedes Land seine eigenen Wege geht.

Eine weitere Antwort auf eine von Revisionismus bestimmte Welt ist das Schmieden von Ad-hoc-Koalitionen. In den vergangenen zehn Jahren ist eine ganze Reihe plurilateraler und multilateraler Zusammenschlüsse entstanden – von der Quadrilateralen Sicherheitskooperation (Quad) und der BRICS-Partnerschaft (mit Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika) über die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) bis zur Gruppe „I2U2“, zu der sich Indien, Israel, die Vereinigten Arabischen Emirate und die USA zusammengeschlossen haben. Jedes Problem bringt offenbar ein neues Akronym hervor. Diese Gebilde sind nützlich und dienen konkreten Zwecken. Sie können dazu beitragen, bestimmte bilaterale Beziehungen zu intensivieren, aber mit den festen Allianzen oder starren Blöcken des Kalten Krieges haben sie nichts gemein.

Viele mittlere und kleinere Mächte werden unweigerlich auf schmalen Graten wandern und ihre Beziehungen zu größeren Mächten sorgfältig ausbalancieren müssen. Die Reaktion des Verbands Südostasiatischer Staaten (ASEAN) auf die zunehmende Rivalität zwischen den USA und China und die engere Bindung zwischen Israel und den sunnitischen Golfmonarchien durch die Abraham-Abkommen sind Beispiele für diese Entwicklung. Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine weigerten sich viele afrikanische, asiatische und lateinamerikanische Länder trotz ihrer engen Beziehungen zum Westen, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen. Dieses Ausbalancieren und Auf-Nummer-sicher-Gehen wird dazu führen, dass vermehrt lokale Lösungen für lokale Probleme gesucht werden – sei es in Form regionaler Wirtschafts- und Handelsabkommen oder lokal ausgehandelter Lösungen für politische Streitigkeiten.

Mit lokalem Handeln allein lassen sich die großen globalen Probleme jedoch nicht in den Griff bekommen. Das zeigt sich exemplarisch an Sri Lankas Schulden- und Wirtschaftskrise. Der Inselstaat ist auf die Hilfe seiner Nachbarländer auf dem Subkontinent angewiesen. Allein Indien stellte Lebensmittel, Kraftstoffe und Kredite im Umfang von 3,8 Milliarden Dollar bereit. Auf die Umschuldung durch die großen ausländischen Kreditgeber, die unter anderem in China und im Westen sitzen, wartet Sri Lanka bislang vergeblich. Seit Jahren stellen sich die wohlhabenden Länder taub für die Forderungen nach einem Schuldenerlass oder einer Umschuldung für Entwicklungsländer, die am Rande des Staatsbankrotts stehen. Sri Lanka wird wohl nicht das einzige Land bleiben, das unter der Last zusammenbricht. In einer Welt der Revisionisten, die in einer Ordnungslücke steckt, werden die großen Fragen unserer Zeit – ungleiche Entwicklung, Klimawandel und Pandemien – nicht angepackt.

In diesen Zeiten, in denen die alte Ordnung sich auflöst und die neue Ordnung noch in den Geburtswehen steckt, sind diejenigen Staaten im Vorteil, die das Kräftegleichgewicht verstehen und ein Konzept für eine kooperative Zukunftsordnung haben, die dem Wohl aller dient. Leider sind die Kapazitäten etlicher Großmächte kleiner geworden, und ihre Staats- und Regierungschefs interessieren sich in vielen Fällen wenig für Außenpolitik, Krisenmanagement oder die Lösung länderübergreifender Probleme – und das in einer Zeit, in der durch den sich ausbreitenden Revisionismus Krisen wahrscheinlicher und gefährlicher werden.

Alle maßgeblichen revisionistischen Mächte wollen die internationale Ordnung verändern, weil ihre von Streit geprägte Innenpolitik es so verlangt, aber keine dieser Mächte hat eine überzeugende Vision, worin diese Veränderung bestehen könnte. Das sich rasch verändernde Kräftegleichgewicht dürfte auf lange Sicht ebenfalls nicht als Basis für eine stabile Ordnung taugen. Stattdessen werden die Großmächte sich vermutlich von einer Krise zur nächsten durchwurschteln. Ihre Unzufriedenheit mit der internationalen Ordnung und miteinander wird indessen weiterwachsen – ohne Richtung oder Ziel.

Gekürzte Fassung des Beitrags „Nobody Wants the Current World Order“. © Foreign Affairs.

Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld