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Bereits im Jahr 1990 wies Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen darauf hin, dass „mehr als 100 Millionen Frauen fehlen“. Was genau bedeutet an dieser Stelle der Begriff „fehlen“? Mädchen „fehlen“, weil in vielen Ländern der Welt Eltern vorzugsweise Söhne bekommen. Diese Präferenz geht häufig auf patriarchale und andere Normen zurück, mit denen sich Geschlechterungleichheiten manifestieren. Dann erachten Eltern Jungen als sozial oder ökonomisch wertvoller. Seit der Einführung moderner Technologien, mit denen das Geschlecht eines Kindes vor der Geburt bestimmt werden kann, haben in Ländern wie China, Indien und Aserbaidschan die Abtreibungen von Mädchen zu einer sehr ungleichen Geschlechterverteilung geführt.

Die Zahlen sind atemberaubend. Nehmen wir zum Beispiel Armenien. Studien zeigen, dass sich das dortige Geschlechterverhältnis bei Neugeburten seit den neunziger Jahren mit Einführung der Ultraschalltechnologie deutlich verschoben hat. Der Spitzenwert wurde im Jahr 2000 erreicht, als auf 100 neugeborene Mädchen 120 Jungen kamen. (Normalerweise beträgt das Verhältnis von Jungen zu Mädchen bei der Geburt relativ stabil 105:100. Wenn die Kinder älter werden, gleicht sich dieses Verhältnis an, da Jungen und Männer mit höherer Wahrscheinlichkeit jung sterben.) Im Mittelwert über die Jahre ergibt sich dort somit in einer Kohorte von knapp über einer Million Kindern und jungen Erwachsenen ein Überschuss von fast 50 000 Männern.

Was geschieht, wenn in einer Gesellschaft viel mehr Männer als Frauen leben? Die Entscheidung, einen weiblichen Fötus abzutreiben, mag aus individueller Perspektive rational erscheinen. Beispielsweise verursacht eine Tochter höhere Kosten, wenn bei der Hochzeit eine Mitgift erwartet wird. Und nicht selten bieten Söhne ihren Eltern mehr wirtschaftliche und physische Sicherheit als Töchter, auch weil Frauen ihre Elternhäuser nach der Heirat häufig verlassen. Doch viele Forscher gehen davon aus, dass die allgemeinen gesellschaftlichen Folgen solcher Geschlechterungleichgewichte gravierend sind.

Obwohl die gezielte Abtreibung weiblicher Föten hierzulande kein großes Problem zu sein scheint, lässt sich auch bei uns eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses beobachten.

Schauen wir uns zunächst die Gruppe der (jungen) Männer an. In den meisten Gesellschaften existieren starke Normen, die einen enormen Druck erzeugen, eine Partnerin zu finden und Kinder zu bekommen. Wächst nun eine Generation von Männern heran, für die es keine ebenso große Anzahl von Frauen gibt, können viele Männer diesen sozialen Normen nicht entsprechen. Dies kann sich auch auf ihre langfristigen ökonomischen Aussichten negativ auswirken. Denn in vielen Ländern, die über keinen entwickelten Wohlfahrtsstaat verfügen, sind Familienstrukturen (insbesondere mit Kindern) die einzigen verlässlichen Institutionen, mit denen sich für den Ruhestand vorsorgen lässt.

Die Frustration darüber, keinen Partner zu finden, mag vielen Menschen bekannt vorkommen. Aber wenn sich das Verhältnis zwischen Männern und Frauen dauerhaft stark verschiebt, kann dies mehr werden als nur ein individuelles Problem. Generell gilt, dass junge Männer häufig zu riskantem Verhalten neigen (was auch ihre höhere Sterblichkeit erklärt). In Verbindung mit den Frustrationen, die auf den Männerüberschuss in einer Gesellschaft zurückgehen, kann ihr Verhalten jedoch zu einem Risikofaktor für das ganze Land werden.

Beispiel China. Die dortige Ein-Kind-Politik hatte die unbeabsichtigte Folge, dass die Zahl der Mädchen stark zurückging. Das Ergebnis ist ein Überschuss an Männern (die „kahle Äste“ genannt werden). Der schwedischen Ökonomin Lena Edlund und ihren Co-Autoren zufolge nahm, als diese Männer volljährig wurden, die Kriminalität zu. Ein ähnlicher Effekt wurde in Indien dokumentiert. In einem Artikel im Journal of Conflict Resolution haben Carlo Koos und ich gezeigt, dass derartige Ungleichheiten zu Gewalt zwischen ethnischen Gruppen im ländlichen Afrika führen können. Wir haben untersucht, wie die Polygynie – also die Ehegemeinschaft zwischen einem Mann und mehreren Frauen – zu dem führt, was wir als „überschüssige Männer“ bezeichnen: Männer, die keine Partnerin finden können. Unsere Ergebnisse legen nahe, dass Männer in polygynen Gesellschaften im Durchschnitt frustrierter und eher bereit sind, Gewalt anzuwenden.

Es wäre jedoch ein Fehler zu glauben, dass diese Mechanismen nur außerhalb Westeuropas zum Tragen kommen. Obwohl die gezielte Abtreibung weiblicher Föten hierzulande kein großes Problem zu sein scheint, lässt sich auch bei uns eine Verschiebung des Geschlechterverhältnisses beobachten. Zum Beispiel ziehen häufiger Frauen als Männer aus den ostdeutschen Bundesländern weg und hinterlassen in vielen ländlichen Gemeinden einen Überschuss an Männern im heiratsfähigen Alter von 25 Prozent. Einige Wissenschaftler glauben, dass diese demografische Entwicklung und der jüngste Zustrom von Einwanderern eine giftige Mischung erzeugt haben, weil unter den Migranten, die in den vergangenen fünf Jahren nach Deutschland gekommen sind, überproportional viele junge Männer sind.

Das Phänomen der fehlenden Frauen geht also mit der Diskriminierung von Frauen einher, was einen bestehenden Teufelskreis noch verstärkt.

In einem aktuellen Manuskript zeigen Rafaela Dancygier und ihre Mitautorinnen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Zuzug dieser Einwanderer und Hassverbrechen gegen Migranten in Deutschland. Und mehr noch: In Gemeinden mit vielen überschüssigen Männern, so die Autorinnen, geben die Hälfte der einheimischen Männer im Alter zwischen 30 und 40 Jahren an, Angst davor zu haben, aufgrund der Einwanderung keine Partnerin zu finden. Solche Sorgen beim „Partnerwettbewerb“ stehen im Zentrum, wenn es um jenen Mechanismus geht, der die gewalttätigen Folgen von Ungleichgewichten im Geschlechterverhältnis mit sich bringt.

Die gewaltsamen Folgen ungleicher Geschlechterverhältnisse können sich sogar in internationalen Konflikten niederschlagen. Nehmen wir beispielsweise die jüngste Eskalation zwischen Armenien und Aserbaidschan. Auch Aserbaidschan verzeichnete in der Vergangenheit einen Anstieg der männlichen Geburten. Heute haben beide Länder eine junge erwachsene Bevölkerung mit vielen überschüssigen Männern. Die Forschungsergebnisse, über die in anderen Kontexten diskutiert wird, weisen darauf hin, dass dies ein Faktor gewesen sein könnte, der zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft beigetragen hat. Auf einer allgemeineren Ebene ergeben Untersuchungen von Valerie Hudson und ihren Mitautorinnen, dass die Unterordnung von Frauen einhergeht mit weniger Wohlstand, fragilen Staaten und Konflikten.

Wie steht es um die Frauen in männlich dominierten Gesellschaften? Es könnte ja sein, dass sich der Status von Frauen aufgrund ihrer relativen Knappheit verbessert. Doch das scheint leider nicht der Fall zu sein. Vielmehr fördern die oftmals existierenden patriarchalischen Normen und die Überrepräsentation von Männern eine weitere Maskulinisierung und verhindern die Stärkung der Frauen. Infolgedessen werden Frauen zum Beispiel sexuell ausgebeutet; sie werden Opfer des (internationalen) Menschenhandels oder von Brautentführungen. Das Phänomen der fehlenden Frauen geht also mit der Diskriminierung von Frauen einher, was einen bestehenden Teufelskreis noch verstärkt. Hinzu kommt, dass Maßnahmen für mehr Gleichstellung der Geschlechter auch nach hinten losgehen können. In einer aktuellen Studie beschreiben Sonia Bhalotra und andere Autoren, wie die Einführung eines gendergerechten Erbschaftsrechts für Eltern die wirtschaftlichen Kosten von Töchtern erhöhte, weil die traditionellen Geschlechts- und Familiennormen weiter existierten. Die Forscher dokumentieren einen Rückgang weiblicher Geburten, nachdem eine Politik in die Tat umgesetzt wurde, die ursprünglich dazu gedacht war, Frauen zu stärken.

Die Ungleichbehandlung der Geschlechter hat weitreichende gesellschaftliche Konsequenzen, die über individuelle Ungerechtigkeiten hinausgehen. Wenn Frauen „fehlen“, sind gewalttätige Konflikte die Folge. Ihr Fehlen geht auf Normen zurück, die bewirken, dass Frauen die Gleichberechtigung verweigert wird, und die oft schwer zu ändern sind. Aber auch jahrzehntelange demografische Entwicklungen spielen eine Rolle. Diese Phänomene treten in Industrie- wie auch in Entwicklungsländern auf. Daher sollten Wissenschaftlerinnen und politische Entscheidungsträger die Geschlechter- und Familienbeziehungen nicht nur als eine Arena verstehen, in der Kämpfe um Gleichstellung ausgetragen werden, sondern auch als entscheidende Grundlage für den gesellschaftlichen Frieden.