Die Vereinigten Staaten waren über viele Jahrzehnte die unverzichtbare Nation des Multilateralismus. 1945 wurden die USA zum Architekten eines globalen Institutionengefüges, das die Welt vor neuen Abgründen bewahren sollte. Ohne den entschlossenen Einsatz von Präsidenten wie Roosevelt und Truman hätte es keine Vereinten Nationen, keinen Internationalen Währungsfonds und keine Weltbank gegeben. Und ohne das enorme finanzielle Engagement der USA hätte das UN-System die Jahrzehnte nicht überdauert. Es dient US-Interessen, andere Staaten in ein multilaterales System einzubinden, dessen Regeln man wesentlich mitbestimmt – das war das Leitbild, welches die USA in der gesamten zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter wechselnden Administrationen zu einem multilateralen Akteur machte.
Dieses Leitbild bekam nach der Jahrhundertwende erste Risse: Die Invasion im Irak, der Drohnenkrieg, die Schwächung des Internationalen Strafgerichtshofs, der erste Austritt aus dem Pariser Klimaabkommen – eine lange Liste politischer Entscheidungen lässt im Rückblick zweifeln, ob es den USA gelungen ist, den „unipolaren Moment“ nach dem Ende des Kalten Krieges klug zu nutzen. In der Folge verlor Washington an Soft Power, die Kritik an Doppelstandards wurde lauter und die weltweite Unzufriedenheit mit der US-dominierten internationalen Ordnung wuchs.
Diese Ordnung gehört der Vergangenheit an, eine Nachfolgeordnung hat sich noch nicht etabliert. Stattdessen befindet sich die Welt in einer Übergangsphase, einem instabilen Interregnum. Sie ist durch mehr Multipolarität und einen relativen Rückgang US-amerikanischer Macht geprägt. Diese Phase wird noch länger anhalten, unabhängig davon, wer in Washington regiert. Daher wäre es falsch, in Trump den Beginn einer neuen Ordnung zu sehen. Aber es gibt Grund zu der Annahme, dass das Verhältnis der USA zur internationalen Staatengemeinschaft nach seiner Wiederwahl in eine qualitativ andere Phase eintritt. Trumps Administration steht für einen neuen Ansatz von Außenpolitik, der Nachahmer finden wird und damit prägend für die Staatenwelt im Interregnum sein könnte.
Es ist der Modus einer Großmacht, die sich nicht durch internationale Regelwerke in ihrer Handlungsfreiheit beschneiden lassen möchte. In dieser Logik sind multilaterale Organisationen Hindernisse, und nur im besten Fall noch nachgeordnete Instrumente zur Durchsetzung von Interessen. Nicht mehr die regelbasierte Ordnung (rules-based order), sondern die geschäftsbasierte Ordnung (deals-based order) scheint Leitbild der USA für ihre Interaktion mit der Staatengemeinschaft zu sein. Eng definierte nationale Vorteile und innenpolitische Erwägungen sind für die Trump-Administration wichtiger als die Sicherung langfristiger Interessen durch multilaterale Regelwerke. Durchgesetzt wird das mittels einer „erzwingenden Diplomatie“ (coercive diplomacy). Zölle, Drohungen, Strafen und Sanktionen sind dabei das Mittel der Wahl. Zugleich gewinnt die bilaterale Ebene gegenüber Bündnissen an Bedeutung. Das UN-System wird bei diesem transaktionalen Powerplay in den Hintergrund treten.
Die US-Regierung erzielt mit ihrem Muskelspiel derzeit zahlreiche Tagessiege über andere Staaten.
Dieser Ansatz trifft auf ein bereits geschwächtes multilaterales System. Die Anforderungen an den Multilateralismus werden immer höher, doch scheinen die UN immer weniger in der Lage, ihnen gerecht zu werden. Davon zeugen nicht zuletzt die vielen Blockaden im Sicherheitsrat. Die geopolitischen Rivalitäten und der Mangel an wechselseitigem Vertrauen zwischen den Großmächten sind wesentlicher Treiber dieser Entwicklung. Rivalität und Vertrauenserosion werden unter der neuen Administration wachsen. Die US-Regierung erzielt mit ihrem Muskelspiel derzeit zahlreiche Tagessiege über andere Staaten. Doch ihre Verbündeten blicken genau auf den Umgang mit Panama, Kolumbien und Dänemark, und lernen dabei, wie wichtig es ist, nicht zu sehr von den USA abhängig zu sein. Der Verlust an Ansehen, Vertrauen und Soft Power, den die USA dabei erfahren, ist bemerkenswert. Und auch der Rest der Welt hat Grund zur Besorgnis: Nachdem Trump eine Erweiterung des eigenen Territoriums zum Ziel erklärt hat, verfolgen mit China und Russland nun drei der fünf permanenten Mitglieder des UN-Sicherheitsrats eine expansive geopolitische Agenda. Doch je größer die Rivalität, desto unwahrscheinlicher die Einigung auf gemeinsame Regeln.
Das ist problematisch, denn unter den 193 UN-Staaten herrscht ein großer Konsens darüber, dass das multilaterale System reformbedürftig ist. Die bisherige Ordnung wird von vielen Staaten als ungerecht empfunden. Die Staaten Afrikas, Lateinamerikas und Asiens fordern eine Reform des Sicherheitsrats, mehr Mitspracherechte bei IWF und Weltbank, bei globalen Steuerfragen sowie bei der Auswahl von Spitzenpersonal und eine bessere Entwicklungs- und Klimafinanzierung zugunsten des Globalen Südens. Viele dieser Forderungen würden für die USA und andere westliche Staaten bedeuten, Privilegien abzugeben und mehr Ressourcen bereitzustellen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Trump-Administration, aber auch andere westliche Regierungen zu solchen Zugeständnissen bereit sind. Die Legitimitätsprobleme des multilateralen Systems werden dadurch wachsen, seine Reformfähigkeit abnehmen.
Potenziert werden die Probleme durch den zu erwartenden Rückgang der finanziellen Zuwendungen der USA. So sind die UN mit Einnahmen von rund 74 Milliarden US-Dollar – gemessen an ihren Aufgaben – bereits heute unterfinanziert. Die USA trugen zuletzt rund 28 Prozent aller mitgliedstaatlichen Zuwendungen. Nun bereiten sich die UN und viele ihrer Sonderorganisationen darauf vor, dass die USA ihre Beiträge kürzen und in manchen Fällen ganz einstellen. In einigen Bereichen und Regionen könnte das die UN an den Rand der Handlungsunfähigkeit bringen.
Dass der Ukraine-Krieg und viele weitere Kriege unvermindert andauern, ist ebenfalls Ausdruck eines geschwächten Multilateralismus. Bei der Lösung von Kriegen und Konflikten war auch die UN zuletzt kaum mehr präsent. Sollte es Trump gelingen, Waffenstillstände zu erzwingen und Konflikte zu stabilisieren, würde das auf seine außenpolitische Bilanz einzahlen. Die deal-basierte Ordnung erschiene plötzlich dem Multilateralismus überlegen. Es wäre jedoch ein Pyrrhussieg. Denn in der Folge würde ein stabiles Geflecht multilateraler Regeln durch ein labiles Geflecht bilateraler Transaktionen ersetzt. Europa kennt diesen Ansatz zur Genüge aus dem 19. Jahrhundert. Er endete in Gewalt.
Viele weitreichende Reformen sind ohne die USA undenkbar.
Die Staaten Europas haben aus dieser Erfahrung ihre eigenen Schlüsse gezogen. Die Europäische Union ist ein Resultat davon. Und sie gibt der Staatenwelt Ideen in die Hand, um in der wilden Welt, auf die wir zusteuern, zu navigieren. Der aus den EU-Verträgen bekannte Mechanismus der vertieften Zusammenarbeit kann ein Leitbild für neue Allianzen mit Ländern in Lateinamerika, Afrika und Asien sein. Mit ihnen gilt es, strategischer und intensiver an gemeinsamen Projekten zu arbeiten. Gerade die Länder des Globalen Südens haben ein Interesse an gemeinsamen Regeln, die sicherstellen, dass die künftige Weltordnung kein Konzert der Großmächte wird.
Damit solche Reformallianzen funktionieren, muss den Partnern verdeutlicht werden, dass sich in der rules-based order noch immer die besseren „Geschäfte“ machen lassen als in der deals-based order, welche nur jene bevorteilt, die viel Verhandlungsmacht mitbringen. Die EU sollte sich deshalb auf diejenigen Reformfelder konzentrieren, die für die Länder des Globalen Südens dringlich sind: besserer Zugang zu Finanzmitteln und finanziellen Sicherheitsnetzen, nachhaltige Modelle der Entwicklungsfinanzierung, Lösungen für die globale Schuldenkrise, mehr Mitspracherechte in IWF und Weltbank, eine Reform des UN-Sicherheitsrats, ein gerechteres globales Steuersystem.
Viele weitreichende Reformen sind ohne die USA undenkbar. Daher ist die Zusammenarbeit mit der US-Regierung weiterhin von höchster strategischer Bedeutung. Ziel muss es sein, die USA so eng wie möglich an internationale Mitgliedschaften und Abkommen zu binden. Das ist möglich. Mit Elise Stefanik hat Trump eine Person aus seinem engsten Umfeld zur UN-Botschafterin gemacht. Das wertet den Posten auf. Stefanik wird Kabinettrang haben, was für republikanische Administrationen nicht selbstverständlich ist. Sie ist jung, versiert und ambitioniert, und wird ihre Position nutzen, um sich ein eigenes außenpolitisches Profil zu geben, das ihren Karriereplänen dienlich ist. Eine konstruktive Zusammenarbeit mit Stefanik zu ausgewählten UN-Dossiers ist daher möglich.
Doch damit eine multilaterale Zusammenarbeit mit den USA funktioniert, muss Washington der strategische Wert multilateraler Regeln deutlicher gemacht werden. Weder Unordnung noch Machtvakua sind im Interesse der USA. Das waren sie nie. Für die wilde Zeit, vor der die Welt steht, lohnt es sich, in Erinnerung zu rufen, weshalb Roosevelt und Truman so engagiert waren, die Staatengemeinschaft 1945 überhaupt zusammenzuholen, damit sie sich mit der Charta der Vereinten Nationen eine eigene Verfassung geben konnte: um die Völker der Welt vor „der Geisel des Krieges zu bewahren“. Die Ordnung, zu deren Geburt diese Worte in die Präambel der Charta geschrieben wurden, hat sich inzwischen aufgelöst. Nun hat die Staatengemeinschaft keine wichtigere Aufgabe, als diesen Kernauftrag in eine neue Ordnung zu überführen. Dafür bleiben die Vereinigten Staaten unumgänglich. Und die Vereinten Nationen unverzichtbar.