War es eine Kurzschlussreaktion eines erzürnten Generals oder eine Inszenierung durch die Regierung? Die Debatte um den militärischen Aufmarsch im Regierungszentrum von La Paz und das Eindringen in den Präsidentenpalast durch den Kommandanten der bolivianischen Streitkräfte und zahlreiche Soldaten ist in vollem Gange.

Zunächst einen Schritt zurück: Der Putschversuch wurde von General Juan José Zúñiga angeführt, dem obersten Befehlshaber der bolivianischen Streitkräfte. Präsident Luis Arce hatte ihn im November 2022 zum Kommandanten der Streitkräfte ernannt und im Januar 2024 in diesem Amt bestätigt. Die Ernennung erregte Aufsehen, da die bolivianischen Streitkräfte eine starke meritokratische Tradition haben: Üblicherweise kommen nur die in den jährlichen internen Rankings bestplatzierten Kandidaten in die engere Auswahl für Führungsposten. Zúñiga war im Jahr 2020 auf Platz 48 von 65. Zudem war er 2013 als Hauptverantwortlicher für die Hinterziehung von öffentlichen Mitteln verurteilt worden. Seine Ernennung wurde unter anderem mit seiner großen Loyalität gegenüber Präsident Arce erklärt. Diese stellte er regelmäßig mit öffentlichen Aussagen zugunsten des Präsidenten und gegen den Expräsidenten Evo Morales zur Schau. Die Auseinandersetzung der einstigen Verbündeten um die Präsidentschaftskandidatur 2025 ist derzeit Dreh- und Angelpunkt der bolivianischen Politik.

Zentral für den Putschversuch war ein Interview, in dem Zúñiga Morales als zwanghaften Lügner bezeichnete und dessen mögliche Präsidentschaftskandidatur als verfassungswidrig und daher illegal einstufte. So weit, so normal – dies ist der übliche Diskurs des Arce-Lagers. Der General schoss jedoch weit über das Ziel hinaus und behauptete, die Armee stehe bereit, Morales gegebenenfalls zu verhaften. Damit begab er sich nach weit außerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung und der Befugnisse der Streitkräfte. Arce sah sich gezwungen, den eigentlich loyalen Armeeführer zu entlassen.

Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Am Tag darauf marschierte Zúñiga mit seinen Truppen auf die Plaza Murillo und drang mit den Kommandanten der Luftwaffe und der Marine sowie zahlreichen Soldaten in den Präsidentenpalast ein. Im Palast traf er auf Präsident Arce, den Vizepräsidenten David Choquehuanca sowie mehrere Ministerinnen und Minister und bekräftigte seinen Unmut über die „Geringschätzung“, die er trotz seiner Loyalität zu Arce erfahren musste. Der Präsident befahl ihm, seine Truppen zurückzuziehen, was Zúñiga ablehnte. Anschließend verließ der General den Präsidentenpalast und gab den draußen wartenden Medien Interviews.

Die offensichtlich stümperhafte Durchführung des Putschversuchs weckt bei vielen Menschen Zweifel an dessen Ernsthaftigkeit.

Dieses äußerst kuriose Vorgehen und die offensichtlich stümperhafte Durchführung des Putschversuchs weckte bei vielen Menschen Zweifel an dessen Ernsthaftigkeit. In seinem Interview kündigte Zúñiga an, ein neues Kabinett einzusetzen, die Demokratie „umzustrukturieren“ und die politischen Gefangenen freizulassen: neben Militärs, die im Kontext der politischen Krise 2019 verhaftet wurden, auch Expräsidentin Jeanine Áñez sowie Luis Fernando Camacho, den Anführer der Proteste gegen Morales von 2019 und Exgouverneur von Santa Cruz. Damit versuchte der Putschanführer, seinem von persönlichen Befindlichkeiten getriebenen Putschversuch einen politischen Inhalt zu geben und mögliche Verbündete zu gewinnen – jedoch gänzlich erfolglos.

Arce berief umgehend eine Pressekonferenz ein, in der er die Entlassung der drei Top-Militärs verkündete und ihre Amtsnachfolger vereidigte. Der neue Oberbefehlshaber befahl den Truppen, sich zurückzuziehen, was diese auch umgehend taten. Damit war der Putschversuch beendet. Später am Tag wurde General Zúñiga verhaftet; bis zum Folgetag wurden 16 weitere Personen festgenommen. Bei seiner Verhaftung gab Zúñiga an, im Auftrag Arces gehandelt zu haben. Dies befeuerte die ohnehin bereits aufkommenden Einordnungen des Putschversuchs als „Simulation“ und „Show“ der Regierung, wonach der General im Auftrag der Regierung einen unechten Putsch initiiert habe, damit Präsident Arce am Ende als erfolgreicher Verteidiger der Demokratie gegenüber umstürzlerischen Militärs dastehe und von den wirtschaftlichen Problemen des Landes ablenken könne. In dieser Einordnung sind sich die Oppositionsparteien und der Morales-nahe Flügel der Movimiento al Socialismo (MAS) einig.

Die komplette Einigkeit der politischen Klasse bezüglich der Verurteilung des Putschversuchs ist bemerkenswert.

Unabhängig von den Einschätzungen über die Beweggründe der Putschisten ist die komplette Einigkeit der politischen Klasse bezüglich der Verurteilung des Putschversuchs bemerkenswert. Sowohl die beiden Flügel der MAS als auch die gesamte Opposition, von der moderaten und zentristischen Opposition bis zur radikalen und rechtskonservativen Opposition, lehnen das Vorgehen der Militärs ab. Selbst die beiden Inhaftierten, Áñez und Camacho, die der General vermeintlich befreien wollte, verurteilten Zúñigas Vorgehen und riefen zur Verteidigung der Demokratie im Land auf. Soziale Bewegungen und der Gewerkschaftsdachverband mobilisierten. Auch international wurde der Putschversuch sofort verurteilt, selbst von den ideologisch nicht nahestehenden Regierungen in Argentinien, Peru und Ecuador. Dies dürfte zukünftige Putschversuche unwahrscheinlicher machen, da klar wurde, dass die Unterstützung für ein solches Vorgehen im In- wie im Ausland gering ist.

Letztlich hat der Putschversuch nur Verlierer hervorgebracht. Auch wenn Arce kurzfristig als Gewinner dastehen mag, haben die Geschehnisse die Schwäche der Regierung und den extremen Zerfall der Institutionen des Landes deutlich gemacht. Die Bevölkerung erwartet eine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme des Landes, für die die Regierung keine Antwort bietet. Stattdessen ist sie in nicht enden wollende politische Streitigkeiten verwickelt. Für einen Großteil der Bevölkerung ist auch der Putschversuch nur eine weitere Episode dieser politischen Auseinandersetzungen – insbesondere da sich die Debatte nun um gegenseitige Schuldzuweisungen dreht. Laut Regierung hat Präsident Arce einen antidemokratischen Putschversuch abgewendet, dessen Verantwortung vereinzelt auch seinem Widersacher Morales zugeschoben wird; laut dem Morales-Lager und der Opposition hat die Regierung den Putsch inszeniert, um von den eigentlichen Problemen des Landes abzulenken. Damit wird der eigentlich fürchterliche Versuch der Untergrabung der Demokratie durch das Militär banalisiert und, wie so viele andere Themen, Opfer der Polarisierung im Land. 

Am Ende bleibt die Ungewissheit über die tatsächlichen Hintergründe des Geschehens – sie fallen der politischen Auseinandersetzung zum Opfer. Der seltsame Verlauf des Putschversuchs, die Aussagen des Putschanführers nach seiner Verhaftung sowie das allgemeine Misstrauen in die Regierung und die staatlichen Institutionen befeuern den Verdacht bei einem großen Teil der Bevölkerung, dass es sich um eine Inszenierung durch die Regierung gehandelt habe, um von den Problemen des Landes und ihrer Unbeliebtheit abzulenken. Die bolivianische Demokratie steht vor großen Herausforderungen: Spaltung der Gesellschaft, Verschlechterung der Demokratie und des Vertrauens in die Institutionen sowie die ungelösten wirtschaftlichen Probleme. Wenngleich die Abwendung des dilettantischen Putschversuchs kurzfristig einen Sieg der Demokratie darstellt, sind in den nächsten Monaten bis zu den Wahlen 2025 große Anstrengungen nötig, um die Demokratie zu schützen und zu bewahren.