In El Salvador hat am Sonntag eine überwältigende Mehrheit für die verfassungswidrige Wiederwahl von Präsident Nayib Bukele gestimmt. Jedenfalls, wenn man dem Sieger Glauben schenkt, denn offizielle Ergebnisse lagen auch 24 Stunden nach Ende des Wahltags nicht vor. 85 Prozent, so verkündete ein ungeduldiger Bukele am Sonntagabend per X, hätten ihn gewählt. Überschattet wurde seine pompöse Siegesfeier allerdings von der Tatsache, dass das Wahlgericht keine Ergebnisse übermittelte. Irgendwann entschuldigten sich die Funktionäre mit Cyberattacken und Stromausfällen. Nun soll in dem Land, das ein Tech-Hub werden will und den Bitcoin legalisiert hat, per Hand nachgezählt werden. Ein Symptom für den desolaten Zustand hinter der offiziellen Glitzerfassade.

Bukeles Vize Felix Ulloa verkündete in einem Interview mit der New York Times, El Salvador werde die „Demokratie eliminieren und durch etwas Besseres“ ersetzen. Bukele wiederum sprach von der wahren Demokratie, die nun beginne. Wie die aussehen wird, davon konnte man sich am Wahltag schon ein Bild machen: Der Schriftsteller Carlos Bucio hatte sich auf einen Platz in der Hauptstadt gestellt und die Artikel der Verfassung zitiert, die eine Wiederwahl verbieten. Er wurde von Passanten ausgebuht und von der Polizei festgenommen.

El Salvador macht damit den Auftakt für das Superwahljahr 2024, in dem Hunderttausende Wählerinnen und Wähler weltweit vor einem ähnlichen Dilemma stehen: Der Demokratie entweder trotz ihrer ermüdend langsamen Entscheidungsprozesse und komplizierten Kontroll- und Gewaltenteilungsmechanismen eine Chance geben oder selbsternannten Erlösern Glauben schenken, die behaupten, in einer Welt voller Gewalt, Krisen und Konflikte seien Menschenrechte, Gewaltenteilung, Rechtsstaat, Umweltschutz und freie Presse nur Störfaktoren, die dem Wohlergehen ihrer Untertanen im Wege sind.

Für den Durchschnittseuropäer scheint es vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen offenkundig, welches die bessere politische Alternative ist. Bukeles Sieg zeigt aber, dass in anderen Weltgegenden nicht genauso gedacht wird, nicht einmal in Lateinamerika, dem Europa kulturell am nächsten stehenden Kontinent. Dort ist es einer Umfrage des Instituts Latinobarómetro zufolge 54 Prozent der Menschen egal, ob ihre Regierung autoritär oder demokratisch ist – solange sie die Probleme löst.

In Lateinamerika wird Bukele von vielen nicht als Diktator, sondern als Held gesehen.

In Lateinamerika wird Bukele von vielen deshalb nicht als Diktator, sondern als Held gesehen und auch Amtskollegen aus den Nachbarstaaten schielen bewundernd auf ihn. Dazu zählen neben der linken Regierung von Xiomara Castro in Honduras auch der Weltbank-Funktionär Rodrigo Chaves in Costa Rica oder der Unternehmersprössling Daniel Noboa, der in Ecuador regiert. Weil sie in dem 42-Jährigen ein politisches Erfolgsrezept sehen, um eines der größten strukturellen Probleme des Kontinents zu lösen und sich dadurch den Machterhalt zu sichern, haben sie einige seiner Maßnahmen, wie den Ausnahmezustand oder den Bau von Hochsicherheitsgefängnissen, kopiert.

Bukele hat auf dem gewalttätigsten Kontinent der Welt in der Tat etwas Außergewöhnliches erreicht: Die Mordrate sank innerhalb seiner fünfjährigen Amtszeit von 36 auf 2,4 pro 100 000 Einwohner. El Salvador, das 2015 noch als das mörderischste Land des Kontinents galt, wurde so zu einem der sichersten Länder der Region. Die Methoden sind jedoch mehr als fragwürdig: Hierzu zählt der seit zwei Jahren immer wieder und mittlerweile grundlos verlängerte Ausnahmezustand, der sämtliche Grundrechte aussetzt, der Aufbau eines Polizeistaats, in dem proportional zur Bevölkerung weltweit am meisten Menschen hinter Gittern sind, und die juristische Verfolgung (lawfare) von politischen Rivalen, kritischen Journalistinnen sowie Umweltschützern. Die Kooptation sämtlicher Institutionen hat zudem Vetternwirtschaft, Korruption und Intransparenz befeuert.

All diese Kritikpunkte bremst der Werbeexperte Bukele mit Hilfe seines schlagkräftigen PR-Teams, willfähriger Influencer in den sozialen Medien und mittels Trollfabriken aus. Sie richten die Scheinwerfer auf seine Erfolge – die Sicherheitspolitik – oder auf oberflächliche Ablenkungsmanöver wie die Miss-Universum-Veranstaltung, die Bitcoin-Einführung, die Eröffnung eines modernen Tierhospitals oder die Einweihung einer mit chinesischen Krediten erbauten Staatsbibliothek. Effizient war auch der Diskurs der Angst: Sollte er nicht an der Macht bleiben, so Bukele, würden seine Nachfolger die Kriminellen wieder freilassen, die er während seiner ersten Amtszeit hatte inhaftieren lassen.

Über die Hälfte der salvadorianischen Bevölkerung ist unter 30 Jahre alt. Die meisten konsumieren keine traditionellen Medien, sondern informieren sich in sozialen Medien. Diese sind jedoch dominiert von Bukeles PR-Maschine, befeuert von Bots, Trolls und Algorithmen. Gegenläufige Informationen finden dort nur wenig Echo: zum Beispiel, dass die extreme Armut in seiner ersten Amtszeit von 5,6 auf 8,7 Prozent anstieg, dass Bukele den Strukturfonds für die Provinzen aufgelöst hat und seitdem neben der Infrastruktur auch Gesundheit und Bildung am Boden liegen und dass er Steuergelder mit Bitcoin-Spekulationen verspielt. Zudem, dass plötzlich haufenweise Funktionäre und Vertraute Bukeles die staatliche Lotterie gewannen und andere sich plötzlich Luxusvillen bauten. Auch, dass der Staat privaten Auftragnehmern Millionen schuldet, seine Wiederwahl ein klarer Verfassungsbruch ist und dass seine Partei mit einer Neuaufteilung der Wahlkreise den Wahlausgang manipulierte.

Die Liste der Verstöße ist lang – einige davon dürften im Wahlbericht der Beobachter der EU und der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) auftauchen. Derartige Kritik ist zwar wichtig, aber sie dringt nicht durch. Bukele versteht es meisterlich, die Hoffnungen und den Stolz einer Bevölkerung zu manipulieren, die er aus dem Schatten des Weltgeschehens ins Rampenlicht befördert hat. Das macht ihn in den Augen einiger Staatschefs so attraktiv. Ihm ist es gelungen, ein Narrativ durchzusetzen, das mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat.

Die Politik der harten Hand gilt längst als traditionelle Antwort der Eliten auf das Gewaltproblem Lateinamerikas.

El Salvador ist nicht das erste Land der Region, das der totalitären Versuchung eines Caudillos, eines starken Mannes, erliegt. Lateinamerika hat seit der Unabhängigkeit von Spanien eine lange Tradition autoritärer Herrscher. Doch seit der Demokratisierung der Region in den 1990er Jahren genoss keiner so viel Rückhalt wie Bukele. Selbst in seiner Hochphase kam Hugo Chávez in Venezuela auf gerade einmal 62 Prozent der Stimmen, Daniel Ortega in Nicaragua musste sogar mit seinem Erzfeind, dem korrupten Liberalen Arnoldo Alemán für eine Wahlreform paktieren, damit 2006 auch 38 statt der zuvor erforderlichen 45 Prozent der Stimmen für seinen Sieg ausreichten. Und der Konservative Juan Orlando Hernández in Honduras wurde trotz zahlreicher Manipulationen und eines verdächtigen Computerabsturzes 2017 mit nur 42 Prozent der Stimmen wiedergewählt.

Im Gegensatz zu Bukele waren Chávez, Hernández und lange Zeit auch Ortega zumindest um den Anschein demokratischer Legitimität bemüht – auch wenn sie deren Grundlagen diskret unterhöhlten. Hierzu nutzten sie die klassischen Rezepte der Populisten: Plebiszite, populistische Sozialprogramme, die nur vorübergehend Linderung brachten statt struktureller Verbesserungen, Hetze gegen Kritiker, Rivalen und Intellektuelle, Schikanen für Nicht-Regierungs-Organisationen und Medien, Gleichschaltung des Staatsapparates, insbesondere der Justiz, sowie die Schwächung der Transparenz- und Kontrollmechanismen.

Bukele hingegen macht keinerlei Hehl aus seiner Verachtung für eine Demokratie, für die das Land einst einen hohen Blutzoll gezahlt hat: Im Bürgerkrieg starben zwischen 1980 und 1992 mehr als 75 000 Menschen. Getrieben von einem Geschichtsrevisionismus bezeichnete Bukele den 1992 geschlossenen Friedensvertrag jedoch als „Farce“, zerstörte erst kürzlich das Monument der Versöhnung und bezeichnete die Traditionsparteien als korrupte Kriegsgewinnler, die sich im Schatten ausländischer Mächte die Beute aufteilten. Mit wohlüberlegten Inszenierungen verschob Bukele die Grenzen des Sag- und Machbaren – und interpretierte damit die Geschichte neu.

Bereits 2020 marschierte er mit dem Militär ins Parlament ein, als dieses einen von ihm beantragten Kredit für Sicherheitsprojekte nicht schnell genug freigab. Damals hatten die Traditionsparteien dort noch die Mehrheit und waren angesichts des Tabubruchs sprachlos. Bukele rechtfertigte die Grenzüberschreitung jedoch vor seinen jubelnden Anhängern mit den wahren Interessen des Volkes, die vom Kongress missachtet würden. Das Militär habe sich diesmal auf die Seite des Volkes, nicht der Unterdrücker gestellt. Die symbolische Einnahme des Kongresses ebnete der Militarisierung des Landes den Weg, die 2022 in der Verhängung des Ausnahmezustandes gipfelte. Damit liefert Bukele das Drehbuch für autoritäre Nachahmer.

Die Politik der harten Hand gilt längst als traditionelle Antwort der Eliten auf das Gewaltproblem Lateinamerikas. Sie zeitigt kurzfristig Resultate und ermöglicht soziale Kontrolle. Aber sie hat dabei stets zu kurz gegriffen – auch in El Salvador. Denn sie geht nicht die Wurzel des Problems an: zum einen die mangelnde Rechtsstaatlichkeit, die von Eliten aus Eigennutz sabotiert wird; zum anderen die strukturelle Armut und Chancenungleichheit in Ländern, die noch immer in neokolonialen Schemata gefangen sind – sowohl aufgrund starrer hierarchischer Gesellschaftsstrukturen als auch aufgrund der ungerechten Wirtschaftsglobalisierung.

Bukeles Modell ist eine besonders erfolgreiche Neuauflage der Politik der harten Hand.

Bukeles Modell ist eine besonders erfolgreiche Neuauflage der Politik der harten Hand, weshalb er gerade unter Staatschefs viele Bewunderer zählt. So ohne weiteres übertragbar ist sein Modell jedoch nicht, wie erste Beispiele zeigen. So verhängte Honduras zwar den Ausnahmezustand, doch die Gewaltkriminalität ist kaum zurückgegangen. Das Land verfügt über deutlich weniger Sicherheitskräfte als El Salvador, die außerdem stärker vom Organisierten Verbrechen korrumpiert sind. Auch in Ecuador hat Präsident Noboa den Ausnahmezustand verhängt und das Militär auf die Straße geschickt. Noch ist es aber ein Modell „Bukele light“: Die Zivilgesellschaft ist deutlich kritischer und besser organisiert, außerdem haben die USA und auch die EU Soforthilfe zugesagt, um sich Einfluss auf den Gang der Dinge zu sichern.

Zudem steht Bukele jetzt vor schwierigen Herausforderungen, die seinen Glanz bald verblassen lassen könnten. Denn trotz der verbesserten Sicherheitslage fehlen Auslandsinvestitionen. Die Wirtschaft wuchs 2023 nur um 2,3 Prozent und damit weitaus weniger als in den mittelamerikanischen Nachbarländern. Gegenüber privaten Dienstleistern ist der salvadorianische Staat im Zahlungsverzug, die Staatsverschuldung beträgt 85 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Der Weltwährungsfonds knüpft neue Kredite jedoch an die Abschaffung des Bitcoins. Weiterhin lebt ein Drittel der Bevölkerung in Armut. Für El Salvador, ein Land von der Größe Hessens mit zehn Millionen Einwohnern, das T-Shirts, Zucker und Plastikverpackungen exportiert, beginnt nun ein Pfad ins Ungewisse.

Am Montagmorgen, nach Auszählung von 70 Prozent der abgegebenen Stimmen, kam Bukele auf 1,6 Millionen Wählerstimmen. Die Mehrheit der sechs Millionen Wahlberechtigten blieb also den Urnen fern. Das relativiert seine Popularität zwar, bestätigt aber auch eine bittere historische Lektion: Die schweigende Mehrheit zählt nicht, und wer sich bei Schicksalswahlen enthält, unterstützt indirekt den Favoriten.