Brasiliens neuer alter Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva hatte es so schön geplant: Drei Wochen nach seinem Amtsantritt sollte der Gipfel lateinamerikanischer und karibischer Staaten (CELAC) Ende Januar für ihn ein diplomatischer Paukenschlag werden und an alte Glanzzeiten der Linken anknüpfen. Fast so wie einst bei der Gründung der CELAC 2010 als Gegenmodell zur Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die als kolonialistisch und US-dominiert empfunden wurde. Insgesamt 33 Staaten traten der CELAC bei. In vielen waren damals erstmals linke Regierungen an der Macht. Politologen prägten den Begriff von der „rosaroten Welle“ – unter Anspielung auf die marxistischen Ideale vieler Regierungen voller ehemaliger Befreiungskämpfer, die einst gegen Diktaturen gekämpft hatten. Im Laufe der Jahre hatten sich jedoch ihre Positionen in der demokratischen Opposition verwässert und sich der Sozialdemokratie angenähert.
Das Pendel in der Region hatte damals nach links ausgeschlagen, weil die Bevölkerung nach zwei Jahrzehnten demokratisch gewählter, neoliberaler Regierungen mehr vom Wachstumskuchen abhaben wollte. Das schien auch zu funktionieren: Die meisten Regierungen schwammen in Geld dank dem von China ausgelösten Nachfrageboom auf den Rohstoff-Märkten, von Soja bis Öl. Es gab genug Geld zu verteilen, vielen Staatschefs gelang es so zumindest kurzzeitig die Armutsraten zu senken, was auch für Lob der UNO sorgte. Die CELAC war wie andere regionale Bündnisse ein Ausdruck des erstarkten Selbstbewusstseins einer Region.
Doch die CELAC blieb nur eine lose, unverbindliche Plattform der politischen Zusammenarbeit mit punktueller Koordination etwa bei Wissenschaft, Gesundheit und im Katastrophenschutz. Wichtige, aber kontroverse Themen wie Migration und Sicherheit wurden stiefmütterlich behandelt. Als der ideologische Wind in Lateinamerika drehte, verloren konservative und liberale Staatschefs das Interesse. 2018 kehrte Brasiliens rechtspopulistischer Expräsident Jair Bolsonaro dem Bündnis den Rücken, weil es seiner Meinung nach, eine internationale Plattform für sozialistische Diktaturen darstellte. Für viele Beobachter war dies der Todesstoß: „Ohne Brasilien, das zwei Drittel des regionalen Bruttoinlandsproduktes stellt, können praktisch keine sinnvollen lateinamerikaweiten Initiativen gedeihen“, schrieb etwa der brasilianische Politologe Oliver Stuenkel in Americas Quarterly.
Jetzt sollte es also ein Comeback geben. „Brasilien ist zurück“, feierte Lula beim Gipfelauftakt. Geopolitisch hat es eine gewisse Logik: Heute wird Lateinamerika erneut überwiegend von linken Präsidenten regiert – Mexiko und Kolumbien kamen erstmalig dazu. Liberal-konservative Regierungen finden sich hingegen nur noch in den kleinen Ländern Guatemala, Costa Rica, Panama, Ecuador, Uruguay und Paraguay. Doch jenseits der Ideologie ist die Realität heute eine andere. Die Länder Lateinamerikas wurden stark gebeutelt von den Folgen der Covid-19-Pandemie, leiden unter Inflation, Lieferkettenengpässen und Arbeitslosigkeit. Die Nachfrage nach lateinamerikanischen Rohstoffen ist zwar hoch, aber man ist von Rekordpreisen wie 2008 weit entfernt, als das Fass Rohöl bis zu 130 US-Dollar kostete. Derzeit sind es gerade einmal um die 80 US-Dollar.
Entsprechend fehlt in der Bevölkerung die Euphorie, die noch die erste rosarote Welle trug.
Weil das Geld im damaligen Rohstoffboom vor allem aus wahltaktischen Gründen für klientelistische Sozialprogramme ausgegeben wurde, steht in den meisten Ländern Lateinamerikas die Bevölkerung heute schlechter da als je zuvor. Es gibt weniger zu verteilen und mehr Münder zu stopfen: Die Bevölkerung wuchs von 588 Millionen im Jahr 2010 auf heute 655 Millionen. Die Staatsfinanzen sind durch Pandemie, Inflation und Verschuldung in Schieflage geraten, und die Armutsrate der Region stieg im vergangenen Jahr auf 32 Prozent, wie die UN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika ermittelt hat.
Entsprechend fehlt in der Bevölkerung die Euphorie, die noch die erste rosarote Welle trug. Entsprechend gereizt sind auch die Wählerinnen und Wähler und entsprechend instabil ist die politische Lage in einer Region, die seit 2019 von Kuba bis Chile periodisch von anhaltenden Protestkundgebungen erschüttert wird. Die einstige Aura der volksnahen, unbefleckten Erlöser der Linkspolitiker ist zudem durch zahlreiche Korruptionsaffären in den linken Regierungen vom Rio Bravo bis Feuerland angekratzt. Hinzu kommen rechtsextrem-libertäre Gruppen, die auch politisch destabilisierende Gewalt ausüben, wie zuletzt beim Sturm auf die Regierungsgebäude von Brasilia. Heute sitzen alle Regierungen in Lateinamerika auf einem Pulverfass.
Den raueren Wind bekamen auch die beiden treibenden Politiker hinter der CELAC-Wiederbelebung zu spüren. „Lula“ hatte gerade erst einen Umsturzversuch überstanden, der verdeutlichte, wie sehr Brasilien gespalten ist und auf welch dünnem Eis seine Macht fußt. Der linksperonistische Gastgeber des Gipfels, Alberto Fernández, kämpft neun Monate vor der Wahl mit Inflation, Staatsverschuldung, miesen Umfragen und seiner eigenen Vizepräsidentin Cristina Kirchner, die nach links driftet und Fernández’ Wählerbasis erodieren lässt. Von innenpolitischen Sorgen geplagt, sollte der Gipfel für ihn ein Befreiungsschlag auf diplomatischem Parkett werden.
Doch dieser blieb insgesamt sehr vage. Die 111 Punkte der Abschlusserklärung verlieren sich in Redensarten und Floskeln. Immerhin konnten die ökologisch-feministischen Regierungen in Kolumbien und Chile bewirken, dass den Themen Umwelt- und Klimaschutz sowie Indigene, Schwarze und ethnische Minderheiten ausführlich Raum gegeben wurde. Doch bei Demokratie und Menschenrechten wurde klar, wie gespalten Lateinamerikas Linke ist. Auf der einen Seite eine autoritär-populistische Linke, deren Mentalität vom Lagerdenken des Kalten Kriegs dominiert wird, und auf der anderen Seite eine moderne, ökologische, feministische, plural-demokratische Gruppe. Chiles progressiver Präsident Gabriel Boric gehört zum zweiten Lager und zog in seiner Rede klar die rote Linie: „Die Demokratie muss respektiert werden, insbesondere wenn diejenigen, mit denen ich nicht einverstanden bin, in freien Wahlen gewinnen. Und Menschenrechte sind zivilisatorische Errungenschaften, die unabhängig von der jeweiligen politischen Partei an der Macht geachtet werden müssen.“ Doch das ist nicht mehr konsensfähig in Lateinamerika.
Heute sitzen alle Regierungen in Lateinamerika auf einem Pulverfass.
„Lateinamerika ist institutionell bankrott“, sagte Ignacio Bartesaghi, Experte für internationale Beziehungen der Katholischen Universität von Uruguay. Länder wie Paraguay und Venezuela hätten noch nicht einmal bilaterale Beziehungen. Guatemala trägt dem kolumbianischen Verteidigungsminister dessen Rolle in der UN-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala nach. Und Ecuador grollt Argentinien, weil das Land mehreren ehemaligen wegen Korruption verfolgten Funktionären Asyl gibt. Offen zutage traten die Differenzen auch am Beispiel Peru. Das Land versinkt in Chaos seit dem versuchten Selbstputsch und der darauffolgenden Absetzung des linken Präsidenten Pedro Castillo. Die Nachfolge trat verfassungsgemäß seine (ebenfalls linke) Vizepräsidentin an, die jedoch mit harter Hand und mit Rückhalt der rechten Parteien regiert.
Die politische Bewertung des Vorgefallenen klafft in Lateinamerika derart auseinander, dass das Thema von der Schlusserklärung ausgeklammert wurde. Die meisten Länder der Region sind zwar den USA und Europa gefolgt und erkennen Dina Boluarte als rechtmäßige Interims-Staatschefin an, aber Bolivien, Mexiko und Venezuela beispielsweise halten an (dem mittlerweile inhaftierten) Castillo als legitimem Staatschef fest. Für Gastgeber Fernández war das eine schwierige Gratwanderung. Als Boric beispielsweise die Freilassung politischer Gefangener in Nicaragua forderte, beschwerte sich Machthaber Daniel Ortega bei Fernández, dass dieser neben China und der Europäischen Union auch die USA als Beobachter eingeladen habe.
Was bleibt, ist das Bild von einem Kontinent, der immer weiter auseinanderdriftet. Das eröffnet besonders in Südamerika aber auch das Feld für neue Spieler. Der Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz letzte Woche in Chile, Argentinien und Brasilien kam deshalb genau zum richtigen Zeitpunkt. Ohne die Ressourcen Lateinamerikas dürfte die Energiewende in Europa kaum zu stemmen sein. Doch China hat die besseren Karten und pokert hoch. So befindet sich Peking in Freihandelsgesprächen mit Uruguay, was den Gemeinsamen Südamerikanischen Markt (Mercosur) an den Rand des Zerbrechens bringt. Für die EU wäre das dramatisch, hat sie doch all ihre diplomatische Energie der letzten 20 Jahre auf ein Freihandelsabkommen mit dem Mercosur gesetzt.
Die Bundesregierung hat Lateinamerika in den vergangenen 15 Jahren vernachlässigt, ist spät ins Rennen um die Rohstoffe der Zukunft eingestiegen und bewegt sich nun in einer instabilen, politisch gespaltenen Region auf Glatteis. Die alten Rezepte funktionieren nicht mehr. Deshalb müssen diplomatisch andere Wege in Lateinamerika eingeschlagen und neue, attraktive Angebote gemacht werden. Das wäre zum Beispiel, einen Teil der Wertschöpfungskette nach Lateinamerika zu verlegen, etwa beim Lithium – ein strategisch wichtiges Thema für alle betroffenen Regierungen.
Ein anderer Ansatz können Allianzen mit Schlüsselsektoren sein, zum Beispiel mit Soja- und Rinderbaronen in Brasilien. Diese leiden bereits jetzt unter Produktionseinbußen durch Dürren, die durch die Amazonas-Abholzung noch verstärkt werden. Das agroindustrielle Modell hat zudem enorme Probleme mit Unkrautresistenzen, die einen viel zu hohen Pestizid- und Düngemitteleinsatz erfordern. Schon jetzt gibt es Bauernverbände, die nach alternativen Anbaumethoden suchen und entsprechende Beratung und alternative Absatzmärkte zu China brauchen.
In manchen Amazonas-Bundesstaaten gibt es Regierungen und Unternehmergruppen, die sich der Bioökonomie in Agroforsten widmen und versuchen nachhaltige Lieferketten aufzubauen, die gefördert werden können. Mit solchen Allianzen auf dem Niveau der Zivilgesellschaft kann man Beziehungen und Lieferketten resistenter machen von politischen Unwägbarkeiten. Von Patentrezepten muss man sich allerdings verabschieden. Es wird viel Kreativität, viel Arbeit und diplomatisches Fingerspitzengefühl vonnöten sein, um auf dem EU-CELAC-Gipfel kommenden Juli konkrete Ergebnisse zu erzielen.