Zum ersten Mal seit der Demokratisierung Brasiliens Ende der 1980er Jahre geht es bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober nicht nur darum, wer die meisten Stimmen erhält. Weniger als einen Monat vor der ersten Runde steht vielmehr die Frage im Raum, was passiert, wenn der aktuelle Präsident, Jair Bolsonaro, die Wahlen verliert, das Ergebnis aber nicht anerkennt. Nach dem jetzigen Stand wäre alles andere eine Überraschung: Bolsonaro liegt in den Umfragen seit Monaten deutlich hinter Luiz Inácio da Silva, besser bekannt als „Lula“, der das Land von 2003 bis 2010 regiert hat. In einer stark polarisierten Gesellschaft ist die Zahl der Wählerinnen und Wähler, die sich noch nicht entschieden haben, gering. Von Tag zu Tag wird es unwahrscheinlicher, dass der Präsident seinen Rückstand noch aufholen kann.

Dass Bolsonaro seine wahrscheinliche Niederlage anerkennen wird und Lula am 1. Januar 2023 die Präsidentenschärpe übergibt, kann man allerdings nahezu ausschließen. Seit Jahren verbreitet der Präsident Fake News über Brasiliens elektronische Wahlurnen, wonach die Ergebnisse gefälscht werden könnten, ohne jedoch konkrete Beweise vorgelegt zu haben. Selbst das offizielle Ergebnis der Wahlen 2018, so Bolsonaro, sei gefälscht worden, da er rechtmäßig schon im ersten Wahldurchgang und nicht erst in der Stichwahl hätte gewinnen müssen. Auf einer Wahlveranstaltung verlautete Bolsonaro kürzlich vor seinen Anhängern, als Ergebnis der Wahl gebe es für ihn nur die drei Möglichkeiten: „Gefängnis, Tod oder Sieg“.

Bolsonaro hat seine Regierung militarisiert: mehr als 6 000 Militärs bekleiden Posten in den Ministerien.

Sollte Lula also tatsächlich die Wahlen gewinnen (Umfragen deuten darauf hin, dass dies im zweiten Durchgang am 30. Oktober der Fall sein wird) und Bolsonaro das Ergebnis nicht anerkennen, gibt es drei mögliche Szenarien. Im besten Falle könnte der Präsident sich weigern, Lula zu gratulieren, und Lulas Amtseinführung am 1. Januar fernbleiben, ohne eine politische Krise auszulösen. Das zweite Szenario wäre ein brasilianischer „6. Januar“, an dem bewaffnete Bolsonaro-Anhänger versuchen könnten, den Obersten Gerichtshof oder den Obersten Wahlgerichtshof zu stürmen, ohne aber letztendlich den Machtwechsel verhindern zu können. Im dritten und am meisten gefürchteten Szenario würden Brasiliens Generäle signalisieren, dass sie Bolsonaros Anfechtung des Ergebnisses unterstützen und eine parallele und nicht-offizielle Auszählung durchführen.

Brasiliens Verteidigungsminister, General Paulo Sérgio Nogueira, hat in den letzten Wochen immer wieder die Militärs als eine Kontrollinstanz der Wahlen ins Spiel gebracht, eine Interpretation ohne jeglichen rechtlichen Rückhalt. Zudem haben die Militärs längst ihre neutrale politische Rolle aufgegeben. Wie kein anderer Präsident seit der Demokratisierung Brasiliens hat Bolsonaro, der gern von „meinen Streitkräften“ spricht, seine Regierung militarisiert: mehr als 6 000 Militärs bekleiden Posten in den Ministerien, und zahlreiche Entscheidungsträger – unter anderem sein Vizepräsident und mehrere Minister – sind Generäle. Die Situation hat Luiz Roberto Barroso, ein Richter am Obersten Gerichtshof, dazu veranlasst, Parallelen zu Venezuela zu ziehen, wo die Streitkräfte ebenfalls politische Schlüsselpositionen einnahmen, und nüchtern festzustellen, dass die brasilianische Regierung eine „Chávezisierung“ erlebe.

Aus Bolsonaros Sicht sind die Lehren des 6. Januars klar: Trump vermochte es nicht, an der Macht zu bleiben, weil er nicht die Unterstützung des Militärs hatte.

Die Versuche des brasilianischen Präsidenten, das Militär auf seine Seite zu bringen, verwundern nicht. Nachdem Trump-Anhänger am 6. Januar 2021 das Kapitol in der amerikanischen Hauptstadt gestürmt hatten, aber letztendlich den Machtwechsel nicht zu verhindern wussten, ließ sich Bolsonaros Sohn Eduardo, damals Vorsitzender des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten des Abgeordnetenhauses, zu einer schockierenden Äußerung hinreißen: Wenn Trumps Unterstützer „besser organisiert gewesen wären, hätten sie das Kapitol einnehmen und konkrete Forderungen stellen können“. „Mit mehr Waffengewalt“, fügte er hinzu, hätten die Randalierer „die Polizei und all die Kongressabgeordneten, die sie hassen, töten können“. Aus Bolsonaros Sicht sind die Lehren des 6. Januars klar: Trump vermochte es nicht, an der Macht zu bleiben, weil er nicht die Unterstützung des Militärs hatte. Das Video einer Rede von US-Generalstabschef Mark Milley, der kurz nach der Wahl im November 2020 sagte, dass die Militärs „einen Eid auf die Verfassung leisten, nicht auf einen Diktator“, wurde in Brasiliens sozialen Medien tausendfach gesehen und geteilt. Dieses demokratische Grundverständnis – so kommentierten viele – hätten Brasiliens Militärs, von denen heute noch viele den Militärputsch von 1964 schönreden, leider nicht.

Es ist schwierig, die Reaktion des Militärs und der Militärpolizei auf eine Anfechtung des Wahlergebnisses von Bolsonaro vorherzusagen. So könnte Bolsonaro aufgrund von Protesten von Anhängern des Präsidenten und Zusammenstößen mit Lula-Anhängern nach der Wahl die sogenannte „Garantie für Recht und Ordnung“ ausrufen und die Armee dazu verpflichten, einzugreifen. Nicht alle Mitglieder der Streitkräfte unterstützen Bolsonaro und diejenigen, die öffentliche Erklärungen abgeben, repräsentieren nicht unbedingt die Mehrheit der Generäle. So traten die Chefs der brasilianischen Armee, Marine und Luftwaffe im März des vergangenen Jahres aus Protest zurück, nachdem Bolsonaro seinen Verteidigungsminister, General Fernando Azevedo e Silva, unvermittelt entlassen hatte. Diese Entscheidung Bolsonaros wurde weitgehend als Versuch des Präsidenten angesehen, sich mit Loyalisten zu umgeben.

Für die Streitkräfte würde die Niederlage Bolsonaros einen Verlust politischer Macht und vieler finanzieller Vorteile bedeuten.

Für die Streitkräfte würde die Niederlage Bolsonaros einen Verlust politischer Macht und vieler finanzieller Vorteile bedeuten. Schließlich erhalten die unzähligen Militärs, die derzeit politische Ämter in der Bolsonaro-Regierung oder in staatlichen Unternehmen bekleiden, häufig mehrere Gehälter. Der brasilianische Bundesrechnungshof zeigte kürzlich, dass mehr als 2 300 Militärs öffentliche Posten irregulär bekleiden, weil sie entweder zu viele Gehälter einnehmen oder weil sie für ihre Aufgaben nicht ausreichend qualifiziert sind. Hinzu kommt, dass viele Generäle und Soldaten Lulas Arbeiterpartei sehr kritisch gegenüberstehen. Lula hatte die zivile Kontrolle über die Militärs gefestigt, indem er Nelson Jobim, einen einflussreichen Politiker, im Jahre 2007 zum Verteidigungsminister ernannte – acht Jahre nachdem Präsident Fernando Henrique Cardoso dieses Ministerium ins Leben gerufen und damit den Einfluss der Generäle in seinem Kabinett reduziert hatte.  

Hinzu kommt, dass die Regierungen der Arbeiterpartei die Nationale Wahrheitskommission gebildet hatten, die – obwohl sie nur Symbolcharakter hatte – ein kritisches Licht auf die Rolle der Armee während der Diktatur warf und von den Militärs als eine Verletzung der Amnestie interpretiert wurde. Nicht einmal die Tatsache, dass die größten Militärausgaben in der Geschichte Brasiliens unter Regierungen der Arbeiterpartei verabschiedet wurden – darunter der Kauf von Hubschraubern, Kampfflugzeugen und U-Booten aus Frankreich –, hielt zahlreiche Militärs davon ab, Bolsonaros radikale Anti-Lula-Haltung enthusiastisch zu unterstützen. Symbolisch steht hier der berüchtigte Tweet des ehemaligen Armeechefs Villas Bôas aus dem Jahr 2018, in dem er mit einem Eingreifen des Militärs drohte, sollte der Oberste Gerichtshof beschließen, Lulas Gefängnisstrafe auszusetzen. Vier Jahre später, nachdem die Gerichte die Korruptionsprozesse gegen Lula für ungültig erklärt hatten und ihm den Weg zurück in die Politik ebneten, steht Lula vor der Rückkehr in den Präsidentschaftspalast – wenn Brasiliens Generäle nicht Bolsonaros autoritäre Ambitionen unterstützen.