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„Bestien“ und „Horden“ gegen „Faschisten“ und „Putschisten“ – so lässt sich zugespitzt der derzeitige politische Diskurs in Bolivien zusammenfassen. Mit den Protesten und Ausschreitungen, die Ende 2019 zum Rücktritt von Ex-Präsident Evo Morales geführt haben, sind tiefe Spannungen zwischen seinen Anhängern und Widersachern deutlich zutage getreten. Sie spiegeln die tiefen gesellschaftlichen Gräben ethnisch-kultureller und regionaler Prägung wider. Diese haben sich seither nur noch weiter vertieft.

Die verschiedenen Seiten stehen sich aber nicht nur in der öffentlichen Debatte in einer Freund-Feind-Logik gegenüber, sondern auch in der täglichen Politik. Übergangspräsidentin Jeanine Áñez, erbitterte Widersacherin von Morales, versucht erst gar nicht, die Spannungen abzubauen, sie heizt sie gar noch weiter an. Anhänger von Morales' Partei, Movimiento al Socialismo (MAS), werden von den Sicherheitskräften verfolgt und eingeschüchtert. Áñez warnt vor der Rückkehr der „Wilden“ an die Macht, folgerichtig hat ihre Übergangsregierung mehrere juristisch Verfahren eingeleitet, um die MAS von den Wahlen auszuschließen.

Zugleich hält die MAS jedoch weiter die Zweidrittelmehrheit im Parlament. Da die Übergangspräsidentin auch Präsidentschaftskandidatin in den bevorstehenden Wahlen ist, will die MAS ihr keine Erfolge gönnen, die ihr im Wahlkampf nutzen könnten. Daher findet kaum eine Koordinierung zwischen Legislative und Exekutive statt. Vorhaben der Regierung werden vom Parlament blockiert, vom Parlament erlassene Gesetze werden von der Regierung nicht umgesetzt.

Das Gesundheitssystem Boliviens ist in der Corona-Pandemie weitgehend kollabiert. Viele Personen mit Infektionsverdacht können sich aufgrund fehlender Testmaterialien nicht testen lassen. Kranke erhalten keine medizinische Betreuung.

Entsprechend gering ist der Spielraum, den die Regierung bei der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie hat. Dazu kommt ihr ausgeprägter Unwille, sich mit anderen politischen und gesellschaftlichen Akteuren sowie den substaatlichen Regierungsebenen zu koordinieren oder Abkommen zu suchen. Dabei wären sie dringend nötig, hat die Regierung doch ausgemachte Legitimitätsprobleme; Áñez‘ Partei gewann bei den annullierten Wahlen im Oktober 2019 lediglich vier Prozent der Stimmen. Mehrere Korruptionsfälle beim Kauf von Beatmungsgeräten haben die Unterstützung für ihre Regierung weiter verringert.

Das Gesundheitssystem Boliviens ist in der Corona-Pandemie weitgehend kollabiert. Viele Personen mit Infektionsverdacht können sich aufgrund fehlender Testmaterialien nicht testen lassen. Kranke erhalten keine medizinische Betreuung. Viele verabreichen sich daher selbst Medikamente oder traditionelle Hausmittel. Angehörige der oftmals zu Hause Verstorbenen haben Schwierigkeiten, die Toten begraben oder einäschern zu lassen, da auch die Kapazitätsgrenzen von Friedhöfen und Krematorien überschritten sind.

Die offiziellen Zahlen spiegeln dies nicht wider: Ein Artikel der New York Times konstatierte, dass die Zahl der tatsächlich Verstorbenen in Bolivien etwa fünf Mal höher sei als die offiziellen Zahlen es ausweisen. All das hat zu einem Einbruch des Vertrauens in das Gesundheitssystem und die wissenschaftliche Medizin geführt. Eine dramatische Folge ist der weitverbreitete Konsum des Desinfektions- und Bleichmittels Chlordioxid zur Prävention und Behandlung von Covid-19. Chlordioxid ist nicht für den menschlichen Konsum geeignet und hat keinerlei medizinischen Nutzen, kann aber zu Organversagen und Tod führen. Das Parlament hat in einem Akt großer politischer Verantwortungslosigkeit oder Ignoranz sogar ein Gesetz zur Autorisierung und Kommerzialisierung dieses Mittels zur Behandlung von Covid-19 erlassen.

Die MAS hat zuletzt an Unterstützung eingebüßt, stellt jedoch weiterhin die stärkste politische Kraft des Landes dar. Das Anti-MAS-Lager hingegen ist unter Áñez‘ Präsidentschaft zerbrochen.

Vor dem Hintergrund dieser ernsten Gesundheitskrise spielt sich die Auseinandersetzung um die Neuwahlen ab. Diese sind unerlässlich, um einen ersten Schritt auf dem Weg aus den verschiedenen tiefen Krisen des Landes zu machen. Der ursprüngliche Termin im Mai 2020 wurde aufgrund des hohen Infektionsrisikos bereits drei Mal verschoben, zuletzt auf den 18. Oktober.

Die zwei aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten sind der ehemalige MAS-Wirtschaftsminister Luis Arce und Ex-Präsident Carlos Mesa, Zweitplatzierter bei den Wahlen 2019. Die MAS hat zuletzt an Unterstützung eingebüßt, stellt jedoch weiterhin die stärkste politische Kraft des Landes dar. Das Anti-MAS-Lager hingegen ist unter Áñez‘ Präsidentschaft zerbrochen. Es gibt nun drei Gruppen, die das gemeinsame Ziel eint, die Rückkehr der MAS an die Macht zu verhindern, die aber unterschiedliche Wählergruppen ansprechen und sich untereinander bekämpfen.

Carlos Mesa ist ein Intellektueller, der die politische Mitte und die gebildeten urbanen Mittelschichten vertritt. Er setzt auf Dialog und Annäherung und lehnt Áñez‘ autoritäre Anwandlungen ab, ist aber im östlichen Tiefland um Santa Cruz äußerst unbeliebt. Dort genießen Jeanine Áñez und der Protestführer Luis Fernando Camacho große Beliebtheit. Diese beiden konkurrieren jedoch um die gleiche konservative und religiöse Wählerbasis und repräsentieren die Interessen der traditionellen Eliten und des Agro-Business.

Ungeachtet dessen steckt die MAS in einer Krise. Erbittert gerungen wird um die Rolle und die Zukunft von Evo Morales. Während einige Strömungen ihn weiterhin als tonangebende Figur behalten wollen, entwerfen andere bereits Pläne für eine MAS ohne Morales.

Aufgrund der Stärke der MAS bestehen die einzigen Aussichten auf einen Sieg für diese drei Kandidaten darin, in die zweite Runde einzuziehen und in dieser alle Anti-MAS-Stimmen auf sich zu vereinen. Áñez und Camacho werden jedoch kaum Chancen eingeräumt, die zweite Runde zu erreichen. Zwar ist die Bildung von Allianzen noch vor den Wahlen nicht ausgeschlossen, dennoch ist trotz ihrer aussichtslosen Situationen der Anreiz, eine Kandidatur niederzulegen, sehr gering. Ein solcher Schritt verringert die Aussichten auf den Gewinn von Parlamentssitzen. Damit ist es wahrscheinlich, dass es zu einem ähnlichen Szenario wie im Oktober 2019 kommt: ein knappes Ergebnis zwischen dem Kandidaten der MAS und Carlos Mesa.

Ungeachtet dessen steckt die MAS in einer Krise. Einerseits entzweit die Partei die Frage um die Führungsrolle und die Zukunft von Evo Morales. Während einige Strömungen ihn weiterhin als tonangebende Figur behalten wollen, entwerfen andere bereits Pläne für eine MAS ohne Morales. Dabei hilft ihm nicht, dass kürzlich seine Beziehung mit einer 19-Jährigen bekannt wurde, die angeblich bereits begann, als die junge Frau noch minderjährig war. Die gesellschaftliche Empörung darüber ist groß.

Seine politischen Widersacher werfen Morales in medial omnipräsenten Anklagen sexuellen Missbrauch Minderjähriger sowie Pädophilie vor. Dabei scheint es einigen mehr um die Schädigung eines politischen Gegners als um das Wohl des Opfers zu gehen, was sich an der Veröffentlichung zahlreicher Fotos ohne Anonymisierung des Opfers, ausführlichen Berichten über ihr Privatleben und einer Diffamierungskampagne gegen ihre Familie zeigt.

Andererseits ist die einst enge Beziehung der MAS mit dem Gewerkschaftsdachverband COB und den eigenen Basisorganisationen angespannt. Diese protestierten landesweit gegen die letzte Verschiebung des Wahltermins und aufgrund der großen Unzufriedenheit mit der Übergangsregierung. Letztlich mussten sie allerdings – nach langen Vermittlungsbemühungen und persönlicher Intervention von Morales – ihre Forderungen aufgeben und die Proteste ohne vorzeigbare Erfolge beenden.

Die sozialen Bewegungen und der MAS bildeten früher gewissenmaßen eine funktionelle Einheit. Zuletzt haben sich die sozialen Bewegungen lange der Position der Partei widersetzt und die Parteieliten öffentlich als Verräter bezeichnet.

Morales akzeptierte ebenso wie Präsidentschaftskandidat Arce die Verschiebung des Termins. Er fürchtete, dass andernfalls infolge der durch die Proteste und Blockaden erzeugten gesellschaftlichen Instabilität der gesamte Wahlprozess kollabieren könnte. In der Folge kam es zu ernsten Verwerfungen zwischen den sozialen Bewegungen und der MAS. Während diese früher gewissenmaßen eine funktionelle Einheit darstellten, haben die sozialen Bewegungen sich diesmal lange der Position der Partei widersetzt und die Parteieliten anschließend öffentlich als Verräter bezeichnet.

Wenngleich der Wahltermin des 18. Oktobers nun sicher ist, bestehen weiterhin zahlreiche Risiken: eine aufgrund der Pandemie geringe Wahlbeteiligung; Wahllokale, die wegen fehlender Wahlhelfer nicht öffnen können; Probleme bei der Übertragung der Ergebnisse am Wahlabend, um nur einige zu nennen. Diese Risiken könnten zu Problemen bei der Anerkennung des Ergebnisses führen. Letztlich wird die unterlegene Seite immer Gründe dafür finden, das Ergebnis anzufechten und die eigenen Anhänger zu Protesten aufzurufen. Das Risiko hierfür wird unabhängig vom Ausgang der Wahlen als hoch eingeschätzt. In allen Szenarien wird ein großes Potential für Gewaltausschreitungen rund um die Wahlen gesehen.

Eine weitere Herausforderung nach den Wahlen wird es sein, ein Mindestmaß an Regierbarkeit sicherzustellen. Voraussichtlich wird es erstmals seit vielen Jahren im neuen Parlament keine klaren Mehrheiten geben. Daher werden die derzeit verfeindeten Seiten ein Auskommen finden müssen. Eine formelle Regierungskoalition ist unwahrscheinlich. Zu erwarten sind eher punktuelle Abkommen zu konkreten Gesetzesvorhaben, die zwischen den verschiedenen Parteien ausgehandelt werden müssen.

Die Unwägbarkeiten und Risiken rund um den Wahlprozess sowie die Herausforderungen für die Regierbarkeit des Landes sind letztlich eine Folge der schwachen Institutionen des Landes sowie der caudillo-Kultur. Ebenso sind sie ein Ausdruck der tiefen gesellschaftlichen Gräben, die während der wirtschaftlichen Boom-Jahre überdeckt werden konnten und die nun mit voller Wucht wieder zum Vorschein kommen.