In den acht Jahren seiner Vizepräsidentschaft fungierte Jo Biden als wichtigster Emissär der Vereinigten Staaten in Lateinamerika und der Karibik. Insgesamt reiste er sechzehnmal in die Region. Zu einer Art Krönung geriet im Dezember 2016 seine letzte Reise in die kolumbianische Stadt Cartagena: Biden gratulierte dem kolumbianischen Präsidenten Juan Manuel Santos zu seinem unter großen Anstrengungen erlangten Friedensabkommen mit der marxistisch-leninistischen Guerillabewegung FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens).

In Cartagena hätte Biden einigen Grund gehabt, mit Optimismus in die Zukunft der Region zu blicken. Das kolumbianische Friedensabkommen hatte einen Schlussstrich unter den weltweit längsten Bürgerkrieg gezogen, die historische Öffnung der USA gegenüber Kuba den Kalten Krieg in Lateinamerika beendet und das verknöcherte kubanische Regime erschüttert. Sogar im „Nördlichen Dreieck“ Mittelamerikas (den Staaten Guatemala, Honduras und El Salvador), in dem die Migrationskrise 2014 ihren Anfang genommen hatte, war es Biden gelungen, eine vielversprechende Strategie gegen die Fluchtursachen Gewalt, Armut und Behördenversagen zu entwickeln.

Doch am Horizont zeichnete sich bereits das nächste Ungemach ab. Die lateinamerikanischen Volkswirtschaften stagnierten, die Unzufriedenheit mit der Demokratie nahm zu. In seinem Treffen mit Santos äußerte Biden seine Sorge über die politische Polarisierung, die das Friedensabkommen und die erneute Zunahme des Drogenhandels begleitete. Bald erschütterten große Korruptionsskandale die Region und verstärkten den Unmut im Volk. Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten erweiterte die Grenzen des politisch Möglichen, und so dauerte es nicht lange, bis die Anti-Establishment-Welle auch Lateinamerika erfasste und 2018 in Brasilien und Mexiko nationalistische Populisten an die Macht schwemmte. Im Jahr darauf breiteten sich soziale Proteste aus, sogar in Ländern wie Chile, Kolumbien und Peru, die als vergleichsweise stabil gegolten hatten.

Joe Biden wird es mit einem Lateinamerika zu tun haben, das von politischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krisen erschüttert wird, vom Erbe der Regierung Trump einmal ganz zu schweigen.

Dann schlug die Pandemie zu. Lateinamerikanische Länder mit ihrem geringen Wachstum, großer Ungleichheit und schwachen Sozialverträgen traf das neue Coronavirus besonders brutal. In der Region schrumpft die Wirtschaft derzeit stärker als in jeder anderen außerhalb der Eurozone. Jobverlust und Hunger greifen um sich. Zwei Jahrzehnte Fortschritte im Kampf gegen die Armut könnten zunichte gemacht werden. Wie die Erfahrungen aus der Geschichte befürchten lassen, dürften die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie politische Unruhen, Proteste in der Bevölkerung und eine Schwächung der Demokratie auslösen.

Der künftige Präsident Biden bringt, was die Beziehungen zwischen Nord- und Südamerika angeht, einen größeren Erfahrungsschatz mit ins Oval Office als jeder seiner Vorgänger in jüngerer Zeit. Doch er wird es auch mit einem Lateinamerika zu tun haben, das von politischen, wirtschaftlichen und gesundheitlichen Krisen erschüttert wird, vom Erbe der Regierung Trump und ihrem erratischen und politisch motivierten Engagement ganz zu schweigen. Die Regierung Biden wird mit allem rechnen und sich auf alle Eventualitäten einrichten müssen, seien es Migrationsströme, Naturkatastrophen oder Verfassungskrisen. Gleichzeitig bietet sich Biden die Chance, die Grundlagen für eine neue politische Vision zu legen, die die strategische Bedeutung Lateinamerikas und der Karibik anerkennt und nutzt.

Viele Menschen in Lateinamerika haben Bidens Wahl unterstützt, nachdem sie von der Regierung Trump beleidigt, schikaniert und für Wahlkampfzwecke instrumentalisiert worden waren. Biden hatte Trump vorgeworfen, die Führungsrolle der USA aufgegeben zu haben, und eine Rückkehr zu gemeinsamer Verantwortung, gegenseitigem Respekt und Partnerschaft angemahnt. Seine Ablehnung von Trumps „America first“-Ideologie und sein Versprechen, das multilaterale System wiederzubeleben, wird in der Region großen Anklang finden. Bidens Erfolgsgeschichte in Lateinamerika und der Karibik – und der schlichte Umstand, dass er nicht Donald Trump ist – wie auch die leisen Töne seines designierten Außenministers Antony Blinken werden die Führungsrolle der USA in der Region wieder stärken.

Nicht ganz Lateinamerika ist erleichtert über Trumps Abwahl. Nicht wenige Regierungen wussten Trumps passive Haltung gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Umwelt durchaus zu schätzen.

Doch nicht ganz Lateinamerika ist erleichtert über Trumps Abwahl. Nicht wenige Regierungen in der Region wussten Trumps transaktionalen Politikstil und seine passive Haltung gegenüber Rechtsstaatlichkeit und Umwelt durchaus zu schätzen. Zu ihnen zählt nicht nur Trumps ideologischer Bettgenosse Präsident Jair Bolsonaro aus Brasilien, sondern auch der linke mexikanische Staatschef André Manuel López Obrador; beide brauchten Wochen, bis sie Bidens Sieg anerkannten. Die Vorbehalte solcher Politiker sind nicht schwer zu erklären. Biden hat eine Außenpolitik angekündigt, die von amerikanischen Werten wie der Verteidigung der Demokratie, dem Kampf gegen die Korruption und Maßnahmen gegen die „existenzielle Bedrohung“ durch die Klimaerwärmung geleitet wird. Zwar sind unzählige Lateinamerikaner mit dieser Agenda einverstanden, viele ihrer Staatschefs aber nicht.

Biden wird zur Bewältigung der Krisen, um die er sich wohl sehr schnell kümmern muss, auch mit den widerspenstigen lateinamerikanischen Staatschefs Kooperationen eingehen müssen. Eine der größten Gefahren ist eine Zunahme der Migration in die Vereinigten Staaten, die von Armut, Gewalt und Korruption im Nördlichen Dreieck Mittelamerikas, von der Pandemie und von den jüngsten Wirbelstürmen ausgelöst werden könnte. Der angehende Präsident hat angekündigt, viele der „unverantwortlichen und unmenschlichen“ einwanderungspolitischen Maßnahmen Trumps rückgängig zu machen und 4 Milliarden Dollar zu investieren, um die Wurzeln der Migration zu bekämpfen.

Diese Strategie ist langfristig richtig. Doch während die Regierung Biden einen humanitär ausgerichteten Ansatz entwickelt, muss sie kurzfristig vermeiden, dass die Zuwanderung Ausmaße annimmt, die das Einwanderungssystem der USA überfordern. Dafür wird sie mit regionalen Staatschefs, besonders López Obrador, kooperieren müssen. Bidens Spitzenbeamte haben bereits eine diplomatische Offensive in Gang gesetzt, die darauf abzielt, mögliche Migranten abzuschrecken. Eine der ersten Bewährungsproben seiner Regierung wird es allerdings sein, dass sie die mexikanische Regierung dazu bringt, ihre Südgrenze zu kontrollieren und gleichzeitig den internationalen Schutz von Asylsuchenden zu gewährleisten.

Auch das anhaltende Chaos in Venezuela macht eine Koordination mit lateinamerikanischen Partnern erforderlich. Nicolás Maduros verheerendes wirtschaftliches Missmanagement geht mit einer systematischen Aushöhlung der demokratischen Institutionen im Lande einher. Daraus folgt nicht nur eine humanitäre Notlage in Venezuela, sondern auch die größte Flüchtlingskrise in der Geschichte Lateinamerikas. Trump bezeichnete in einer Abkehr von seiner sonst üblichen Vorliebe für Autokraten Maduro zu Recht als einen Diktator, der Menschenrechte verletze. Doch als er meinte, mit wirtschaftlicher Strangulation und militärischen Drohungen erreichen zu können, dass das Maduro-Regime zusammenbreche oder sich in Verhandlungen die Macht abluchsen lasse, lag er daneben.

Öffnet man den Diskurs in der Region so, dass auch weltpolitische Fragen des 21. Jahrhundert von Cyber-Normen über illegale Fischerei bis hin zu Klimaflüchtlingen diskutiert werden, so könnte ein neues gemeinsames Fundament entstehen.

Biden hat einen klaren Blick für Maduros Brutalität und wird einzelne Elemente der Trumpschen Politik vermutlich beibehalten. Doch er wird eine Strategie entwickeln müssen, in der Wunschdenken und martialische Phrasen durch eine nüchterne Diplomatie ersetzt und Instrumente wie Sanktionen wirkungsvoll zum Einsatz gebracht werden. Durch eine engere Koordination mit gleichgesinnten Partnern in Lateinamerika und Europa lässt sich möglicherweise eine robustere humanitäre Reaktion und ein konsequenterer Einsatz von Zuckerbrot und Peitsche erzielen; allerdings könnte jede politische Lösung zur Wiederherstellung der Demokratie letztlich auch die direkte Kommunikation mit Maduros Verbündeten notwendig machen.

Um die US-Führung in Lateinamerika wiederherzustellen, wird ein kurzfristiges Krisenmanagement nicht ausreichen. Washington muss eine langfristige Vision entwickeln, die die strategische Bedeutung der Region für die Vereinigten Staaten berücksichtigt. Im 20. Jahrhundert bildete die transatlantische Allianz den Grundstein für die internationale Ordnung unter US-Führung. Im 21. Jahrhundert werden die Vereinigten Staaten eine breitere Basis an Partnern brauchen, wenn sie die Normen und Institutionen zur Festlegung und Überwachung internationaler Verhaltensregeln bewahren wollen.

Die Länder Lateinamerikas und der Karibik sind facettenreich und häufig untereinander in lokale Streitigkeiten verstrickt, von den Konflikten mit den Vereinigten Staaten einmal ganz zu schweigen. Die Region ist heute ideologisch gespalten, richtet den Blick nach innen und leidet wirtschaftlich unter einer Jahrhundertkrise. Darüber hinaus finden sich unter den lateinamerikanischen Staatschefs derzeit keine großen Staatsmänner (und ja, Männer sind sie alle). Doch die Politik in der Region wird sich im Verlauf von Bidens erster Amtszeit voraussichtlich weiterentwickeln, auch, wenngleich nicht nur, in Reaktion auf den Politikwechsel in Washington.

Präsidentschaftsanwärter in Brasilien orientieren sich bereits an Bidens Wahlkampf, um die populistische Welle in ihrem eigenen Land zu brechen, wenn Bolsonaro 2022 zur Wiederwahl antritt. Die Länder der Region werden zudem grundsätzlich von Spielarten des westlichen Liberalismus und der regelbasierten internationalen Ordnung geleitet. Öffnet man den Diskurs in der Region so, dass auch weltpolitische Fragen des 21. Jahrhundert von Cyber-Normen über illegale Fischerei bis hin zu Klimaflüchtlingen diskutiert werden, so könnte ein neues gemeinsames Fundament entstehen.

Der angehende Präsident hat die einzigartige Chance, die Vereinigten Staaten wieder in Führung zu bringen und eine langfristige Strategie zu entwickeln, wenn er 2021 zum Amerika-Gipfel einlädt, der alle drei Jahre stattfindet und für den nächsten Herbst geplant ist. In einer Region, in der das Ansehen der Vereinigten Staaten unter Trump gelitten hat, kann Biden glaubhaft versichern, dass die Nähe zu Lateinamerika für die USA nicht Anlass sein wird, eine teure Grenzmauer zu errichten, sondern vielmehr in den gemeinsamen Erfolg zu investieren. Mit seiner prinzipiengesteuerten und lösungsorientierten Politik hat der designierte Präsident zudem ein erfolgversprechendes Modell anzubieten, mit dem sich die Demokratie gegen die in der Region wütenden Caudillos des digitalen Zeitalters verteidigen lässt.

Schwieriger wird die Entwicklung einer Vision sein, die sehr unterschiedliche Partner hinter den gemeinsamen Aufgaben vereint. An erster Stelle steht hier der wirtschaftliche Schaden durch die Pandemie, für deren Behebung Bidens innenpolitische Agenda „Build Back Better“ Inspiration bieten kann. Kurzfristig brauchen Länder in Lateinamerika Unterstützung bei Erwerb und Verteilung des Coronavirus-Impfstoffs. Langfristig müssen sie ihre wirtschaftliche Erholung vorantreiben und gleichzeitig die Forderungen ihrer Bürgerinnen und Bürger nach Gleichberechtigung, Transparenz und Nachhaltigkeit berücksichtigen. Biden sollte deutlich machen, dass die Vereinigten Staaten auf all diesen Gebieten ein unerschütterlicher Partner sein werden.

Damit all diese Ziele erreicht werden können, braucht es selbstverständlich Geld, und sicher werden die Vereinigten Staaten die Chinesen auf dem Gebiet teurer staatlich finanzierter Investitionen nicht schlagen können. Doch Strategien wie Bidens Plan, vier Milliarden Dollar in Mittelamerika zu investieren, oder die überparteiliche Initiative, 35 Prozent vom Budget der U.S. International Development Finance Corporation Lateinamerika und der Karibik zuzuteilen, könnten ein Anfang sein und illustrieren, dass sich das Engagement der Regierung Biden in Mittel- und Südamerika nicht in bloßen Phrasen erschöpft.

Die Regierung Biden bereitet sich darauf vor, die USA auf der globalen Bühne wieder als Führungsmacht zu etablieren, und da bietet eine verstärkte Koordination mit Lateinamerika und der Karibik in wichtigen Fragen wie Klimawandel, Menschenrechten und einem regelbasierten Handelssystem eine strategische Chance. Der designierte Präsident ist besser als fast alle seine Vorgänger im Weißen Haus aufgestellt, diese Chance zu nutzen.

Aus dem Englischen von Anne Emmert

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