Über 75 Tote, fast drei Dutzend Entführte und Zehntausende auf der Flucht oder in ihren Häusern eingeschlossen – dies ist die erschreckende Bilanz des jüngsten Gewaltausbruchs des Ejército de Liberación Nacional (ELN), der sogenannten Nationalen Befreiungsarmee, in der Bergregion Catatumbo im Nordosten Kolumbiens und weiteren Teilen des Landes.

Die koordinierten und vorbereiteten Angriffe, die von venezolanischem Boden aus geduldet und von Teilen der dort lebenden ELN-Führung gesteuert wurden, markieren eine neue Strategie der größten verbliebenen Guerilla-Gruppe Kolumbiens. Diese befindet sich seit 2022 in Friedensverhandlungen mit der Regierung des ersten linken Präsidenten des Landes, Gustavo Petro. Dieser gilt als Hoffnungsträger für Millionen Menschen für ein soziales und inklusives Gesellschaftsmodell.

Ob die Konkurrenz zu Gruppen wie dem Clan del Golfo oder FARC-Dissidenten, der Machtwechsel in den USA oder interne Machtkämpfe zu dieser Eskalation beigetragen haben, bleibt Spekulation. Der Zeitpunkt jedoch ist so gewählt, dass er das Erstarken und die Präsenz der Gruppierung auf brutale Weise demonstriert – sei es als Muskelspiel oder als Vorbote für weitere Gemetzel in den rund 16 Prozent von ihr kontrollierten Gebieten und darüber hinaus.

Statt wie bisher vor allem auf kleinere, lokale Aktionen und punktuelle Angriffe zu setzen, konzentriert sich die Gruppierung nun auf Massaker, Morde, massive Umweltschäden, Massenvertreibungen und den Aufbau eines von ihr kontrollierten „Mobilitätskorridors“ entlang der 2 000 Kilometer langen Grenze zu Venezuela. Dieser könnte künftig auch als eine Art Puffer- oder Schutzzone dienen, um mögliche Angriffe Kolumbiens gegen die Organisation oder die Führung in Caracas abzuwehren.

Als unmittelbare Reaktion setzte Präsident Gustavo Petro die ohnehin seit Monaten stockenden Friedensverhandlungen aus, rief den Notstand aus und ließ die Staatsanwaltschaft die Fahndung nach ELN-Kämpfern wieder aufnehmen. Damit wurde de facto jede Hoffnung auf einen weiteren Dialog beendet. Petros ehrgeiziges Projekt des Paz Total – eines umfassenden Friedens – steht damit knapp anderthalb Jahre vor Ende seiner Amtszeit vor einer erneuten Zäsur. Ob der Prozess noch eine letzte Chance erhält, bleibt ungewiss.

Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, muss der Gedanke eines umfassenden Friedens erhalten bleiben.


Hindernisse wie das fehlende politische Vertrauen, die Fragmentierung des ELN und die Verstrickung des venezolanischen Regimes in illegale Aktivitäten wie Drogenhandel, Entführungen und Erpressungen erschweren eine grundlegende Kehrtwende erheblich. Selbst im Falle eines Erfolgs müssten die Verantwortlichen des jüngsten Gewaltausbruchs festgenommen und rechtskräftig verurteilt werden. Die Chancen dafür sind jedoch äußerst gering. Ohne diese Maßnahmen würde ein Festhalten an Verhandlungen mit dem ELN in den Augen der kolumbianischen Öffentlichkeit einem unverzeihlichen Kotau gleichkommen.

Kurzfristig bleibt Petro daher keine andere Wahl, als militärische Einheiten in die Krisenregion zu entsenden. Dies signalisiert den besonders von Gewalt betroffenen Regionen zumindest Ansätze von Entschlossenheit, staatlicher Präsenz und Strafverfolgung. Mittelfristig jedoch wird eine Militarisierung weder die grundlegende Ungleichheit noch die strukturellen Probleme des Landes lösen – im Gegenteil: Dieser Ansatz wurde bereits seit Jahrzehnten erfolglos und mit zu hohen Verlusten verfolgt.

Um weiteres Blutvergießen zu verhindern, muss der Gedanke eines umfassenden Friedens erhalten bleiben. Die jüngsten Entwicklungen verdeutlichen, dass der Regierung eine klare Strategie, solide Kommunikationsfähigkeiten sowie Verhandlungsgeschick fehlen. Die Uneinigkeit der Verhandlungsführer, die parallelen Verhandlungsrunden, die Tiraden des Präsidenten in sozialen Netzwerken und der Affront, mit einer ELN-Splittergruppe parallel an der Hauptgruppierung vorbei zu verhandeln, müssen als mehr als bloße handwerkliche Fehler betrachtet werden – und für zukünftige Prozesse analysiert werden.

Ein nachhaltiger Frieden erfordert jedoch nicht nur professionelles diplomatisches Geschick, sondern auch die konsequente Einbindung der Zivilbevölkerung in den Konfliktregionen, weitreichende Landreformen sowie wirtschaftliche Alternativen für die ländliche Bevölkerung. Nur wenn diese zeitnah und für die Betroffenen spürbar umgesetzt werden, kann in Regionen, die seit Jahrzehnten vom illegalen Bergbau oder Drogenhandel abhängig sind, eine friedlichere Zukunft entstehen. Dies ist Gustavo Petros Regierung bislang nicht gelungen und würde vermutlich auch unter einer sich bereits siegessicher gebenden ultrarechten Opposition nicht zum Regierungsprogramm gehören.

Die Überführung etwa der Kleinstbergbauern in legale Geschäftszweige und die Förderung von Unternehmen, die Sozial- und Umweltstandards einhalten, müssten ebenso prioritär behandelt werden wie die Renaturierung der ausgebeuteten Regionen. Gleichzeitig wären Veränderungen in Nordamerika, Europa und anderen Konsummärkten für kolumbianisches Kokain nötig. Solange Anbau, Handel und Konsum des „weißen Goldes“ kriminalisiert bleiben, wird der Schwarzmarkt die organisierte Kriminalität weiter finanzieren.

Anreize für die Rekrutierung von Kindersoldaten und Entführungen blieben in diesem Umfeld bestehen, und das Vordringen in unzureichend geschützte Naturreservate wäre weiterhin eine einfache und oft straffreie Tätigkeit. Hohe Gewinnmargen treiben dabei die Machtkämpfe an, die Kolumbien weiterhin erschüttern.

Hohe Gewinnmargen treiben die Machtkämpfe an, die Kolumbien weiterhin erschüttern.

Das Land benötigt weiterhin internationale Unterstützung – möglicherweise in anderen und umfassenderen Formen als in den vergangenen Jahren. Von der neuen US-Regierung ist jedoch kaum ein menschenrechts- oder gesundheitspolitischer Ansatz zu erwarten. Stattdessen drohen fragwürdige Massenabschiebungen, die in den Herkunftsländern neue Konflikte schüren könnten.

Ein Beispiel für die angespannte Beziehung zwischen Kolumbien und den USA ist der in diesen Tagen von Washington provozierte und öffentlich ausgetragene Streit zwischen Präsident Petro und dem Weißen Haus. Dieser Konflikt zeigt, dass die USA in den kommenden Jahren weniger an rechtlichen Grundsätzen, wie denen des seit 2012 bestehenden Freihandelsabkommens, interessiert sein werden, sondern vielmehr auf Erpressung durch die Demonstration von Stärke setzen.

Nachdem sich die Regierung in Bogotá zunächst geweigert hatte, Flugzeuge mit abgeschobenen Kolumbianerinnen und Kolumbianern landen zu lassen, reagierte der strafrechtlich verurteilte 47. Präsident der USA mit drastischen Maßnahmen: Er verhängte Einfuhrzölle in Höhe von 25 Prozent, belegte Regierungs- und Familienmitglieder Petros mit Visarestriktionen und provozierte damit eine entschiedene Reaktion des kolumbianischen Staatschefs. Petro kündigte nicht nur an, die staatseigene Präsidentenmaschine zu entsenden, um die Landsleute menschenwürdig nach Kolumbien zurückzubringen, sondern auch, gleich hohe Steuern auf alle US-amerikanischen Importe zu erheben. Um wenig später der Erpressung nachzugeben und alle Forderungen doch erfüllen zu wollen.

Eine weitere Krise verschärft die ohnehin angespannte Situation: Angesichts der anhaltend instabilen innenpolitischen Lage in Venezuela könnten noch mehr Menschen als die bisher rund 7,7 Millionen ihre Heimat verlassen. Ihr Weg führt dabei fast immer über Kolumbien, was zu zusätzlichen Spannungen innerhalb der kolumbianischen Gesellschaft sowie zu einer noch komplexeren politischen und sozialen Lage führen könnte.

Die neue Bundesregierung sollte sich innerhalb der EU umso klarer für Frieden positionieren und sich unter anderem für eine Neubewertung der Kokapflanze sowie für eine Regulierung von Kokain einsetzen. Bisherige Versuche, den Schmuggel schon in den Exportländern aufzudecken oder spätestens in den Häfen Rotterdam, Antwerpen oder Hamburg zu stoppen, sind gescheitert. Gleichzeitig erreichten 2024 der Koka-Anbau, die Abholzung des Regenwaldes und der Verlust an Biodiversität neue Rekordwerte. Der Konsum von (gestrecktem) Kokain steigt nicht nur in Deutschland auf bisher unbekannte Höhen; europaweit werden Konsumenten kriminalisiert und die Gesundheits- und Justizwesen werden durch die Verdrängung in die Illegalität belastet.

Ohne eine strategische Wende drohen entlang der gesamten Lieferkette weitere blutige Eskalationen – deren einzige Gewinner die Kartelle Lateinamerikas wären. Um dies zu verhindern, könnte Petro auch ein vorsichtiges Aufeinanderzugehen und die damit verbundene faktische Anerkennung des Regimes von Nicolás Maduro in Betracht ziehen. Dies würde zumindest den Konfliktregionen Kolumbiens etwas Ruhe verschaffen und die Hoffnung vergrößern, dass auf den erstarkenden ELN mäßigend eingewirkt werden könnte.

Bleiben Fortschritte in diesen Fragen aus, drohen Kolumbien erneut Jahre des wirtschaftlichen Niedergangs, ein Rückschlag für den gerade erst zaghaft aufkeimenden Tourismus sowie blutige Konflikte mit zahlreichen Opfern – insbesondere unter Soldaten sowie in den überwiegend indigenen und afro-kolumbianischen Gemeinschaften in ländlichen Gebieten. Ein neues Fenster für Friedensverhandlungen könnte sich sonst erst in einigen Jahren öffnen – oder womöglich für immer geschlossen bleiben.