Fassungslosigkeit, Angst, Wut und Trauer: Der Mord an Fernando Villavicencio löst Schockwellen in Ecuador aus. Elf Tage vor der ersten Runde der vorgezogenen Präsidentschaftswahlen wurde am Mittwochabend des 9. August der konservative Kandidat im Anschluss an eine Wahlkampfveranstaltung im Zentrum der Hauptstadt Quito durch einen Attentäter erschossen. Der mutmaßliche Täter wurde anschließend von Sicherheitskräften getötet.

Der 59-jährige Villavicencio, einer von acht Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten, galt zwar nicht als Favorit für die am 20. August anstehende Wahl – laut seriösen Umfragen waren seine Chancen verschwindend gering, als zweitplatzierter Kandidat in die Stichwahl gegen die in Umfragen mit Abstand führende Kandidatin Luisa Gonzalez der Partei des Ex-Präsidenten Raffael Correa zu gelangen. Allerdings positionierte der ehemalige Gewerkschafter und Journalist sich explizit als anti-correistischer Vorkämpfer gegen Gewaltkriminalität und Korruption und prangerte die Verbindungen des organisierten Verbrechens mit staatlichen Institutionen wie Polizei und Militär an. Mehrmals machte er im Wahlkampf auf Morddrohungen gegen sich aufmerksam.

Die Nachricht über dieses brutale Verbrechen verbreite sich wie ein Lauffeuer im Land. Obwohl die Hintergründe der Tat noch weitestgehend unklar sind, steht fest: sie trifft das Land in Zeiten großer gesellschaftlicher Verunsicherung, politischer Polarisierung und sozio-ökonomischer Krise tief ins Mark. Das Selbstverständnis vieler Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer in einem Land zu leben, dass gemeinhin als Insel des Friedens bezeichnet wurde, umgeben von gewaltintensiven Nachbarländern, ist endgültig und wohl für immer dahin. Dies auch, weil die – wohl von niemanden im Land für möglich gehaltene – Tat nur die letzte Eskalationsstufe einer sich seit zwei Jahren rapide verschlimmernden Gewaltspirale ist, auf die die scheidende Regierung unter Guillermo Lasso bis dato nur rat- und ideenlos reagierte.

In der ehemaligen Insel des Friedens ist es mittlerweile wahrscheinlicher ermordet zu werden, als in gewaltgewöhnten Ländern wie Mexiko oder Brasilien.

Um den Umfang der Gewalt und Unsicherheit im Land zu erfassen, reicht es allein auf die Mordrate (25,9 pro Hunderttausend Einwohner in 2022) im Land zu blicken und festzustellen, dass es in der ehemaligen Insel des Friedens mittlerweile wahrscheinlicher ist ermordet zu werden, als in gewaltgewöhnten Ländern wie Mexiko oder Brasilien. Der Grund dafür liegt, neben dem sich Ausbreiten der organisierten Kriminalität in Form von transnational vernetzten und sich untereinander bekämpfenden Drogenbanden, auch in der Schwächung staatlicher Institutionen durch die Austeritätspolitik unter den letzten beiden Regierungen, sowie dem merkwürdigen Desinteresse politischer Entscheider an der Entwicklung und Umsetzung effektiver Strategien und Programmen zum Erhalt der inneren Sicherheit sowie an effektiven Reformen der dysfunktionalen Strafverfolgungsbehörden. Wenig hilft dabei, dass die geopolitische Bedeutung Ecuadors im internationalen Drogenhandel als Drehkreuz für die Verschiffung der Ware nach Europa und Asien weiter zunimmt.

Die „Mexikanisierung“ Ecuadors – nicht im Sinne einer gleichen Abfolge, sondern einer Analogie der Gewalt- und Diffusionsdynamiken des Organisierten Verbrechens im Mexiko der Nuller Jahre – manifestiert sich im heutigen Ecuador in Form eines sich rapide wachsenden Aktionsradius von verfeindeten Drogenbanden. Damit einher geht nicht nur der Anstieg der Gewalttoten, sondern auch eine exponentielle Zunahme von Schutzgelderpressungen, Entführungen, Menschenhandel, tödlichen Gefängnisaufständen und anderen Gewaltakten. Zunehmend sind alle Lebensbereiche betroffen, wobei die sozial schwachen Bevölkerungsschichten der Löwenanteil der Gewalterfahrungen trifft. Die „Mexikanisierung“ Ecuadors manifestiert sich auch, und dies ist im Land nur unter Gefahr für Leib und Leben sagbar, durch die Duldung und oder Komplizenschaft staatlicher Institutionen und Akteuren, insbesondere in den Sicherheitsbehörden.

Die sozial schwachen Bevölkerungsschichten trifft der Löwenanteil der Gewalterfahrungen.

Denn klar ist auch, so unfassbar und schockierend die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Villavicencio für viele Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer ist, sie reiht sich in eine Reihe von Gewalttaten gegen Politikerinnen und Politikern in den vergangenen Monaten ein. Journalistische Schätzungen gehen allein von über 60 zum Teil tödlichen Gewaltakten gegen Politikerinnen und Politikern verschiedenster Parteien im Rahmen der letzten Lokal- und Regionalwahlen Anfang des Jahres aus. Nur wenige Wochen vor dem Attentat auf Villavicencio schreckte das Land auf, als der Bürgermeister der Küstenstadt Manta, Agustín Intriago, auf offener Straße erschossen wurde – vermutlich aus Rache von Drogenbanden, nicht an öffentlichen Aufträgen beteiligt zu werden.

Diese Gewaltakte gegen die politischen Autoritäten des Landes sind nur der letzte Beweis, wie brüchig das Gewaltmonopol des ecuadorianischen Staates in Ecuador mittlerweile geworden ist. Sie sollten aber auch ein Weckruf an das gesamte politische Spektrum in Ecuador sein, dass sich das Zeitfenster für ein entschlossenes, umfassendes und vor allem von allen politischen Parteien im Konsens getragenes Handeln gegen die Gewalt im Land zu schließen beginnt. Die Zeiten des Ecuadors als Insel des Friedens in der Region mögen vorbei sein, doch gegen eine Zukunft als Zentrum der Gewalt in der Region sollte gemeinsam gekämpft werden.