Am 7. Oktober sind 147 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer aufgerufen, ihre Stimme bei den Präsidentschafts-, Kongress- und Gouverneurswahlen abzugeben. Die Wahlen finden in turbulenten Zeiten statt – das Land erholt sich nur mühsam von einer schweren Wirtschaftskrise, gerät gleichzeitig aber immer tiefer in eine Sicherheitskrise. An Stelle der 2014 gewählten Präsidentin Dilma Rousseff, die vor zwei Jahren mit fadenscheinigen Argumenten des Amtes enthoben wurde, regiert ihr ehemaliger Vizepräsident Michel Temer mit der historisch niedrigsten Zustimmungsquote von gerade einmal drei Prozent. Der enorm populäre ehemalige Präsident Lula da Silva wurde in einem umstrittenen Verfahren wegen Korruption verurteilt und sitzt seit April in Haft.
Unter dem Eindruck dieser traumatischen Erfahrungen ist das Vertrauen der Bevölkerung in die Demokratie schwer erschüttert. Nur 43 Prozent bevorzugen die Demokratie noch als Regierungsform. Vertrauen in die Parteien setzen nur sieben Prozent, in die Streitkräfte aber 50 Prozent der Menschen. Alarmierend auch die Ergebnisse einer Umfrage vom Mai dieses Jahres wonach eine Mehrheit der Brasilianerinnen und Brasilianer einen Militärputsch als Antwort auf Korruption oder Kriminalität für gerechtfertigt halten.
Der Ausgang der Wahlen ist deshalb so unsicher wie nie zuvor. Die ausufernde Politikverdrossenheit hat eine starke „Anti-Establishment“-Stimmung geschaffen. Viele hoffen auf eine Erneuerung der Politik und dies vor allem durch neue Akteure. „Um das System zu ändern, müssen wir die Personen auswechseln“, ist das weit verbreitete Motto. Nur wer sich als „neu“ präsentiere und auch so wahrgenommen werde, habe heute Aussichten auf Wahlerfolg, sagt der Politikwissenschaftler Sergio Abranches.
Sollte Bolsonaro die Wahl gewinnen, will er sein Kabinett mit vielen Militärs bestücken. Eine solche frei gewählte Militärregierung sei „Gottes Wunsch“.
Diese „Anti-Establishment“-Stimmung bedient in idealer Weise ein lange kaum beachteter Hinterbänkler, der ehemalige Fallschirmjäger Jair Messias Bolsonaro. Aufgefallen war er bislang nicht durch parlamentarisches Engagement, sondern durch beleidigende Äußerungen, insbesondere durch die Verherrlichung der brasilianischen Militärdiktatur. Für Aufsehen sorgte etwa seine Stimmabgabe im Impeachment gegen Dilma Rousseff, die er einem der berüchtigtsten Folterer aus dieser Zeit widmete. Der Abgeordneten Maria do Rosario spuckte Bolsonaro ins Gesicht und erklärte, er vergewaltige sie nicht, weil sie dessen nicht würdig sei.
Zugleich wettert Bolsonaro gegen korrupte und unfähige Politiker und präsentiert sich – seinem Vorbild Donald Trump folgend – gerne als Negation der traditionellen „verdorbenen“ Politik, die einer „generellen Säuberung“ bedürfe. Bedroht sieht er auch die Werte der Nation und deren christliches Fundament durch einen „kulturellen Marxismus“, der verantwortlich sei für eine Ideologisierung der Schulen, die Alimentierung von Unproduktivität und Unmündigkeit durch öffentlich finanzierte Sozialprogramme und eine Menschenrechtspolitik, die nur die Menschenrechte von Kriminellen schütze. Getreu seinem zweiten Vornamen Messias sieht er sich als Retter der brasilianischen Nation. Und bei dieser Mission setzt er auf die Unterstützung der Militärs.
Sollte Bolsonaro die Wahl gewinnen, will er sein Kabinett mit vielen Militärs bestücken. Die Logik: Wenn frühere Präsidenten „Guerillakämpfer und Terroristen“ als Minister nominierten, dann wolle er Generäle zu Ministern machen. Eine solche frei gewählte Militärregierung sei „Gottes Wunsch“. Nicht überraschend hat er als Kandidaten für die Vizepräsidentschaft einen weiteren Militär im Ruhestand, den General Hamilton Mourão nominiert – ebenfalls ein Apologet der Militärdiktatur.
Dem selbsternannten Outsider ist es dabei gut gelungen zu verdecken, dass er so neu in der Politik nicht ist. Derzeit übt Bolsonaro sein siebtes Abgeordnetenmandat aus und blickt auf inzwischen 27 Jahre im Parlament zurück. Dabei hat er mehrfach die Partei gewechselt und gehörte zeitweise auch solchen Parteien an, die besonders stark in Korruptionsskandale verwickelt sind. Ironisierend nennt die Zeitschrift ISTOÉ ihn daher zu Recht einen „Anti-System Kandidaten, der aus dem System kommt“.
Gleichwohl hat Bolsonaro es vor allem über soziale Medien und über seinen „anti-systemischen“ Diskurs in kurzer Zeit vom Hinterbänkler zu einem der bekanntesten Politiker Brasiliens geschafft. Seit Monaten liegt er in den Umfragen vorne – jedenfalls dann, wenn der wegen Korruption verurteilte und inhaftierte ehemalige Präsident Lula da Silva aus den Umfragen ausgeklammert wird. Doch auch dann, wenn in den Umfragen eine Kandidatur Lulas nicht ausgeschlossen wird, schneidet Bolsonaro erstaunlich gut ab. Etwa ein Fünftel der Stimmen würden auf ihn entfallen. Dieser Wert ist über die Monate hin relativ konstant.
Mit dem Selbstbild des Rebellen gegen das Establishment bricht die Tatsache, dass er in Wahlumfragen im Segment der Reichsten und Gebildetsten mehr Sympathien genießt als seine Mitbewerber.
Dagegen liegen die Kandidaten des Establishments wie der PSDB-Politiker Geraldo Alckmin oder der ehemalige Finanzminister Henrique Meirelles derzeit abgeschlagen zurück. Die Möglichkeit, dass Bolsonaro die traditionelle Polarisierung zwischen der konservativen „sozialdemokratischen“ Partei Brasiliens (PSDB) und der progressiven Arbeiterpartei (PT) durchbrechen und zumindest in den zweiten Wahlgang einziehen kann, ist also hoch. „Brasilien, wir haben ein Problem“, meint der Economist dazu, und spricht damit sicher dem politischen und wirtschaftlichen Establishment Brasiliens aus der Seele. Dieses hatte lange darauf gesetzt, dass der Appeal Bolsonaros in dem Maße nachlassen würde, in dem sich die Wirtschaft erhole. Bloß, eine spürbare wirtschaftliche Erholung ist bislang ausgeblieben. Die Wirtschaft stagniert und die Arbeitslosigkeit liegt weiter bei 13 Prozent.
So sehr Bolsonaro einerseits den Rebell gibt, so versuchte er andererseits mit der Benennung des liberalen Ökonomen Paulo Guedes ein Zeichen an das Establishment zu senden, dass er – zumindest wirtschaftspolitisch – so antisystemisch nicht sei. Die Finanzeliten zeigten sich auch gleich erleichtert und angetan von die Nominierung eines anerkannten Fachmanns mit „liberaler Version“. Auch gehört Bolsonaros Partei, die PSL, im Kongress zu den treuesten Unterstützern des wirtschaftsliberalen Kurses von Präsident Temer. Offen umwirbt er eine regulierungskritische Unternehmerschaft und den Unternehmer Flavio Rocha als möglichen Wirtschaftsminister. Klar ist, nicht nur Militärs will er in seiner Regierung, sondern auch Unternehmer. An deren Adresse gerichtet, verkündet Bolsonaro, es sei Zeit, dass in Brasilien die Unternehmer die Dinge in die Hand nehmen. Mit dem Selbstbild des Rebellen gegen das Establishment bricht zudem die Tatsache, dass er in Wahlumfragen im Segment der Reichsten und Gebildetsten mehr Sympathien genießt als seine Mitbewerber. 30 Prozent der Bevölkerung mit einem Einkommen von über zehn Mindestlöhnen liebäugeln mit einer Stimmabgabe für den vermeintlichen Establishment-Schreck.
Bolsonaro umwirbt mit seinem Diskurs aber ganz gezielt noch ein weiteres Wählersegment: die Anhänger der evangelikalen Kirchen, die in dem einst rein katholischen Land inzwischen 30 Prozent der Wählerschaft ausmachen. Angesichts dieser Tendenz sprechen manche Beobachter von einem voto evangélico. Bolsonaros Wahlveranstaltungen gleichen oft den Gottesdiensten der evangelikalen Kirchen. Der dabei gepflegte moralisierende Diskurs verfängt besonders im evangelikalen Glaubensschema, in dem der eine Gute für die braven Bürger den Kampf gegen das Böse aufnimmt.
Zu den Unterstützern seiner Kandidatur gehören denn auch der Senator und evangelikale Pastor Magno Malta sowie der einflussreiche Chef der Kirche „Vitoria em Cristo“, Silas Malafaia. Malafeia hofft, dass 70 bis 80 Prozent der Evangelikalen Bolsonaro wählen werden. Gleichwohl sehen Meinungsumfragen seinen Stimmenanteil in diesem Segment bei nur 17 Prozent. Zwar trifft Bolsonaro mit seiner „Verteidigung der Familie zwischen Mann und Frau“, der Ablehnung des Schwangerschaftsabbruchs und seiner Kritik an der „Genderideologie“ auf Resonanz unter den Anhängern der evangelikalen Kirchen, doch stößt er mit seinen oft aggressiven und radikalen Äußerungen auch auf Ablehnung.
Nicht zuletzt Bolsonaros Eintreten für freien Waffenbesitz wird von vielen pazifistisch eingestellten Evangelikalen nicht geteilt. Andererseits greift Bolsonaro in seinem Diskurs den in evangelikalen Kreisen weit verbreiteten Wert der Meritokratie auf. Die persönliche Anstrengung, die individuelle Arbeit seien es, die den Weg aus Armut und sozialer Misere weisen, nicht aber öffentliche Sozialprogramme. Und auch wenn es in weiten Teilen der Evangelikalen durchaus Zustimmung zu spezifisch auf die Interessen von Frauen gerichteten Themen wie der Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs gibt, wird Feminismus als aggressiver Diskurs abgelehnt. Bolsonaros Attacken gegen Feminismus und Gender-Ideologie finden so Widerhall, ohne dass dies einhergehen muss mit der Ablehnung von auf die Bedürfnisse von Frauen zugeschnittenen Politiken.
Attraktiv macht Bolsonaro zudem, dass er wie sonst kaum ein Politiker das Problem der prekären öffentlichen Sicherheit aufgreift. In weiten Teilen der Bevölkerung ist diese in den letzten Jahren zur wahren Geisel geworden.
Attraktiv macht Bolsonaro zudem, dass er wie sonst kaum ein Politiker das Problem der prekären öffentlichen Sicherheit aufgreift. In weiten Teilen der Bevölkerung, gerade in den unteren Mittelschichten, ist diese in den letzten Jahren zur wahren Geisel geworden. Aktuelle Zahlen sprechen von über 60 000 Morden in 2017, das entspricht 175 Fällen pro Tag. Viele Menschen, die diese Unsicherheit und Gewalt als alltägliche Bedrohung erfahren, fühlen sich von der traditionellen Politik im Stich gelassen. Ihre Sorgen finden Resonanz in Bolsonaros Diskurs der „harten Hand“ gegen das Verbrechen - in der Forderung nach Herabsetzung des Strafalters, nach Polizisten, die auch töten, und nach erleichtertem Zugang zu Waffen. Die progressiven Parteien bleiben hier bislang ohne überzeugende Antworten.
Schließlich kann Bolsonaro auch auf Rückhalt in den jüngeren Wählerschichten setzen. Die Zustimmung zu ihm ist in der Altersgruppe der zwischen 16 und 34-Jährigen doppelt so hoch wie in der Altersgruppe über 55. Und es ist diese Alterskohorte, die mit etwa einem Drittel der Stimmanteile auschlaggebend bei den Wahlen sein wird. Begründet liegt dies zum einen in seiner starken Präsenz in den sozialen Medien. Mit fünf Millionen Followern auf Facebook ist er dort weit präsenter als seine Mitstreiter. Zum anderen findet, wie eine Untersuchung der Sozialwissenschaftlerin Esther Solano im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung zeigt, seine durch einen nonkonformistischen Diskurs unterlegte Selbstdarstellung als „anti-mainstream“ Widerhall gerade bei den Jüngeren. Sie sehen ihn als Rebell gegen das Establishment. Das Brechen der Regeln der „politisch Korrektheit“ gilt ihnen als erfrischend, Intoleranz und Aggressivität in seinen Äußerungen nicht als Fehltritt, sondern als „pop“ und als authentisch.
Diese Faktoren positionieren Bolsonaro gut im Rennen um die Präsidentschaft. Doch es gibt auch Faktoren, die seine Kampagne erschweren. Denn neben der erschreckend hohen Zustimmung trifft er auch auf die höchste Ablehnungsquote unter allen Kandidaten. Zudem ist es ihm bislang nicht gelungen, die Isolierung durch das politische Establishment zu durchbrechen und eine breitere Wahlallianz zu bilden. Letztlich beschränkt sich seine Wahlallianz bislang auf zwei kleine Partien – seine eigene PSL mit acht Abgeordneten im Parlament, und die nicht im Kongress vertretene PRTB, die Partei seines Kandidaten für die Vizepräsidentschaft. Diese schmale Wahlallianz bedeutet einen deutlichen Nachteil bei der Verfügung über öffentliche Wahlkampfmittel sowie den kostenlosen Zugang zu Werbezeiten in Fernsehen und Radio. Ihm stehen nur etwa ein Prozent der kostenlosen Werbezeit zu, dem Establishment-Vertreter Alckmin dagegen fast 50 Prozent. Diesen Nachteil versucht Bolsonaro zwar durch intensive Werbung via WhatsApp und Facebook auszugleichen. Doch anders als dies bei Donald Trump der Fall war, wird er einen Wahlkampf ohne starke Finanzierungsbasis führen müssen.
Und was wäre von ihm zu erwarten, sollte er tatsächlich Präsident werden? Ohne eigene Mehrheit im Kongress würde der „Anti-System“-Kandidat „Manövrierfähigkeit“ aller Voraussicht nach in Allianzen mit systemkonservativen Kräften suchen. Schnell würde er sich als Wahrer der Interessen des wirtschaftlichen Establishments erweisen. Seine Aufgabe als Präsident sieht er darin, zu deregulieren und zu entbürokratisieren. Die Folge wären Reformen, „die die Wirtschaft braucht“, Privatisierungen und eine Fortsetzung des sozialpolitischen Kahlschlags. Im Zentrum seines Regierungshandelns jedoch dürften nicht Wirtschafts- und Sozialpolitik, sondern eine Sicherheitspolitik der „harten Hand“ und die Bekämpfung des „kulturellen Marxismus“ stehen. Dabei hat er sich jüngst bei einem altbekannten Wahlkampfstrategen rückversichert: Bei Donald Trumps ehemaligen Adlatus Steve Bannon.
Auch im russischen und englischen Journal erschienen:
RUS:https://www.ipg-journal.io/regiony/latinskaja-amerika/statja/show/brazilskii-tramp-605/
ENG: https://www.ips-journal.eu/regions/latin-america/article/show/the-brazilian-trump-2933/