Erneut ist es dem kolumbianischen Präsidenten Gustavo Petro gelungen, zu provozieren, seine erbitterten Gegnerinnen im In- und Ausland in Rage zu bringen und seine Unterstützer in Jubel ausbrechen zu lassen. Dieses Mal sorgte seine nur 20-minütige Rede vor dem Plenum der 77. Generaldebatte der Vereinten Nationen in New York sowohl in Kolumbien als auch anderen Ländern für Aufregung, Begeisterung, Ablehnung und vielfältige Interpretationen.

So klar wie am 20. September 2022 hat noch kein Staatschef aus dem weltweit größten Kokain-Anbauland vor der globalen Gemeinschaft den Zusammenhang zwischen einem umfassenden Natur- und Klimaschutz und einer neuen, anderen Drogenpolitik skizziert. Dabei schlug der erst vor wenigen Wochen im Amt vereidigte Gustavo Petro den Bogen zwischen den hausgemachten Herausforderungen Kolumbiens und der Notwendigkeit einer regionalen und internationalen Zusammenarbeit, um beide große Themen nachhaltig zu lösen. Die Rede erzielte auch große Aufmerksamkeit, weil Petro den Abbau von Kohle und Erdöl als größere Gefahr für die Menschheit bezeichnete als den Kokapflanzenanbau.

Petros Gegner aus dem rechten und konservativen Lager bezeichnen seine Ausführungen als demagogisch, gefährlich und brandmarken sie als populistisch. Sie werfen ihm vor, aus Kolumbien einen „Narcoestado“ (einen „Drogenstaat“) machen zu wollen, in dem Petro angeblich einseitig Kokain legalisieren wolle. Dabei lassen sie außer Acht, dass trotz der Milliarden von US-Dollar, die die USA in die kolumbianischen Spezialeinheiten der Polizei investiert haben, kaum Erfolge im Kampf gegen die organisierten Drogenhändlergruppen und ihre Fähigkeit zu verzeichnen sind, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu durchdringen und zu korrumpieren.

Deutlicher als sein Vor-Vorgänger, Friedensnobelpreisträger Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) bezeichnete Petro den 1972 vom damalige US-Präsident Richard Nixon ausgerufenen „War on Drugs“, den seit mehr als 50 Jahren andauernden Krieg gegen die Drogen, als gescheitert. Dabei nahm der kolumbianische Präsident auch die internationale Gemeinschaft, unter der Federführung der US-Regierungen, für dieses Desaster in die Verantwortung: Mehr als eine Million getötete Lateinamerikanerinnen und mehr als zwei Millionen inhaftierte Afroamerikaner seien deutliche Zeichen für den Wahnsinn eines zerstörerischen Kapitalismus, dessen einzige Strategie angesichts des Drogenkonsums die Prohibition ist, so Petro.

Viele Expertinnen sind sich einig, dass es keine menschliche Gesellschaft ohne Konsum von Rauschmitteln gibt.

Was Petro hier nicht ausführt, worüber aber viele Expertinnen und Vertreter von Nichtregierungsorganisationen einig sind, ist, dass es keine menschliche Gesellschaft ohne Konsum von Rauschmitteln gibt. Und dass es auch kaum vorstellbar ist, dass dies in der Zukunft der Fall sein wird. Den ErgebnissenzahlreicherStudienzufolge sollte daher weniger Wert auf das Verbot und die Kriminalisierung des Konsums von bisher als illegal eingestuften Substanzen gelegt werden, sondern mehr auf deren sicheren und geregelten Gebrauch.

Auch wenn der Weg zu einer neuen Drogenpolitik, die die Menschenrechte der Bäuerinnen, Produzenten und Konsumentinnen respektiert, weder einfach noch schnell sein wird, macht die Tatsache, dass die von Petro in Kolumbien angestoßene Diskussion in diese Richtung geht, die Bedeutung und Tragweite seiner Worte deutlich: Nur durch eine klare staatliche Regulierung (und nicht durch Legalisierung!) kann die Macht der kriminellen Drogenhandelsorganisationen eingeschränkt, die mit dem Drogenhandel verbundene Gewalt verringert und der problematische Drogenkonsum in den Mittelpunkt der öffentlichen Gesundheit gerückt werden.

Nur durch eine klare staatliche Regulierung kann die Macht der kriminellen Drogenhandelsorganisationen eingeschränkt werden.

Petro zeigte in seiner Rede auch, wie sehr der Krieg gegen die Drogen auch den Klimaschutz verhindert. Vor den VN forderte er, den flächendeckenden Einsatz des krankheitserregenden Pestizids Glyphosat gegen Anbauflächen von Kokapflanzen oder Marihuana schnellstmöglich zu stoppen. Dessen weitere Verwendung würde nur zu weiterer Umweltzerstörung, einem anhaltenden Verlust der biologischen Vielfalt und der Aufrechterhaltung der Gewalt in Kolumbien beitragen. Die verfehlte Politik der letzten Jahrzehnte hat sich negativ auf die Lebensgrundlage von Millionen von Landwirten ausgewirkt.

Als Lösung schlug der Präsident einen internationalen Pakt zur Rettung des einzigartigen Ökosystems Amazonas vor. Dazu müssten die Auslandsschulden der lateinamerikanischen Länder reduziert werden und Kolumbien und die anderen Amazonasländer sollten über einen international kontrollierten Fonds in den nächsten 20 Jahren jährlich 1 Milliarde Dollar erhalten. Die Gelder würden zum Schutz des Regenwaldes vor weiterer Abholzung und illegalem Bergbau eingesetzt werden und damit einen wichtigen Beitrag zur globalen Klimasicherheit leisten. Die Summe erscheine laut Beobachtern durchaus gerechtfertigt und bei weitem nicht zu hoch: Zwischen 2000 und 2016 haben allein die Vereinigten Staaten rund 10 Milliarden US-Dollar in die Stärkung des kolumbianischen Sicherheitsapparats gepumpt – noch einmal: ohne nennenswerte Erfolge.

Nach dieser Rede ist klar, dass Gustavo Petro einen grundlegenden Wandel in der gegenwärtigen Sackgasse anstrebt: Nur wenn der Drogenhandel von der Gewaltdynamik entkoppelt wird, können Kolumbien und Lateinamerika stabil werden und sich die Gemeinschaften friedlich entwickeln. Dies erfordert sowohl eine gesellschaftliche Allianz als auch eine zwischen Ländern. Allein werden Petro oder Kolumbien dies jedoch nicht erreichen können.

Trotz Verbots wird in Kolumbien und weltweit mehr Kokain angebaut, gehandelt und konsumiert als jemals zuvor.

Dabei stützt sich der kolumbianische Präsident auf bekannte wissenschaftliche Untersuchungen, Studien von Nichtregierungsorganisationen und auf die Vertreterinnen indigener Gemeinschaften: Sie betonen seit Jahrzehnten, dass durch Maßnahmen des Verbots (Prohibition) weder der Anbau und der Handel noch der Konsum von als illegal eingestuften Substanzen oder Rauschmitteln zurückgegangen sei. Das Gegenteil ist seit mehr als 50 Jahren der Fall: Heute wird in Kolumbien und weltweit mehr Kokain angebaut, gehandelt und konsumiert als jemals zuvor. Zwar hat der 2016 unterzeichnete Friedensvertrag mit der Guerillaorganisation FARC zur Befriedung weiter Teile des Landes maßgeblich beigetragen – Gewalt, Vertreibungen, Morde, Umweltzerstörungen und illegale Raubbautätigkeiten sind jedoch weiterhin in Kolumbien an der Tagesordnung.

Der Präsident muss nun zeigen, dass seine salbungsvollen Worte nicht nur eine tagesaktuelle Analyse darstellen, sondern dass ihnen konkrete Taten folgen müssen: Wird es Gustavo Petro gelingen, die Debatten auf regionaler und internationaler Ebene mit der Erkenntnis der nationalen Einsicht zu harmonisieren? Wird er Verbündete – über Bolivien hinaus – finden und die internationalen Foren und Entscheidungsgremien von seinem Ansatz überzeugen? Zweifel bleiben auch hier angebracht: Konservative Kräfte bestimmen weiterhin die Politik Lateinamerikas. Bereits die Vor-Vorgänger-Regierung unter Präsident Santos versuchte, durch innovative und wissenschaftlich fundierte Unterstützung auf die gescheiterten Strategien der Vergangenheit einzugehen. Petro muss nun versuchen, die Debatte um ein internationalen Drogenkontrollsystem voranzutreiben, weniger mit dem Ziel, sofort Änderungen herbeizuführen, als sie mittelfristig vorzubereiten – damit sie in circa 10 bis 15 Jahren überhaupt eine Chance auf internationale Unterstützung finden.

Nur wenn der Drogenhandel von der Gewaltdynamik entkoppelt wird, können Kolumbien und Lateinamerika stabil werden.

Außerdem müsste Gustavo Petro seinen internationalen Diskurs mit weiteren innenpolitischen Entscheidungen in Einklang bringen. Vielerorts wird anhaltend auf diese Diskrepanz zwischen seinem Reden und seinem Handeln hingewiesen. So gelingt es ihm beispielsweise trotz aller Ankündigungen nicht, den Einsatz von Glyphosat in Kolumbien zu stoppen.

Und Koka und Marihuana anbauenden Gemeinschaften bleibt nur, gegen die Kriminalisierung des Anbaus der Pflanzen durch Streiks und andere Maßnahmen gesellschaftlich vorzugehen. Auch die Besetzung wichtiger Stellen kommt nur schleppend voran, die eine neue Agenda betreiben könnten: Zwar konnte Ende September mit Gloria Miranda eine neue Direktorin für Drogenpolitik im kolumbianischen Justizministerium benannt werden, eine Neubesetzung für die Umsetzung des Nationales Programm zur Substitution illegaler Kulturen steht bislang jedoch noch aus.

Ohne klare und kompetente Ansprechpartnerinnen auf nationaler Ebene, ohne lokal angepasste und integrale Entwicklungsperspektiven, wie u.a. Infrastrukturmaßnahmen in den Provinzen, die Bereitstellung von Waren und Dienstleistungen, stärkere staatliche Präsenz etc., bleiben die Menschen in den vom Kokaanbau betroffenen Regionen weiterhin allein gelassen. Sie bleiben ohne Garantien für ihre eigene Sicherheit, ohne Arbeitsmöglichkeiten und ohne Zugang zu Bildung, Gesundheitsfürsorge und letztendlich ohne Alternativen.

Ohne den Versuch, die komplexe Gemengelage aufzulösen, die durch die auf Prohibition und Kriminalisierung festgelegte bisherige Drogenpolitik entstanden ist, wird es nicht gelingen, eine Änderung herbeizuführen. Es ist zu befürchten, dass ohne umfassende politische Strategie bewaffnete, illegale kriminelle Gruppen weiterhin töten, vertreiben und die ohnehin schwierige wirtschaftliche und soziale Situation sich in vielen Gebieten weiter verschärft und dem illegalen Drogenanbau und -handel nichts entgegengesetzt wird.

Eine solche Strategie könnte eine Entkriminalisierung der Erzeugerinnen, Sicherheitsgarantien für die Gemeinden und eine Strategie zur Entwicklung für Regionen des Anbaus vorsehen. Zeitgleich sollten Konsumenten mit Kampagnen für einen sicheren und regulierten Gebrauch von Rauschmitteln geschult und sensibilisiert werden.

Gustavo Petro ist auf progressive Ansprechpartnerinnen in der Region, in Europa und Deutschland angewiesen.

Die kolumbianische Regierung könnte den bereits bestehenden nationalen Rechtsrahmen nutzen und straffreie Strategien zur Schaffung alternativer Lebensgrundlagen für Gemeinschaften, die derzeit von und mit Koka und Marihuana leben, ermöglichen: Viele der Gemeinschaften verfügen über große Potentiale für einen nachhaltigen Tourismus und könnten über innovative Nutzungskonzepte der traditionellen Pflanzen einen notwendigen Beitrag zu nachhaltigen Wertschöpfungsketten und zur Unterstützung des Friedens beitragen.

Gustavo Petro wird dies nicht allein und nicht nur in Kolumbien schaffen können – er braucht auch in diesem Politikfeld progressive Ansprechpartnerinnen in der Region, in Europa und Deutschland. Zu hoffen ist, dass durch ein entschiedenes Vorgehen in Kolumbien auch die USA ihr aktuelles Vorgehen überdenken und sich dem wichtigsten Verbündeten in Lateinamerika bei einer Neubewertung in Bezug auf Drogenpolitik anschließen.

Verweigern sich die internationalen politischen Akteure einer Debatte, besteht die Gefahr, dass der fehlgeleitete „War on Drugs“ und die damit einhergehende Umweltzerstörung in großen Teilen der Andenländer sowie Morde und Gewalt an ihren Bewohnerinnen weitere 50 Jahre fortgesetzt werden. Heute  besteht noch etwas Hoffnung, etwas zu ändern.