Nur selten hat Chile so viel internationale Aufmerksamkeit erfahren wie in den letzten Tagen. In dem schmalen Andenland fand einer der weltweit spannendsten demokratischen Prozesse statt, der diesen Sonntag vorläufig ein dramatisches Ende nahm. Mit rund 62 Prozent der abgegebenen Stimmen haben die Chilenen und Chileninnen den Entwurf über eine neue Verfassung abgelehnt. Beim Wahlgang mit Wahlpflicht haben rund 13 Millionen der 15 Millionen Wahlberechtigten ihre Stimme abgegeben und klargemacht, dass die überwiegende Mehrheit den aktuellen Verfassungsentwurf nicht will. Der Verfassungsprozess ist damit aber nicht am Ende – dies hat nicht nur die Regierung bereits angekündigt, sondern auch Teile der Rechten haben sich für einen erneuten Prozess und dessen Unterstützung noch am Wahlabend positioniert.

Dennoch scheint der Versuch, die politische und soziale Krise, die sich 2019 in einer monatelangen sozialen Revolte auf den Straßen des Landes manifestiert hatte, mit einem Mehr an Demokratie zu lösen, auf den ersten Blick gescheitert. Bei genauerer Betrachtung ist das Ergebnis vielschichtiger und zeigt, dass eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren zum Scheitern des Entwurfs beigetragen haben.

2020 hatten sich rund 78 Prozent für eine neue Verfassung ausgesprochen – doch irgendwo unterwegs ging die Zustimmung der Bevölkerung verloren.

Begonnen hatte der Prozess 2019, als die damalige rechtskonservative Regierung zur Lösung der heftigen sozialen Proteste eine der Hauptforderungen der Protestbewegung aufgegriffen hatte und einen partizipativen Prozess zur Erarbeitung einer neuen Verfassung im Kongress aushandelte. In einem ersten Referendum im Jahr 2020 hatten sich rund 78 Prozent für eine neue Verfassung ausgesprochen und auch den Weg einer gewählten verfassungsgebenden Versammlung favorisiert. Nach einem Jahr Arbeit hatte der gewählte und paritätisch besetzte Konvent einen Entwurf für eine neue Verfassung vorgelegt. Formal ein demokratischer und erfolgreicher Prozess – doch irgendwo unterwegs ging die Zustimmung der Bevölkerung verloren. Die Gründe dafür sind vielfältig:

Zum einen schürten die Rechten unter dem bewussten Einsatz von Fake News und Desinformation Angst und Unsicherheit, und der Verfassungskonvent verspielte massiv Vertrauen bei der Bevölkerung aufgrund von Schlagzeilen über absurde Maximalforderungen oder die Selbstinszenierung einiger Mitglieder. Problematisch war außerdem, dass die neue, junge Regierung unweigerlich mit dem Prozess und der neuen Verfassung identifiziert wurde und die Abstimmung auch in Teilen ein Votum über die neue Regierung war – welche mitunter Fehler in ihren ersten Monaten nach der Amtsübernahme machte. Zudem macht auch die Teuerung vor Chile nicht Halt. Die Inflationsrate liegt bei einem jährlichen Durchschnitt von 13 Prozent, die höchste seit Jahrzehnten. Dies und die Auswirkungen der Corona-Pandemie wirken sich negativ auf den politischen Veränderungsmut aus.

Ein weiterer Grund für das Ablehnen des Entwurfs ist die Fragmentierung des progressiven Lagers, welches zu spät und zu zögerlich in die Kampagne für das Apruebo (Zustimmung) eingestiegen ist. Das Lager der Befürworter war zu wenig in der Lage, der Kampagne ein eigenes, geeintes und positives Narrativ entgegenzusetzen, da es phasenweise getrieben war von der Richtigstellung der Fake News und Desinformation. Zu guter Letzt versuchte der Verfassungstext eine zeitgemäße Antwort auf die akkumulierten Forderungen sowohl der alten wie auch der neuen sozialen Bewegungen der letzten 30 Jahre zu geben, was in einem der bis dato progressivsten Verfassungsdokumente weltweit mündete, aber eben die Mehrheit der chilenischen Gesellschaft nicht ausreichend mitgenommen hatte.

Der Text des Verfassungsentwurfs war am Ende wohl der geringfügigste Grund für die Ablehnung.

Allerdings war der Text selbst am Ende wohl der geringfügigste Grund für die Ablehnung. Vielmehr – so legen es zumindest die Umfragen nahe – war es die wenig überzeugende Performance der Konvention wie auch der politischen Klasse im Allgemeinen, die das Negativvotum beförderten. Für eine genaue Einschätzung braucht es allerdings weitere Analysen, denn schließlich hat bei dieser Wahl aufgrund der Wahlpflicht ein Teil der Gesellschaft gewählt, der sonst solchen Abstimmungen eher fernbleibt – welche Beweggründe hier genau zugrunde lagen, kann mit Sicherheit noch nicht gesagt werden. Dem Anschein nach haben die Chilenen und Chileninnen vor allem ihrem Misstrauen gegenüber einer entfremdeten politischen Klasse Luft gemacht.

Für die progressiven Kräfte ist es eine herbe Niederlage, während die Rechte vom Ergebnis profitiert, obgleich es nicht automatisch als ein Votum für sie gewertet werden darf. Zugleich muss aber auch die Macht der Manipulation durch Fake News und Desinformation in den Händen einer allzu konzentrierten Medienlandschaft wie auch ein ungleiches Verhältnis an finanziellen Mitteln (70 Prozent zu 30 Prozent) der jeweiligen Kampagnen Berücksichtigung bei der Bewertung  finden.  

Die Lehren, die sich aber schon jetzt aus dem Scheitern des Verfassungsreferendums ziehen lassen, sind weitaus einfacher als die Ursachenforschung, denn sie verweisen auf ein paar Prinzipien, die den Erfolg demokratischer Verfahren begünstigen: Zum einen bedarf es breiter Allianzen, um ein Transformationsprojekt dieses Ausmaßes auf den Weg zu bringen. Ohne einen Kompromiss, der auch die Gegner miteinbezieht, kann keine breite Unterstützungsmacht generiert werden. Zudem – und dies wurde schon angesprochen – leben wir in Zeiten, in denen die Wirkungsmacht von Fake News enorm ist und es guter Strategien bedarf, um den Falschnachrichten ebenso wirkungsvoll zu begegnen. Und drittens, und dies ist sicherlich eine Lehre, die vor allem das progressive Lager betrifft, ist ein geschlossenes, geeintes Auftreten für die Sache zentral, um bei der Bevölkerung das notwendige Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Akteure zu sichern.

Die Vorstellung, dass Chile einfach zur alten Ordnung zurückkehren könnte, ist schlichtweg unrealistisch.

Mit der Ablehnung des Entwurfs steht Chile und vor allem die Regierung vor der Herausforderung, einen Fahrplan für einen neuen Verfassungsprozess zwischen den politischen Lagern zu verhandeln und diesen Prozess anzuleiten – obgleich sie selbst durch das Ergebnis enorm geschwächt wurde. Formal bleibt zunächst die alte Verfassung in Kraft, jedoch ist die Vorstellung, dass Chile einfach zur alten Ordnung zurückkehren könnte, schlichtweg unrealistisch. Dies haben selbst Teile der politischen Rechten verstanden und noch am Wahlabend selbst die Notwendigkeit und Bereitschaft eines neuen Verfassungsprozesses beteuert.

Die moderate Rechte, die für einen neuen Verfassungsprozess steht und sich durch das Ergebnis gestärkt fühlt, wird die Konditionen diktieren wollen. Der Präsident muss eine zentrale Rolle einnehmen und sein ganzes Geschick einsetzen, um nicht nur das Lager einer enttäuschten und zersplitterten Linken hinter sich zu einen, sondern auch den tiefen Graben zwischen den progressiven Kräften und einer triumphierenden und in Teilen widerwilligen Rechten zu überbrücken. Zugleich muss eine Gesellschaft eingebunden werden, die zwar durchaus veränderungswillig scheint, sich aber von festgefahrenen (neoliberalen) Denkmustern und Misstrauen in die politische Elite nicht so einfach zu lösen vermag.

Somit scheint der Traum einer tiefgreifenden Transformation qua neuer Verfassung einer mühsamen Sisyphusarbeit weichen zu müssen. Dies aber wird sich erst in den nächsten Monaten zeigen und hängt auch davon ab, ob der Teil der Bevölkerung, der all seine Hoffnungen auf Veränderung gesetzt hatte, die notwendige Geduld für einen neuen Anlauf aufbringt oder ob es erneut zu sozialen Protesten und Unruhen kommen wird. Ruhig wird es in dem schmalen Land am Ende der Welt vorerst sicherlich nicht.