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Sehr erfolgreich und doch von der Abwahl bedroht – dieses Schicksal könnte Südamerikas Vorzeige-Linken in Uruguay drohen. Der kleine Staat am Rio de la Plata ist nach fast 15 Jahren progressiver Regierungen das demokratischste, sozial und wirtschaftlich am wenigsten ungleiche und gemessen am Pro-Kopf-Einkommen auch wohlhabendste Land Südamerikas. Dennoch droht die regierende Frente Amplio (FA) bei den Wahlen Ende Oktober ihre absolute Mehrheit in beiden Parlamentskammern zu verlieren. In jüngsten Umfragen liegt sie „nur“ bei knapp 40 Prozent. Im Rennen um die Präsidentschaft dürfte es eng werden für ihren Kandidaten, den ehemaligen Bürgermeister Montevideos Daniel Martínez. 

Sein voraussichtlicher Gegner der Stichwahl, Luis Lacalle Pou von der konservativen Partido Nacional (PN), hat zwar wenige eigene Ideen und dümpelt seit Monaten unverändert bei etwa 22 Prozent. Doch er zählt im zweiten Wahlgang auf die Unterstützung all‘ derer, die ein Ziel eint: die FA abzulösen. Zum einen wären das die unter dem Ökonomen Ernesto Talvi liberal wiederbelebten „Colorados“, die in Umfragen bei 17 Prozent liegen. Und zudem eine neue, reaktionäre Bewegung namens Cabildo Abierto (CA), die wohl aus dem Stand viertstärkste Kraft wird – derzeit liegt sie bei zwölf Prozent. Hinter ihrem rasanten Aufstieg steht die tektonische Verschiebung, die auch in anderen Ländern der Region die politische Landschaft umkrempelt: die Diskreditierung der Politik und das Spiel um Angst und Abgrenzung.   

Die Bedeutung der Wahlen in Uruguay beschränkt sich daher nicht auf die Frage, ob Südamerikas Vorzeige-Linke weiterregieren kann. Sie werden auch zeigen, wie widerstandsfähig die uruguayische Gesellschaft und das progressive Projekt gegen die demokratiezersetzenden Trends unserer Zeit sind. 

Die stabilen Institutionen, das niedrige Korruptionsniveau, die politische Kultur des Dialogs und der breite republikanische Konsens bilden eigentlich eine gesunde Basis. So kommt der Wahlkampf bislang ohne große Skandale aus. In dieser Tradition haben sich alle im Parlament vertretenen Parteien vor dem Wahlkampf in einem politischen Pakt verpflichtet, aktiv gegen die Verbreitung von Fake News zu kämpfen. Daraus ist unter anderem eine effektive überparteiliche Fakten-Check-Initiative entstanden.  

Zentrales Thema im Wahlkampf war die innere Sicherheit. Die FA hat es nicht geschafft, dem angstgetriebenen Repressionsreflex der Opposition ein wirksames progressives Konzept entgegenzustellen. 

Doch auch wenn das Vertrauen in die demokratischen Institutionen so ausgeprägt ist wie sonst kaum irgendwo in der Region, nimmt es doch seit Jahren ab. Die politisch aktiven Unternehmer Edgardo Novick und Juan Sartori kultivieren schon länger den abwertenden Diskurs gegen „die Politiker”. Richtig erfolgreich ist damit aber der Anfang des Jahres wegen seiner Attacken auf die Justiz geschasste Ex-Armeechef Guido Manini Rios. Während sich die drei traditionellen Parteien um die Mitte streiten, punktet seine Bewegung Cabildo Abierto mit dem simplen Versprechen, endlich wieder für „Ordnung“ zu sorgen.   

Zentrales Thema im Wahlkampf war die innere Sicherheit. Manini Rios teilt Lacalle Pous alarmistische Rhetorik vom „nationalen Notstand“ und die Reduzierung auf repressive Maßnahmen zur Lösung des Problems. Der rechte Flügel der PN hat mit der Unterschriftenkampagne „Leben ohne Angst“ ein Referendum erzwungen, das nun zeitgleich mit den Wahlen die Militarisierung der inneren Sicherheit zur Abstimmung stellt. Ein breites Bündnis sozialer Bewegungen und der Gewerkschaften mobilisiert gegen diese unsinnige Verfassungsreform. Selbst weite Teile der PN lehnen das reaktionäre Maßnahmenpaket ab.

Aber auch wenn das Referendum letztlich scheitern sollte: Im Falle eines Wahlsiegs wird Lacalle Pou die Befürworter einbinden müssen, um regieren zu können. Besorgniserregender ist da nur noch, dass die FA selbst es bislang versäumt hat, dem angstgetriebenen Repressionsreflex ein wirksames progressives Konzept entgegenzustellen, beispielsweise um die Resozialisierung von Straffälligen und die Qualität der öffentlichen Bildung weiter zu stärken. Inzwischen hat sie zwar einen ausgewogenen 12-Punkte-Plan vorgelegt, doch das Thema bleibt im Wahlkampf ein wenig zielführender Wettbewerb um die härteste Gangart.

Die arbeitnehmerfreundliche Politik der FA-Regierungen hat die Gewerkschaften in einem Maße gestärkt, dass gegen sie keine Regierung Politik wird machen können.

Erfolgreicher war die FA in den vergangenen Jahren bei der Verankerung von Bürgerrechten. Hier hat sie kulturelle Hegemonie gewonnen. Keine der großen Parteien greift diese Agenda im Wahlkampf offen an. Allerdings verbirgt sich hinter der in Teilen der bürgerlichen Opposition beliebten Forderung nach der „Wiederherstellung traditioneller Familienwerte“ durchaus Widerstand gegen die legale Abtreibung, die Gleichstellung der gleichgeschlechtlichen Ehe, die LGBTI-Rechte, die Cannabisregulierung. Dieser Widerstand kommt auch von Seiten der evangelikalen Kirchen, die in der PN derzeit an Einfluss gewinnen.

Diese Akteure fahren konstante Attacken gegen die sogenannte „Gender-Ideologie“ und erzwangen ein Prä-Referendum zur Abschaffung des jüngst beschlossenen Gesetzes zur Verringerung der strukturellen Diskriminierung transsexueller Menschen. Dieses fiel mit nur zehn Prozent Unterstützung der Wahlberechtigten allerdings durch. Die enormen gesellschaftspolitischen Fortschritte werden in Uruguay dort verteidigt, wo sie auch ihren Ursprung haben: auf den Straßen. Zehntausende demonstrieren regelmäßig für ihre Vertiefung.    

Einig ist sich die Opposition rechts der Mitte beim zweiten zentralen Wahlkampfthema: Wirtschaft und Arbeit. Mittels einer alarmistischen Notstandsrhetorik verweisen sie auf die steigende Staatsverschuldung und die zuletzt rückläufige Zahl von Arbeitsplätzen. Ihre altbekannten neoliberalen Rezepte der Austerität und Deregulierung stellen sie aber nicht allzu offensiv in den Vordergrund – unter anderem, weil der große Nachbar Argentinien unter Präsident Mauricio Macri mit ebendieser Strategie derzeit spektakulär scheitert. Uruguay hingegen befindet sich allen jüngeren Konjunkturdellen und regionalen Krisen zum Trotz noch immer in der längsten Wachstumsphase seiner Geschichte – und hat zudem bewiesen, dass Umverteilung und die Ausweitung der Arbeitnehmerrechte nachhaltiges Wachstum schafft.

Die arbeitnehmerfreundliche Politik der FA-Regierungen hat die Gewerkschaften in einem Maße gestärkt, dass gegen sie keine Regierung Politik wird machen können. Dies ist der größte Garant gegen die Unterwanderung des Prinzips der Kollektivverhandlung und gegen sozialpolitische Kahlschläge. Und eine Verschlankung des Staates inklusive Steuersenkungen werden die Konservativen nicht umsetzen können, ohne ein anderes Wahlversprechen zu brechen: die Leistungen in Bildung, Gesundheit und Sicherheit nicht zu kürzen – just die drei Bereiche, in denen die FA den Staat ausgebaut hat.    

Dass die Frente Amplio gegen eine derart ideenarme Opposition in der Defensive ist, hat viel mit dem unvermeidbaren Verschleiß nach 15 Jahren Regierungsarbeit zu tun. 

Dass die Frente Amplio gegen eine derart ideenarme Opposition in der Defensive ist, hat viel mit dem unvermeidbaren Verschleiß nach 15 Jahren Regierungsarbeit zu tun. Allerdings hat sie sich den Angstdiskurs auch angeeignet, nicht nur beim Thema Sicherheit. Die Angst vor einer Rezession – die letztlich nie kam – hat die gesamte letzte Regierungsperiode überschattet und die FA in ihrem Reformeifer gebremst. Sie hatte vor allem nicht den Mut, die nötigen Interessenkonflikte anzugehen, um das auf Agro-Industrie und Primärexporten basierende Entwicklungsmodell auf die nächste Stufe zu heben.

Dessen Grenzen werden derzeit offensichtlich in Form von verlangsamtem Wachstum, zurückgehender Beschäftigung und verseuchtem Wasser. Erst jetzt im Wahlkampf entdeckt die FA Themen, in denen die Konservativen sie links zu überholen drohen: die sozial-ökologische Transformation, die Diversifizierung des Produktionsmodells und den Schutz der natürlichen Ressourcen. Zugleich verfolgt die FA aber weiter eine Investitions- und Handelspolitik, die die Rohstoffabhängigkeit noch weiter vertieft.  

Positiv ist, dass die FA nun zur personellen und inhaltlichen Erneuerung gezwungen ist. Die Führungstroika um Pepe Mujica, Danilo Astori und Tabaré Vazquez, alle drei um die 80, tritt in den Hintergrund. Erst die Wahlen werden zeigen, welche Anwärterinnen und Anwärter auf die Nachfolge ihre Ansprüche mit Stimmen untermauern können und wie das neue Kräfteverhältnis innerhalb der FA aussieht. Der von vielen internen Reibereien begleitete Übergang von zweiter zu dritter Generation in der Führung der Frente erklärt zum Teil, warum die aktuelle Kampagne schlechter koordiniert ist und später in Tritt kommt als vorige. 

Die Angst vor dem Verlust ihres wichtigsten politischen Kapitals, der einzigartigen Einheit des Mitte-Links-Spektrums unter dem Dach der FA, führt im Wahlprogramm jetzt zu einigen verzagten Formelkompromissen. Das gilt insbesondere in den drei Bereichen, die junge Menschen derzeit politisch am meisten bewegen: Feminismus, Ökologie und Alternativen zur repressiven Sicherheitspolitik. Martínez‘ Wahlprogramm reagiert darauf zum Beispiel mit dem Versprechen eines paritätisch besetzten Kabinetts. Und innovative, feministische neue Sektoren wie „El Abrazo“ treten an in der Absicht, diesen Anliegen sozialer Bewegungen innerhalb der FA Gehör zu verschaffen. Inwieweit dies gelingt, wird über die Zukunftsfähigkeit der FA und ihrer Einheit mitentscheiden.   

Es steht also mehr auf dem Spiel in Uruguay als nur die Frage, wer regiert. Klar ist, dass Uruguays nächste Regierung mit einem stärker fragmentierten Parlament wird verhandeln müssen. Die Gefahr ist groß, dass dies radikale Kräfte weiter stärkt. Auch wenn also vorerst keine Kahlschläge drohen wie in Brasilien oder Argentinien: Die Gewerkschaften und sozialen Bewegungen werden mehr denn je gebraucht, um sich der zersetzenden Angstmache und den reaktionären und neoliberalen Exzessen in den Weg zu stellen – und um die Erneuerung der FA einzufordern und voranzutreiben.