Lula ist Christ. Lula hat keinen Pakt mit dem Teufel.“ Das Kampagnenteam des Herausforderers Luiz Inacio Lula da Silva sah sich gezwungen, dieses Statement kurz nach dem ersten Wahlgang der brasilianischen Präsidentschaftswahlen Anfang des Monats zu veröffentlichen. Zuvor war ein Video verbreitet worden, in dem Lula in die Nähe von Satanisten gerückt wurde. Der Wahlkampf im Vorfeld des zweiten Wahlgangs am 30. Oktober war schmutzig und von vielen, teils absurden, Falschmeldungen geprägt. Nur am Rande ging es um die drängenden Probleme des Landes: die steigende Zahl an Hungernden, struktureller Rassismus, die Rekordabholzung im Amazonas, starke wirtschaftliche Abhängigkeit von Primärgütern, massive ökonomische und gesellschaftliche Ungleichheiten, oder Wirtschaftspläne für die Zeit nach der Wahl in einer sich verändernden geopolitischen Weltordnung.

Stattdessen beherrschten scheinbar Nebensächlichkeiten und teils absurde Anschuldigungen die öffentliche Wahrnehmung. So musste Lula eben erklären, keinen Pakt mit dem Teufel zu haben. Von Jair Bolsonaro wurden Videos veröffentlicht, die ihn in die Nähe von Kannibalismus und Pädophilie rückten. Daneben versuchte Lulas Kampagne auf die zahlreichen Versäumnisse und Skandale der Regierungszeit Bolsonaros hinzuweisen, dessen Kampagne wiederum erneut hauptsächlich die Korruptionsvorwürfe gegen Lula und seine Arbeiterpartei PT (Partido dos Trabalhadores) aufgriff. Obwohl die Urteile gegen Lula aufgehoben wurden, wirken die Anschuldigungen gegen ihn weiter nach. Eine ernsthafte Debatte über die Zukunft des größten Landes Südamerikas war hingegen kaum zu erkennen.

Eine Woche vor der Wahl, ist das Rennen denkbar knapp: 49 Prozent geben an, Lula wählen zu wollen, gegenüber 45 Prozent für Bolsonaro. Währenddessen ist die Ablehnung gegenüber beiden Kandidaten sehr hoch. Die Umfragen für den ersten Wahlgang lagen jedoch bereits zum Teil deutlich daneben. Vor allem Bolsonaro hatte deutlich besser abgeschnitten, als von vielen Instituten vorhergesagt. Nun scheint trotz der Unsicherheiten der Umfragen klar, dass es ein ganz enges Rennen wird – trotz aller offensichtlicher Verfehlungen und der objektiv schlechten Bilanz der Regierung Bolsonaros. Warum? Neben dem inhaltsleeren Wahlkampf gehören weitere Punkte zur Erklärung.

Wieder einmal wurden massiv Falschmeldungen verbreitet. Das Oberste Wahlgericht musste mehrfach eingreifen und beschreibt die Fake-News-Kampagnen als sehr aggressiv. Mehr als 500 Warnmeldungen täglich habe die Behörde seit dem ersten Wahlgang erhalten. In der letzten Woche vor dem zweiten Wahlgang geht das Gericht noch stärker gegen Falschmeldungen vor. So wurden mehrere Posts gelöscht oder Lula das Recht zugestanden, 116 Videos in der Zeit im TV zu veröffentlichen, die eigentlich für Bolsonaro vorgesehen war.

Die extreme Rechte ist der Linken in der digitalen Welt weiterhin meilenweit voraus.

Es geht aber auch um die digitale Kommunikation insgesamt, praktisch ein Teil der Basisarbeit des Bolsonarismo. Über Social Media werden pausenlos Informationen verschickt und Anhänger mobilisiert. Die Botschaften erreichen auch Zielgruppen außerhalb der geschlossenen Messenger-Dienste und werden so auch etwa in Familien- und Freundesgruppen oder Sportvereinen geteilt. Die extreme Rechte ist der Linken in der digitalen Welt weiterhin meilenweit voraus.

Eine Rolle spielt auch die Wirtschaft. 33 Millionen Menschen in Brasilien sind derzeit von Hunger betroffen, der Reallohn hat sich nur für wenige erhöht und die Preise für Lebensmittel sind zum Teil drastisch gestiegen. Lula findet traditionell bei einkommensschwachen Familien den größten Zuspruch, die vielfach direkt von den Sozialleistungen seiner Regierungszeit profitiert haben. Bolsonaro verwies mit Blick auf die Wirtschaft stets auf die Auswirkungen der Pandemie und des Kriegs in der Ukraine. Zudem nutzte er gezielt Entlastungspakete und Hilfszahlungen im Wahlkampf. Dazu gehören Zahlungen an Taxi- und Lkw-Fahrer, Versprechen weiterer Sonderzahlungen und insbesondere das Auxilio Brasil, eine Hilfszahlung an Bedürftige von mindestens 600 Reais (circa 115 Euro).

Auch wenn einkommensschwache Personen weiterhin Lula präferieren, scheint Bolsonaro mittlerweile zu profitieren. Knapp ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung erhält entweder direkt das Auxilio Brasil oder wohnt mit jemanden zusammen, der die Zahlungen erhält. Nach dem ersten Wahlgang hatte die Regierung die Auszahlung des Auxilio Brasil vorgezogen, so dass jeder das Geld noch vor dem zweiten Wahlgang am 30. Oktober bekommt.

Die ideologische Spaltung des Landes scheint verfestigt und das weiß Bolsonaro gut zu nutzen, der sich als Verteidiger der Nation, traditioneller Familienwerte und des christlichen Glaubens stilisiert. Sein Slogan: „Brasilien über alles. Gott über allen.“ Schon bei der Wahl 2018 spielten daher evangelikale Kirchen eine wichtige Rolle. In diesem Segment holte Bolsonaro 2018 mehr als 60 Prozent der Stimmen – so wie auch jetzt im ersten Wahlgang. Ein gewichtiger Teil der Evangelikalen macht aktiv Stimmung für Bolsonaro und ist wenig an Sachthemen interessiert.

Ein gewichtiger Teil der Evangelikalen macht aktiv Stimmung für Bolsonaro.

Brasilien war einst das größte katholische Land der Welt, nun sind evangelikale Kirchen auf dem Vormarsch und könnten bereits 2030 den Katholizismus als weitverbreitetste Religion ablösen. Sie vertreten ein ultrakonservatives Weltbild und haben in Bolsonaro und dem Bolsonarismo einen Verbündeten gefunden. Zwar wurden bei der Anfang Oktober ebenfalls stattfindenden Wahl zur Abgeordnetenkammer weniger Evangelikale als erwartet gewählt, aber mit Bolsonaro verbündete Parteien und Kandidaten konnten deutlich zulegen. Dazu zählen zum Beispiel die ultrakonservative ehemalige Familienministerin und nun gewählte Senatorin, Damares Alves. Oder der Abgeordnete Nikolas Ferreira, der über 1,4 Millionen Stimmen erhielt, bundesweit die meisten.

Wenn auch kein monolithischer Block, sind die Evangelikalen doch weiter ein politischer Machtfaktor, den Bolsonaro zu nutzen weiß. So nutzte er Religion als Angriffspunkt gegen Lula, dem unterstellt wurde, Kirchen schließen zu wollen. Auch diese Anschuldigungen bewegten Lula zu einem offenen Brief an Evangelikale, in dem er sich eine Woche vor dem zweiten Wahlgang öffentlich zur Religionsfreiheit bekennt. Doch am Ende geht es auch um Präsenz. Während die Linke diese in vielen marginalisierten Regionen verloren hat, sind die evangelikalen Kirchen vor Ort vertreten.

Schließlich ist auch die generelle gesellschaftliche Abneigung gegen Lula und die Linke weiter sehr hoch. 46 Prozent geben an, Lula unter keinen Umständen wählen zu wollen. Der sogenannte Anti-Petismo wird insbesondere durch das Korruptionsnarrativ sowie den Verweis auf „linke“ Autokraten wie Daniel Ortega gestärkt. Obwohl die Urteile gegen Lula aufgehoben wurden, ist der Ausspruch „Lieber Bolsonaro, als einen Dieb“ zum geflügelten Wort geworden. Dabei wird Bolsonaro selbst mit zahlreichen Korruptionsskandalen in Verbindung gebracht.

Egal wie die Wahl ausgeht, Bolsonaro hat die Beziehung zu seinen Verbündeten festigen können.

Egal wie die Wahl ausgeht, Bolsonaro hat die Beziehung zu seinen Verbündeten festigen können: zur mächtigen Agrobusinesselite, zu Teilen der Wirtschaftselite, evangelikalen Kirchen, erzkonservativen Gruppen sowie Militärs und Polizei, aber auch zu radikalen Gruppen. Durch gezielte Klientelpolitik hat er diese Gruppen weiter an sich gebunden.

Bei einem Wahlsieg Bolsonaros muss sich das Land auf eine autoritäre Agenda einstellen. Bereits vor der Wahl hat das Lager um Bolsonaro laut über die Erweiterung von Richterposten am Obersten Gerichtshof nachgedacht – die Bolsonaro dann ernennen könnte. Sollte Lula die Wahl am 30. Oktober gewinnen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Bolsonaro das Wahlergebnis nicht anerkennen wird. Auch wenn er und sein Umfeld damit immer wieder kokettiert haben, ist zumindest die Möglichkeit eines Militärputsches gering. Vielmehr wird Bolsonaro die lange vorbereitete Erzählung des Wahlbetrugs nutzen, um seine Anhänger weiter an sich zu binden. Seit Monaten beschimpft er öffentlich Richter des Wahlgerichts und des Obersten Gerichtshofs und zweifelt die Zuverlässigkeit der elektronischen Wahlurnen an. Zudem wird er mit seinen Verbündeten im Senat und in der Abgeordnetenkammer weiter versuchen, demokratische Prozesse zu stören.

Die Kongresswahlen vom 2. Oktober haben drei größere Blöcke gestärkt: die extreme Rechte, geführt durch den Bolsonarismo, einen konservativen opportunistischen Block des sogenannten Centrão sowie eine progressive Linke, geführt durch die PT. Die extreme Rechte konnte ihre Position durch traditionelle Bündnispolitik und geschickte digitale Kommunikation stärken, verbunden mit dem Narrativ der Anti-Systempolitik.

Entscheidender Machtfaktor bleibt der opportunistische Block, der derzeit mit Bolsonaro verbunden ist, aber wenig Bündnistreue verspricht. Um sich die Unterstützung in der Abgeordnetenkammer zu sichern, hatte Bolsonaro dem Centrão mehr Macht zugesprochen und Sonderzahlungen erhöht. Dieser sogenannte Orçamento Secreto ist eine Sonderregelung, die dem Kongress einen erheblichen Teil öffentlicher Mittel zuspricht, über die weitestgehend ohne Transparenz verfügt werden kann. Sollte Lula gewinnen, ist er ebenfalls auf den Block des Centrão angewiesen. Denn die Linke hält nicht genügend Sitze, um ein mögliches Amtsenthebungsverfahren zu verhindern oder eine progressive Agenda umzusetzen. Der Kongress ist so mächtig wie nie, was in der jetzigen Form jedoch nicht die Demokratie stärkt.

Nun aber hat sich eine Politik jenseits demokratischer Spielregeln etabliert.

Im zersplitterten Parteiensystem Brasiliens waren komplexe Koalitionen immer Teil des politischen Aushandlungsprozesses. Nun aber hat sich eine Politik jenseits demokratischer Spielregeln etabliert, die nicht an Sachthemen interessiert ist, sondern in großen Teilen an ideologischen Linien gespalten ist. Während traditionelle große konservative Parteien derzeit große Schwierigkeiten haben, sich zu positionieren und Wählerstimmen zu mobilisieren, hat die extreme Rechte derzeit eine Art Hegemoniestatus.

Zur Wahrheit gehört auch, dass ein großer Teil des Landes die Regierung Bolsonaros und die von ihm vertretenen Werte mitträgt und sich von ihr angesprochen fühlt, während es derzeit kein konservatives Gegengewicht gibt. Bolsonaros Partei ist nicht nur bei den Kongresswahlen vom 2. Oktober die mit Abstand stärkste Kraft geworden. Auch bei den am gleichen Tag stattfindenden Gouverneurswahlen wurden ideologische Hardliner des Bolsonarismo und enge Verbündete Bolsonaros gewählt oder liegen bei der Stichwahl – wie Tarcisio Freitas in São Paulo – vorne. Bolsonaro erhält breite politische Unterstützung aus den Bundesstaaten, wie von den gewählten Gouverneuren in Minas Gerais oder Rio de Janeiro. Gesellschaftlich ist der Bolsonarismo mittlerweile fest in Brasilien verankert und steht teils unversöhnlich dem demokratischen Spektrum gegenüber. Am 30. Oktober entscheidet Brasilien, wer zukünftig das Land führen wird. Die Spaltung des Landes wird voraussichtlich auch nach der Wahl weiter bestehen, gesellschaftlich wie auch politisch.