Der Aufstieg ultrarechter Kräfte ist zwar kein neues Phänomen und auch nicht nur in Europa zu beobachten, aber auf dem lateinamerikanischen Kontinent gab es bis vor kurzem keine klare Präsenz rechtsextremer Parteien oder Führungspersönlichkeiten. Dies begann sich jedoch mit den Wahlsiegen von Bolsonaro in Brasilien im Jahr 2017 und Bukele in El Salvador im Jahr 2019 zu ändern. Gleichzeitig hat sich die extreme Rechte in anderen Ländern der Region organisiert und bei Wahlen an Boden gewonnen, zum Beispiel in Argentinien Libertad Avanza („Vorwärts, Freiheit“), in Peru Renovación Popular („Erneuerung des Volks“) und in Uruguay Cabildo Abierto („Offene Bürgerversammlung“). Bolsonaro hat zwar die jüngsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien verloren, aber dennoch viele Wählerstimmen auf sich vereinigen können. Daher ist es durchaus denkbar, dass die extreme Rechte in Lateinamerika kein vorübergehendes Phänomen sein wird.

Im Fall von Chile ist die extreme Rechte erst vor sehr kurzer Zeit in Gestalt der Partido Republicano in Erscheinung getreten, die von ihrem Begründer und Vorsitzenden José Antonio Kast verkörpert wird. Bei vergleichender Betrachtung dieses Falles wird deutlich, dass wir einer neuen politischen Kraft gegenüberstehen, die weltweit Verbindungen zu rechtsextremen Kreisen unterhält. Der Führungsstil unterscheidet sich jedoch von der egozentrischen Geltungssucht eines Bolsonaro in Brasilien oder eines Trump in den Vereinigten Staaten und ähnelt eher dem der rechtsextremen Gruppierungen in Europa, die sich durch mehr Zurückhaltung auszeichnen.

In der Tat sollte die Partido Republicano in Chile, ähnlich wie in einigen europäischen Ländern geschehen, als eine Art Abspaltung der konventionellen Rechten betrachtet werden, die Kritik an dieser entwickelt, vor allem nach den sozialen Aufständen Ende 2019, und insbesondere aufgrund ihrer Bereitschaft, mit der linken Mitte zu verhandeln und den Weg hin zu Verfassungsänderungen zu ebnen. Mehrere der führenden Köpfe dieser neuen Partei kommen von der klassischen Rechten (zum Beispiel José Antonio Kast und Rojo Edwards) und führen an, dass die Rechte ihren Kurs verlassen habe und es nötig sei, eindeutige Positionen zugunsten des freien Marktes und des moralischen Konservatismus zu vertreten sowie Fragen wie Kriminalität und Einwanderung mit „harter Hand“ zu begegnen.

Die Zahl der Wählerstimmen für José Antonio Kast und die Partido Republicano hat in kurzer Zeit stetig zugenommen. Während Kast bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2017 nur etwas mehr als 500 000 Stimmen bekam, stieg diese Stimmenzahl bei den zweiten Wahlen im Jahr 2021 auf rund 3,6 Millionen an. Erwähnenswert ist, dass die Partido Republicano bei den kürzlich abgehaltenen Wahlen zum Verfassungskonvent die meisten Stimmen erhielt: Sie stellt 23 Mitglieder im Verfassungsrat, der sich aus 51 Personen zusammensetzt, was ihr ein Vetorecht verleiht, mit dem sie jede Initiative blockieren kann, die Eingang in die neue Verfassung finden könnte. Dieses Gremium wird sich Anfang Juni konstituieren und Anfang November einen Vorschlag für eine Verfassung vorlegen, über die dann im Dezember dieses Jahres in einer Volksabstimmung entschieden werden soll. Die große Unbekannte ist, wie sich die Delegierten der Partido Republicano verhalten werden. Theoretisch sind zwei Varianten denkbar.

Mehrere der führenden Köpfe dieser neuen Partei kommen von der klassischen Rechten.

Die erste Möglichkeit ist, dass sie ohne Wenn und Aber rechtsextreme Positionen vertreten und damit jeden Gedanken behindern, der ihren Prinzipien zuwiderläuft. Eine mögliche Folge davon könnte sein, dass jeglicher Hinweis auf einen demokratischen und sozialen Rechtsstaat verweigert wird und man auf einen Verweis drängt, dass Frauen unter keinen Umständen einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen dürfen. Die zweite Möglichkeit besteht darin, dass sich die Partido Republicano als aufgeschlossener Akteur zeigt, der sich um breite Zustimmung bemüht und versucht, eine „Verfassung light“ zu erarbeiten, das heißt einen Verfassungstext, der eher kurz gehalten ist und wirtschaftliche sowie moralische Fragen nicht eng vorgibt, sodass diese von künftigen Mehrheiten geregelt werden können.

Diese zwei Varianten ergeben sich aus den beiden Gesichtern der Partido Republicano. Einerseits gibt es dort nämlich Stimmen, die sich nicht nur als dialogbereit, sondern auch als den Institutionen verbunden verstehen. Andererseits aber finden sich auch andere Strömungen, die eher dogmatisch und fanatisch sind und wenig Interesse daran zeigen, die Vielfalt der Ideen und Interessen zu respektieren, die in der heutigen chilenischen Gesellschaft nebeneinander zu finden sind. Noch ist es zu früh, um zu wissen, welche der beiden Strömungen sich am Ende durchsetzen wird, aber alles deutet darauf hin, dass es nicht einfach sein wird, ein harmonisches Verhältnis zwischen beiden aufrechtzuerhalten.

Die Auseinandersetzung zwischen diesen beiden Flügeln der Partido Republicano wird Auswirkungen haben, die weit über den Verfassungsprozess hinausgehen: Ist ihr Image das einer „normalen“ oder das einer „radikalen“ Parteiorganisation? Schon heute belegen empirische Untersuchungen, dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung diese rechtsextreme Formation ablehnt, da sie in ihr einen extremen Akteur sieht, der bestimmte zivilisatorische Mindeststandards in Frage stellt und das demokratische Zusammenleben gefährdet. Dieses schlechte Bild, das die Partido Republicano abgibt, könnte sich weiter verstärken, wenn ihr eher fundamentalistischer Flügel während des verfassungsgebenden Prozesses lautstark in Erscheinung treten sollte. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass Chile im September dieses Jahres den 50. Jahrestag des Staatsstreichs gegen Allende begehen wird. Obwohl dieses Thema die Gesellschaft weiterhin spaltet, besteht doch Einigkeit über die Verletzungen der Menschenrechte und die Brutalität unter der Diktatur Pinochets. Dennoch zeigt die extreme Rechte in Chile in dieser Frage kaum „republikanische“ Gesinnung. So verkündete José Antonio Kast, dass „Chile sich am 11. September 1973 für die Freiheit entschieden habe und das Land, das wir heute haben, den Männern und Frauen zu verdanken sei, die sich erhoben haben, um die marxistische Revolution in unserem Land zu verhindern“.

Diese Worte zeigen deutlich, dass trotz seines ruhigen Auftretens Vernunft nicht der Hauptwesenszug von Kast ist. Daher sollte es nicht überraschen, wenn die zutiefst antiliberale und antipluralistische Doktrin, die die Partido Republicano ausmacht, eher früher als später zu Tage treten sollte. Um der chilenischen Demokratie willen ist zu hoffen, dass die extreme Rechte ihre zwei Gesichter offen zeigt, damit jede Bürgerin und jeder Bürger sich eine eigene Meinung über die Risiken dieses politischen Projekts bilden kann.

Aus dem Spanischen von Stephan Wirtz