Mittelamerika ist das demokratische Sorgenkind der Region. In Nicaragua schaltet der alternde Revolutionär Daniel Ortega sämtliche Institutionen des Landes gleich und regiert inzwischen repressiver als der einst vom ihm bekämpfte Diktator Anastasio Somoza. Seine Kritiker sind verstummt, im Gefängnis oder im Exil. In El Salvador sind seit eineinhalb Jahren die Grundrechte suspendiert und der mit den Sicherheitskräften regierende, populäre Millenial-Bitcoiner Nayib Bukele bereitet gerade seine Wiederwahl vor, obwohl die Verfassung diese verbietet. Selbst das demokratische Vorzeigeland Costa Rica wählte einen Außenseiter mit Hang zum Populismus.

Guatemala wiederum ist seit langem fest in der Hand einer kleptokratischen Elite, die mithilfe kooptierter Institutionen den Staatshaushalt aussaugt. Doch jetzt schwemmte eine Popularitätswelle unerwartet den Korruptionsbekämpfer Bernardo Arévalo an die Macht. Der ehemalige Diplomat, Sohn des ersten demokratischen Präsidenten Guatemalas, Juan José Arévalo (1945–1951), hatte in den Umfragen vor der ersten Runde im einstelligen Prozentbereich gelegen.

Ein Sieg war ein scheinbar hoffnungsloses Unterfangen. Kaum war es in der Vergangenheit einem Antisystemkandidaten gelungen, in Umfragen nach vorne zu kommen, wurde er von einer willfährigen Justiz aus dem Rennen genommen. Die seit Jahrzehnten herrschende Elite machte so unmissverständlich klar, dass sie keinen fairen, demokratischen Wettbewerb wünschte. Die Wählerinnen und Wähler verloren so den Glauben an ihre Stimme. Am Wahltag blieb fast die Hälfte den Urnen fern, und jeder Vierte machte seine Stimme ungültig oder warf einen weißen Stimmzettel ein.

Es siegten die Nicht- und Protestwähler. Auf den zweiten Platz kam die von der Sozialdemokratin zur rechten Populistin mutierte Profipolitikerin Sandra Torres und auf dem dritten landete unerwartet der Abgeordnete Arévalo von der Bürgerbewegung Semilla. Eine große Überraschung. In einem aussichtslos erscheinenden Szenario stolperte plötzlich jemand auf die Bühne, der dank seines Pedigrees und seiner vorherigen Arbeit im Kongress eine glaubwürdige Alternative zum System bot. Das brachte das sorgsam errichtete Kartenhaus der Elite zum Einsturz: Am Sonntag erhielt er bei der Stichwahl 58 Prozent der Stimmen.

Der Sieg des 64-jährigen Arévalo ist ein Lehrstück für eine gebeutelte Region.

Der Sieg des 64-jährigen Arévalo ist ein Lehrstück für eine gebeutelte Region mit noch jungen Demokratien, die auf koloniale Gesellschaftsstrukturen aufgepfropft wurden – hält aber auch für Europas ermüdende politische Systeme interessante Lektionen bereit.

Erstens: Die Jugend ist nicht per se unpolitisch. Lateinamerika ist ein junger und technikaffiner Kontinent, in dem soziale Netzwerke eine zentrale Rolle bei der Kommunikation spielen. Derzeit sind 237 Millionen unter 25 Jahre alt. Sie stellen damit ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Doch bislang schlug sich dies wenig im politischen Alltagsgeschäft nieder, das von klientelistischen, konservativen Strukturen, vertikaler Kommunikation und ideologischen Grabenkämpfen der Vergangenheit (Marxisten gegen Konservative) geprägt war. Die Jugend fand keinen Platz in diesem System, mit dessen Idealen, Strukturen und Führungsfiguren sie nichts anfangen konnte. Sie suchte ihr Heil in Migration oder in kulturellen Protestformen wie Musik, Film oder Straßenkunst. Doch wird sie mit den richtigen Themen abgeholt und werden ihr Spielräume gegeben, entfaltet sie ein riesiges Potenzial, wie das Beispiel Guatemala zeigt. Dort gingen bei dieser Wahl so viele junge Menschen wählen wie noch nie.

Semilla hat seinen Ursprung in den Universitäten, wo in den vergangenen zehn Jahren, wenig bemerkt vom Rest der Öffentlichkeit, in gemeinsamen Denkprozessen eine intellektuelle Konvergenz entstand zwischen jungen Professorinnen und Studenten. Aus der kritischen Analyse wurde eine Bewegung, die bereits 2015 treibende Kraft hinter den Antikorruptionsprotesten war. Die Protestwelle mündete zunächst in einen konservativen Rückschlag. Aber der Esprit überlebte. Aus ihm entstand 2017 die Partei Semilla, die 2019 eine Handvoll Abgeordnete in den Kongress entsandte – die meisten jünger als 40 Jahre und politische Neulinge. Die sich nicht kooptieren ließen vom System, sondern dessen Mauscheleien aufdeckten und über soziale Netzwerke leicht verständlich mit der Öffentlichkeit kommunizierten. Semilla war von Beginn des Wahlkampfes an trotz dümpelnder Umfragen immer eine der Parteien mit den meisten Followern und Interaktionen in den sozialen Medien – und zwar real, ohne Bots.

Zweitens: Eine Kampagne ohne Geld ist eine miese Kampagne, lautet ein geflügeltes Wort in Lateinamerika. Man hört dies oft aus dem Mund von Politikern der älteren Generation, die so ihrem Unmut Luft machen, dass das Geld und das politische Marketing inzwischen den politischen Wettbewerb so verzerren, dass Programme zweitrangig werden und Ideen kaum noch zu den Wählerinnen und Wählern durchdringen. Semilla hat bewiesen, dass Kreativität wichtiger sein kann als Geld, sofern das damit verbundene Narrativ einen Nerv der Bevölkerung trifft – in diesem Falle den Überdruss mit einer korrupten Elite.

Theoretisch ist die Wahlkampffinanzierung in Guatemala reguliert. Kein Kandidat darf mehr als knapp vier Millionen Euro ausgeben. Kontrolliert wird das jedoch nicht, und viel Unterstützung wird in bar geleistet oder als Sachspende. Üblicherweise versuchen die Parteien, sich in Wahlwerbung und Geschenken gegenseitig zu übertrumpfen. Semilla wechselte das Spielfeld und machte aus der Not eine Tugend. Kein Geld für Hunderte von Wahltransparenten? Stattdessen hängten die Parteimitglieder die wenigen Plakate alle paar Tage um, filmten sich dabei, publizierten es auf sozialen Medien und gingen viral. Man lehnte es ab, sich von den traditionellen Unternehmern des Landes finanzieren zu lassen – und schaffte es so gratis in die Medien.

Theoretisch ist die Wahlkampffinanzierung in Guatemala reguliert.

Ein älterer, etwas trocken wirkender Präsidentschaftskandidat? Aufgepeppt zum verständnisvollen „Onkel Bernie“ wurde seine Karikatur in Anlehnung an Bernie Sanders eines der Wahlkampfsymbole. Das war neu, kreativ und nährte das Narrativ von David, der gegen die Goliath-Korruption kämpft. Semilla gab in der ersten Runde für jede Wählerstimme nach eigenen Angaben umgerechnet 80 Cent aus, unterlegene Konkurrenten zum Teil das 75-Fache.

Drittens: Mag das System auch noch so autoritär, unfair und korrupt sein – der Kampf um demokratische Spielräume ist unverzichtbar, denn er zahlt sich irgendwann aus. Semilla schaffte es innerhalb von nur sechs Jahren seit der Gründung, die Präsidentschaft zu erobern. Die Kürze und der kleine Parteienapparat waren von Vorteil: Man kannte sich, man hatte dieselben Werte, und man machte sich einen Spaß daraus, die Korruption sichtbar zu machen. Die Eroberung der Macht war zwar ein Ziel, das man aber in weiter Ferne glaubte. Weshalb die Taktierereien und persönlichen Machtspielchen, die so oft die klassische Parteipolitik überlagern, kein Thema waren.

Die Elite unterschätzte das Potenzial von Semilla. Deren Abgeordnete, koordiniert von Arévalo, waren nur eine kleine Minderheit, urbane Intellektuelle, die den Status quo im Kongress nicht gefährdeten. Aber sie waren ein Sandkorn im Getriebe. Sie brachten progressive Gesetzentwürfe ein – etwa für einen fairen Wettbewerb in einer von Monopolen verzerrten Wirtschaft. Immer wieder stellten sie Abgeordnete zur Rede, die korrupte Praktiken unterstützten. In flotten Tiktok- und Youtube-Videos informierten die Musketiere die Bevölkerung über ihre Arbeit. Es war eine frische Art der politischen Bildung.

Semilla zugute kam auch die Zersplitterung der Parteienlandschaft – eine Folge der dysfunktionalen Demokratie, in der es keine Parteien, sondern nur noch Wahlvereine gibt, die sich alle vier Jahre um einen starken Mann scharen und dann die Töpfe neu aufteilen. In einem solchen Szenario sind Umfragen wenig zuverlässige Momentaufnahmen. Wechselwähler sind die Norm, die Chancen auf Ausreißer größer. Dieses Phänomen lässt sich in den letzten Jahren immer häufiger beobachten, zum Beispiel in Peru, wo keine Umfrage dem späteren Präsidenten Pedro Castillo auch nur Chancen auf den Einzug in die Stichwahl eingeräumt hatte.

Arévalos Sieg ist ein Meilenstein für Guatemala. Doch auf ihn wartet ein Hindernislauf. Für die Elite geht es um viel Geld. Schätzungen zufolge versickern jährlich fast vier Milliarden US-Dollar aus dem Staatshaushalt in den Taschen korrupter Akteure – darunter Bürgermeister, Abgeordnete, Unternehmer und Anwälte. Schon nach der ersten Runde eröffnete die gleichgeschaltete Staatsanwaltschaft – deren zwei Chefankläger stehen auf einer US-amerikanischen Liste mit korrupten Staatsdienern – einen Prozess gegen Semilla. Sie wirft der Partei vor, Unterschriften bei der Registrierung gefälscht zu haben. Der Sitz der Partei wurde durchsucht und Haftbefehl gegen Mitglieder erlassen. Von der Staatsanwaltschaft bedroht wurden auch Angestellte des Wahlgerichts, die den Sieg Arévalos zertifiziert hatten. 

Jede einzelne Frist, jede einzelne Formalität kann zu einem zermürbenden juristischen Tauziehen werden.

Unabhängige Beobachter gehen davon aus, dass diese juristische Verfolgung nun noch zunehmen wird. Gegnerin Sandra Torres sprach in der Nacht von Wahlbetrug und räumte ihre Niederlage nicht ein. Das Wahlgericht verkündete zwar die Ergebnisse und sprach von einer fairen, demokratischen Wahl, doch noch fehlt das Zertifikat, das Arévalo als Sieger ausweist. Ende Oktober endet der Wahlprozess formaljuristisch. Dann endet auch die Immunität, die jede teilnehmende Partei automatisch genießt. Dann ist selbst ein Haftbefehl gegen Arévalo oder eine Auflösung der Partei nicht mehr auszuschließen. Jede einzelne Frist, jede einzelne Formalität kann zu einem zermürbenden juristischen Tauziehen werden, bei dem die Elite die Widerstandskraft der Partei, die Unterstützung der Bevölkerung und die Toleranz der internationalen Gemeinschaft austesten kann.

Im Oktober steht außerdem die turnusmäßige Erneuerung des Obersten Gerichts durch den Kongress an. Es ist traditionell ein intransparentes Verfahren, bei dem der Elite genehme Kandidaten gewählt werden. Semilla hat mit seinen wenigen Abgeordneten kaum Einfluss auf den Prozess. Nur der Druck der Straße könnte dazu beitragen, dass vielleicht ein oder zwei nicht ganz so kompromittierte Juristen den Weg ins Oberste Gericht finden. Dennoch muss Arévalo damit rechnen, den Justizapparat gegen sich zu haben. Zwei Dutzend fähige, von der UN-Kommission gegen Straffreiheit in Guatemala (CICIG) ausgebildete Richter und Staatsanwälte sind im Exil. Zwar haben sie ihre Bereitschaft zur Rückkehr signalisiert, doch davor müssten erst einmal die gegen sie laufenden Prozesse eingestellt werden.

Tritt er trotz all dieser Hürden am 14. Januar sein Amt an, wird er mit enormen Erwartungen und wenig politischem Spielraum zu jonglieren haben. Die Gefahr, sich zu verzetteln, ist groß. Der Nachholbedarf ist immens in einem Land mit einer enormen Ungleichheit, wo über die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebt, schwache Institutionen vom Organisierten Verbrechen unterlaufen sind und die indigene Bevölkerungsmehrheit endlich auf ein Mitspracherecht hofft. 

Im neuen Kongress stellt Semilla nur 24 der 160 Abgeordneten. Die Abgeordneten sind unerfahren, voller Enthusiasmus, aber nicht unbedingt ideologisch immer auf einer Linie und diszipliniert. Arévalo rechnet auch damit, dass der Kongress ihm den Haushalt blockieren wird. Hier können internationale Hilfsgelder wichtige Brücken bauen. Darauf dürfte er zählen können. Mit ihm wird Guatemala zu einem geopolitisch wichtigen Spieler in einer notorischen Krisenregion – vor allem für die USA.

Für seine Reformvorhaben will der neue Präsident zunächst einen gesellschaftlichen Konsens suchen, und dann entsprechende Gesetzesvorschläge einbringen, um die Abgeordneten unter Druck zu setzen. Er hofft außerdem darauf, den Staatsapparat durch Transparenzregeln zu sanieren. Der Soziologe, der den Machtapparat Guatemalas dezidiert analysiert hat, weiß, worauf er sich einlässt. Aber ob seine partizipative Form des Regierens in einem Land funktioniert, in dem große Teile der Bevölkerung jahrhundertelang durch Stimmenkauf und Marginalisierung in Abhängigkeit gehalten wurden, ist ein Experiment mit offenem Ausgang.