Dass am Sonntag Claudia Sheinbaum zur neuen Präsidentin Mexikos gewählt wurde, war keine Überraschung. Schon seit einem Jahr führte die Kandidatin der Regierungskoalition in den meisten Umfragen mit Werten zwischen 50 und 60 Prozent. Die Überraschung war der Abstand, mit dem sie gewann: Sheinbaum kam auf 59 Prozent, erreichte also sogar sechs Prozentpunkte mehr als der charismatische Andrés Manuel López Obrador, kurz AMLO, der 2018 mit einem Erdrutschsieg die Präsidentschaftswahlen für sich entschieden hatte. Sheinbaums Kontrahentin Xóchitl Gálvez Ruiz, Kandidatin der Oppositionskoalition – aus der 70 Jahre lang allmächtig regierenden PRI und der ihr für zwölf Jahre folgenden konservativen PAN sowie der inzwischen kleinen sozialdemokratischen PRD –, kam trotz fulminanten Starts nur auf 28 Prozent, deutlich weniger als erwartet.

Die erste Präsidentin in der republikanischen Geschichte des Landes, wird Anfang Oktober ihr sechsjähriges Amt übernehmen. Politisch ist sie López Obrador über mehr als zwei Dekaden hinweg gefolgt. Zuerst als Umweltsekretärin, als AMLO im Jahr 2000 die Regierung von Mexiko-Stadt übernahm, dann in seinem Wahlkampfteam bei den Präsidentschaftswahlen 2006, in beiden Fällen für die PRD. Ab 2011 engagierte sie sich beim Aufbau der heutigen Regierungspartei Morena und 2018 wurde sie Chefin der Regierung von Mexiko-Stadt.

Sheinbaum hat aber auch ein umfangreiches akademisches Curriculum: Sie ist Physikerin und hat im Fach Energietechnik promoviert; sie spezialisierte sich auf Umweltthemen und war Teil der Expertengruppe zum Klimawandel (IPCC) der Vereinten Nationen. Sie ist zwar nicht annähernd so charismatisch wie ihr Vorgänger, aber dies war für diese Wahlen nicht relevant. Ihr Wahlerfolg verdankt sich vor allem der Glaubwürdigkeit, mit der sie versprach, AMLOs Erbe fortsetzen zu wollen. Sheinbaum konnte zudem auf die Unterstützung ihrer Partei Morena und auf ihre insgesamt erfolgreiche Zeit an der Spitze der Regierung von Mexiko-Stadt bauen.

Das schlechte Ergebnis der Opposition ist weniger Gálvez anzurechnen, sondern bestätigt vielmehr, dass die Parteien ihrer Koalition, PRI und PAN, es nicht geschafft haben, einen Neuanfang zu bewältigen. Ihre Diskreditierung schuf das politische Kapital von AMLO. Als ein Politiker, der sich zum ersten Mal um die nicht privilegierte Mehrheit der Bevölkerung kümmerte, wurde er zur Alternative für eine Mehrheit der Bevölkerung.

Ihr Wahlerfolg verdankt sich vor allem der Glaubwürdigkeit, mit der sie versprach, AMLOs Erbe fortsetzen zu wollen.

Die Wahlergebnisse zeigen, dass die gesellschaftliche Spaltung an Relevanz sogar zugenommen hat. Es ist nicht nur der von seinen Gegnern als populistisch kritisierte Diskurs des Präsidenten, mit dem er sein Programm zur authentischen Vertretung der Interessen des Volkes erklärt. Seine Kritik an den konservativen Eliten deckt sich mit den konkreten Erfahrungen großer Teile der Bevölkerung mit bestehender Ungerechtigkeit, Diskriminierung und Ausbeutung sowie mit der diesbezüglichen Gleichgültigkeit der vorhergehenden Politik. Gleichzeitig hat seine Politik zu konkreten Resultaten geführt: zur Reduzierung der Armut auf Grund der Verdopplung der Mindestlöhne und der weitgehenden Abschaffung der Leiharbeit, zur Stärkung der Gewerkschaften durch eine Reform des Arbeitsrechts sowie zur Einführung einer universellen Grundrente sowie anderer Sozialprogramme, die in sieben von zehn Haushalten ankommen.

Zugleich summieren sich zwar zahlreiche Leerstellen und kritikwürdige Entscheidungen sowie politische Absichten – insbesondere das Versagen, Gewalt und Verbrechen zu verringern, das Debakel der Gesundheitspolitik oder der schlechte Zustand des Bildungssystems. Aber aus Sicht der Wählerinnen und Wähler hat er es im Gegensatz zu seinen Vorgängern zumindest versucht.

Die Präsidentin hat viel Macht im mexikanischen System, aber für grundlegende Veränderungen kommt sie nicht am Kongress vorbei. Mehrere Initiativen AMLOs, die einer Verfassungsreform bedurften, wurden vom Kongress und auch von der Justiz ausgebremst. Noch liegen die endgültigen Ergebnisse nicht vor, aber es scheint, als habe die Regierungskoalition eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Abgeordnetenhaus erreicht und im Senat nur knapp verfehlt. Damit sind vom scheidenden Präsidenten vor der Wahl eingebrachte und polemisch diskutierte Verfassungsreformen nur von wenigen und sicherlich mobilisierbaren Stimmen der Opposition abhängig. Mehrere dieser Reformen sind bedenklich und für Kritiker AMLOs exemplarisch für den Populismus und die Versuche des Präsidenten, mit Blick auf die Geschichte Mexikos eine autoritäre Restauration zu verfolgen und letztendlich die Demokratie auszuhöhlen.

Hierzu gehören insbesondere Veränderungen des Wahlsystems, die Abschaffung sogenannter autonomer Institutionen, die im Zuge der Transition zur Demokratie geschaffen wurden, um eine ungebremste Exekutive in die Schranken zu weisen, etwa im Bereich der Transparenz oder der Verhinderung der Monopolbildung. Am kritischsten ist aber die Absicht, Richter des obersten Gerichts, der Distriktgerichte und des Bundeswahlgerichtshofs sowie die sogenannten elf Räte der nationalen Wahlbehörde durch eine allgemeine Wahl bestimmen zu lassen. Der Vorwurf lautet, die Unabhängigkeit der Justiz sowie die der Wahlbehörde einschränken zu wollen beziehungsweise Letztere der politischen Einflussnahme zu unterwerfen. Der neue Kongress tritt am 1. September zusammen, AMLO wird sein Amt jedoch erst am 1. Oktober an Sheinbaum übergeben. Mit der qualifizierten Mehrheit des neuen Kongresses könnte der scheidende Präsident diese Verfassungsreformen also ohne umfassende Diskussion noch vor seinem Abschied umsetzen.

Ob Sheinbaum die Bewegung mit eigener Autorität zusammenhalten kann, ist offen.

In neun Bundesländern, einschließlich Mexiko-Stadt, wurden die Gouverneure neu gewählt. Die Regierungskoalition wurde in sechs Ländern bestätigt und konnte mit Yucatán ein weiteres hinzugewinnen. Besonders wichtig war die Wahl in Mexiko-Stadt, die die Kandidatin von Morena, Clara Brugada, deutlich mit rund 52 Prozent der Stimmen gewann. Erwartet wird auch, dass Morena einige der Distrikte zurückerobert hat, die sie bei den Wahlen vor drei Jahren an die Opposition verloren hatte. Auf der Landesebene regiert die Partei nun 23 der 32 Bundesstaaten (einschließlich Mexiko-Stadt), der Koalitionspartner, die grüne Partei, einen weiteren.

Die von AMLO 2011 als zivilgesellschaftliche Bewegung gegründete und 2014 als Partei registrierte „Bewegung für die nationale Erneuerung“ ist auch heute noch eine personalistische Bewegung mit Parteistatut. Ihre Anziehungskraft ist groß, nach nur vier Jahren hatte sie – beispiellos in der Geschichte – die Präsidentschaft, die Mehrheit im Kongress und etliche der Regierungen und Landesparlamente der Bundesländer erobert.

Ihr Erfolg ist nicht ohne López Obrador zu verstehen, ohne seine Werte, ohne den ihm von vielen zugeschriebenen Messianismus und ohne seine Fähigkeit, den kollektiven Erwartungen der Mehrheit der vor allem armen Bevölkerung Ausdruck zu verleihen. Wie die spanische Zeitung El País zusammenfasst: Sein „kraftvoller Slogan ‚Zum Wohle aller, zuerst die Armen‘ hat sich in das kollektive Bewusstsein eingebrannt“. Die Vielfalt der internen Strömungen, die es offiziell nicht geben darf, hatte der charismatische Präsident diszipliniert und gebunden. Nicht zuletzt war er selbst Filter der Kandidaturen.

López Obrador hat die Führung von Morena bereits an seine Nachfolgerin weitergegeben. Nach der Wahl, so hat er angekündigt, will er sich aus dem politischen Leben zurückziehen. Ob Sheinbaum die Bewegung mit eigener Autorität zusammenhalten kann, ist offen. Ebenso könnte die erfolgreiche Wahl 2024 der Beginn von Konflikten, Fragmentierungen und Brüchen werden, die spätestens bei den nächsten Wahlen zu einer Schwächung der stärksten Partei des Landes führen könnten.

Eine deutliche Mehrheit der Wähler war bereit, ihr Vertrauen in Claudia Sheinbaum zu setzen.

Viele Augen richten sich zudem darauf, wie die neue Präsidentin auf all die zugehen wird, die 2018 den politischen Wechsel unterstützten, sich dann aber vor allem auf Grund des konfrontativen und polarisierenden Stils des Präsidenten abgewandt haben. Etwa die Familienorganisationen der über 100 000 Verschwundenen, Nichtregierungsorganisationen, die feministische Bewegung sowie Journalisten und Intellektuelle, die – oft zu Recht – Entscheidungen der Regierung kritisiert haben. Aus AMLOs Sicht allesamt willfährige Unterstützer seiner politischen Gegner, den „neoliberalen, konservativen und korrupten Eliten“.

Eine große Herausforderung wird schon bald die Finanzierung der laufenden Sozialausgaben und versprochenen Reformen darstellen, etwa der Aufbau eines universellen Gesundheitssystems und einer Mütterrente. Die größte und komplexeste Aufgabe ist es jedoch, Frieden und Sicherheit herzustellen, in einem Land, in dem in den letzten sechs Jahren über 180 000 Menschen ermordet wurden. Im Wahlkampf wurden 34 Kandidaten getötet, 82 Personen, wenn Familienangehörige, Unterstützer oder Beamte hinzugezählt werden. In einigen Bundesstaaten stellt sich die Frage, ob wegen des Einflusses des organisierten Verbrechens noch von freien Wahlen gesprochen werden kann.

Eine deutliche Mehrheit der Wähler war bereit, ihr Vertrauen in Claudia Sheinbaum zu setzen. Sie steht nun vor der Herausforderung, ihr Versprechen der Kontinuität des von López Obrador langfristig angelegten politischen Projekts zu halten, andererseits sich aber Raum zu schaffen für ohne Zweifel notwendige Richtungsänderungen, um Mexiko auf stabilem demokratischem, sozialem und auch ökonomischem Kurs zu halten. In anderen Ländern der Region ist dies bisher nicht gelungen.