Die politische Krise, von der Nicaragua seit 2018 heimgesucht wird, hätte sich lösen lassen – durch freie und faire Wahlen zum Ende der dritten Amtszeit von Präsident Daniel Ortega. Am bevorstehenden 7. November hätte Ortega entweder beweisen können, dass er tatsächlich die von ihm behauptete Unterstützung genießt, oder aber realisieren müssen, dass er nicht länger über ein Volk herrschen kann, das seit 2018 seinen Missmut über den von ihm und seiner Frau Rosario Murillo betriebenen Machtmissbrauch mit allem Nachdruck deutlich macht.
Seine Wiederwahl zum Präsidenten 2007 hatte Ortega einigen undurchsichtigen Deals und Zugeständnissen zu verdanken, die dazu führten, dass die alte Garde der Sandinisten sich aus der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) zurückzog. Schleunigst machte er sich daran, die staatlichen Institutionen unter seine Kontrolle zu bringen und sich den unbegrenzten Verbleib an der Macht zu sichern. Die Verfassung wurde reformiert, Gesetze wurden umgeschrieben, und die Vorschriften, nach denen die Armee- und Polizeiführung alle fünf Jahre abgelöst werden musste, wurden so geändert, dass er seine loyalsten Untergebenen dauerhaft an der Spitze dieser Institutionen installieren konnte.
Beinahe über Nacht wurde aus einer bis dahin mehr oder weniger „harmlosen“ Diktatur eine Tyrannei, wie es sie in Lateinamerika seit Jahrzehnten nicht gegeben hat.
2016 saßen Ortega und seine Frau dermaßen fest im Sattel, dass er sie zur Vizepräsidentin ernannte. Durch eine bizarr anmutende Übereinkunft mit der Privatwirtschaft schufen sie günstige Rahmenbedingungen für die kapitalistischen Magnaten Nicaraguas, die als Gegenleistung mit den politischen Entscheidungen des Regimes konform gingen. In ihrer Selbstgefälligkeit erfreuten Ortega und Murillo sich der uneingeschränkten Kontrolle über das Land und kamen sich vor wie in der „besten aller möglichen Welten“, frei nach Voltaires unbeirrbarem Optimisten Pangloss.
Dieser Zustand währte jedoch nicht ewig. Im April 2018 protestierte eine kleine Gruppe von Studenten gegen eine Reform des Sozialversicherungsgesetzes, weil diese eine Rentenbesteuerung von fünf Prozent vorsah. Als das Regime gegen sie mit roher Gewalt vorging, brachte es die Menschen gegen sich auf. Auf Handyvideos war zu sehen, wie die Studenten in sadistischer Weise attackiert und von Gruppen der sogenannten Sandinistischen Jugendorganisation zusammengeschlagen wurden.
Der Urnengang wird eine Scheinwahl ohne jede Legitimationsgrundlage sein.
Als die Studenten auf Universitätsgeländen und in der katholischen Kathedrale von Managua Schutz suchten, setzte das Regime Scharfschützen ein. Von Augenzeugen aufgenommene Videos zeigten, wie mehrere junge Menschen mit Genick- und Kopfschüssen getötet wurden. Einer von ihnen war der 15-jährige Alvaro Conrado. Er starb, nachdem ein Krankenhaus, das angewiesen worden war, bei den Protesten verletzte Studenten nicht zu behandeln, seine Aufnahme verweigerte. Die Videos verbreiteten sich im Netz wie ein Lauffeuer. Die Proteste weiteten sich auf das ganze Land aus, wurden aber von paramilitärischen Einheiten und Polizei erbarmungslos niedergeschlagen. Die Sicherheitskräfte waren bis an die Zähne bewaffnet und schossen mit scharfer Munition auf die unbewaffneten Rebellen, die sich hinter Barrikaden verschanzt hatten. Vier Monate lang leisteten die Menschen Widerstand. Am Ende meldete die Interamerikanische Menschenrechtskommission, dass 328 Menschen getötet und 700 verhaftet wurden. Weitere 80 000 Nicaraguaner seien auf der Flucht – zumeist nach Costa Rica.
Beinahe über Nacht wurde aus einer bis dahin mehr oder weniger „harmlosen“ Diktatur eine Tyrannei, wie es sie in Lateinamerika seit Jahrzehnten nicht gegeben hat. Die Opposition lehnte es aber ab, auf Gewalt mit Gegengewalt zu reagieren. Stattdessen beschloss sie, an der für den 7. November anberaumten Wahl teilzunehmen und einen friedlichen Regierungswechsel anzustreben. Mehrere Frauen und Männer erklärten ihre Absicht, für das Präsidentenamt zu kandidieren.
Die Bevölkerung Nicaraguas hat für die Freiheit einen zu hohen Preis bezahlt, um sie sich von einem machtgierigen Ehepaar nehmen zu lassen.
Als die politische Stimmung sich im Vorfeld der Wahlen aufheizte, wurde sich das Regime des schwindenden Rückhalts bewusst und schritt aus Angst vor einer Wahlschlappe zur Schadensbegrenzung. Zum Entsetzen vieler begann es, einen angehenden Präsidentschaftsbewerber nach dem anderen ins Gefängnis zu sperren. Zudem wurden einflussreiche Politiker, legendäre sandinistische Helden, die gegen Ortegas Herrschaft opponierten, sowie Journalisten, Unternehmer, ehemalige Botschafter und Studentenführer inhaftiert. Die falschen Anschuldigungen, die das Regime gegen sie vorbrachte, reichten von Geldwäsche bis „Verrat“. Sie wurden als Kriminelle und als Handlanger der USA bezeichnet, die den Sandinismus einmal mehr vernichten wollten. Obendrein erkannte die Ortega-treue Wahlkommission der bekanntesten Oppositionspartei den Parteienstatus ab und schloss sie somit von der Wahl aus.
Damit ist klar, dass Ortega und seine Frau am 7. November ohne Gegenkandidaten antreten. Der Urnengang wird eine Scheinwahl ohne jede Legitimationsgrundlage sein. Das Handeln der Ortega-Regierung ist ohne Beispiel und ein deutliches Zeichen, dass die internationale Gemeinschaft das Ergebnis dieser manipulierten Wahl nicht akzeptieren darf. Sie muss nicht nur die Freilassung der politischen Gefangenen, sondern auch freie und faire Neuwahlen unter internationaler Aufsicht fordern. Die Bevölkerung Nicaraguas hat für die Freiheit einen zu hohen Preis bezahlt, um sie sich von einem machtgierigen Ehepaar nehmen zu lassen.
Aus dem Englischen von Andreas Bredenfeld