Noch bevor Olaf Scholz Anfang der Woche in Brasilia den frisch wiedergewählten brasilianischen Präsidenten Lula traf, hatte dieser das Nachbarland Argentinien besucht – und dort angekündigt, man wolle eine Gemeinschaftswährung für die Region anstreben. Die internationalen Reaktionen waren Kopfschütteln. „Das ist eine schreckliche Idee“, twitterte der Wirtschafts-Nobelpreisträger Paul Krugman. Von einem „Traumgeld des Südens“ schrieb Thomas Fischermann in der Zeit. Ist eine Gemeinschaftswährung für das südliche Lateinamerika also reine Ankündigungspolitik ohne Substanz?
Eine Währungsunion, würde sie das gesamte Lateinamerika umfassen, würde immerhin fünf Prozent des globalen Bruttoinlandsprodukts abdecken, im Vergleich zu den 14 Prozent des Euro, rechnet die Financial Times vor. Die Idee ist in der politischen Debatte schon öfter aufgetaucht seit den Anfängen des Mercosur, des Gemeinsamen Markts des südlichen Lateinamerikas, der Anfang der 1990er Jahre gegründet wurde. Schauen wir uns Argentinien und Brasilien näher an – die beiden mit Abstand größten Mitgliedsländer –, ist die Sache tatsächlich nicht einfach. Beide Länder leiden seit langem unter niedrigem und stark schwankendem Wachstum sowie instabilen Währungen.
Argentinien musste sich immer wieder für zahlungsunfähig erklären. Ob es die nächste Tranche seiner Schulden beim Internationalen Währungsfonds im kommenden Mai begleichen kann, ist unklar. Die Inflation im Land des Fußball-Weltmeisters ist knapp dreistellig. Will sich Brasilien wirklich mit einem Nachbarn zusammentun, der finanziell so instabil ist? Wer würde eine solche regionale Währung halten wollen? Auch der gemeinsame Handel dümpelt auf niedrigem Niveau (derzeit gerade einmal zehn Prozent des Außenhandels beider Länder). Nach der klassischen Theorie der optimalen Währungsräume von Mundell wäre die Region also definitiv kein Fall für eine Gemeinschaftswährung.
Trotzdem: Es gibt ein paar nachvollziehbare Gründe, warum die Länder tatsächlich gut daran tun, ihre Währungen näher zusammenrücken zu lassen. Und es gibt bereits Anfänge einer regionalen Währungskooperation, die durchaus die Möglichkeiten aufzeigen. Zum einen bietet der Handel im Mercosur, was den beiden Ländern mit anderen Handelspartnern wie den USA, Europa oder China in letzter Zeit immer weniger gelungen ist: den Export von Industriegütern. Selbst das große Brasilien, das bis vor einem Jahrzehnt noch Fertig- und Halbfertiggüter in gar nicht so geringem Umfang exportierte, ist global weitgehend auf eine Position des Rohstofflieferanten zurückgefallen: 90 Prozent seiner Exporte waren im Jahr 2020 Produkte wie Soja und Eisenerz. Im Handel mit Argentinien dagegen verkauft das Land zu 80 Prozent Technologiegüter – vor allem Pkws und Automobilteile.
Abstimmung tut dringend not, wenn wieder regionale Dynamik entstehen soll.
Genau damit haben Lula und der argentinische Präsident Fernández die Währungskooperation auch begründet: als Teil der Wiederbelebung des Mercosur im Sinne eines strategischen Projekts nach innen und nach außen. Es geht um die Stärkung ihrer Verhandlungsposition in multilateralen Institutionen und im globalen Kontext. Vor allem ist es aber auch Teil der Strategie einer Re-Industrialisierung der beiden Länder, die die Ökonomie auch resilienter gegen globale Schocks machen soll, wie brasilianische Ökonominnen und Ökonomen ausführen. Ein solcher regionaler Handel braucht jedoch eine gewisse Koordination der Währungen.
Denn dass der argentinische Peso und der brasilianische Real in unterschiedlichem Rhythmus zum US-Dollar schwanken, macht den Handel zwischen den Nachbarländern zu einem unsicheren Geschäft. Abstimmung tut dringend not, wenn wieder regionale Dynamik entstehen soll. Eine Theorie der optimalen Währungsräume, angepasst an die Problemlagen des globalen Südens, sollte also die klassische Reihenfolge umdrehen: Die Währung folgt hier nicht den Verflechtungen des Handels, sondern: Um mehr Süd-Süd-Handelsintegration zu erreichen, braucht es mehr monetäre Kooperation.
Dass die wirtschaftspolitische Abstimmung zwischen Nachbarländern ein anspruchsvolles Unterfangen ist, davon können die Euro-Länder ein Lied singen. Für den regionalen Handel im globalen Süden gibt es jedoch zusätzliche Probleme, deren Lösung aber gar nicht so utopisch weit weg liegt. Es geht um die Errichtung von regionalen Zahlungssystemen, die etwas mehr Unabhängigkeit vom US-Dollar erlauben. Denn die Dominanz des Dollars ist im internationalen Zahlungsverkehr so stark, dass außerhalb der Euro-Zone in der Regel nicht einmal der regionale Handel ohne den Umweg über die US-Währung auskommt. Ein brasilianischer Exporteur muss sich von seinem argentinischen Importeur in Dollar bezahlen lassen und diese dann wieder in brasilianische Real umtauschen – und umgekehrt. Dieses Dreiecksgeschäft ist teuer für die beteiligten Unternehmen.
Die Geopolitik hat die Wahrnehmung der Abhängigkeit vom US-Dollar in jüngster Zeit verschärft. Die Länder des globalen Südens beobachten mit Sorge die sogenannte „Weaponization“ der globalen Finanzen. Der weitgehende Ausschluss russischer Banken, aber auch derer des Iran, von Kuba und von Venezuela aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT zeigt, dass Währungspolitik längst ein hoch politisches Geschäft ist. Vom Dollar abhängig zu sein, heißt also auch, von der Außenpolitik der USA abhängig zu sein, wie der jetzige brasilianische Finanzminister Fernando Haddad schon im vergangenen Jahr argumentierte – und deshalb für eine gemeinsame Währung mit begrenzter Reichweite plädierte.
Vom Dollar abhängig zu sein, heißt also auch, von der Außenpolitik der USA abhängig zu sein.
Wenn man jenseits der Medienaufregung genauer liest, geht es bei dem derzeitigen südamerikanischen Vorschlag nicht um eine Kopie des Euro, sondern zunächst um ein virtuelles Rechengeld – eine von den beteiligten Zentralbanken bereitgestellte Verrechnungseinheit für den wechselseitigen Handel, der ansonsten weiterhin in den lokalen Währungen stattfinden kann. Hier gibt es im Mercosur auch schon einen institutionellen Vorläufer, das „Zahlungssystem in lokalen Währungen“ (Sistema de Pagos en Moneda Local – SML ). Sehr klein im Umfang seiner Nutzung und kaum bekannt, ist dies die erste institutionelle Zusammenarbeit der Zentralbanken im Mercosur.
Und nicht nur das: Während der Mercosur im vergangenen Jahrzehnt in praktisch allen Bereichen stagnierte oder sogar Rückschritte erlitt, hat dieses Zahlungssystem nach und nach auch die kleinen Mercosur-Länder Uruguay und Paraguay mit einbezogen. Wie wir in einer neuen Studie zeigen, hat das Sistema de Pagos en Monedas Locales wesentlich zur Vertrauensbildung zwischen den Zentralbanken beigetragen – und Vertrauen ist das, was vielen lateinamerikanischen Regionalprojekten in der Vergangenheit gefehlt hat, wie der ehemalige brasilianische Außenminister und exzellente Kenner der lateinamerikanischen Integrationsprozesse Celso Amorim jüngst feststellte.
Mit einem ähnlichen regionalen Zahlungssystem brachte übrigens Westeuropa nach dem Zweiten Weltkrieg seinen regionalen Handel wieder in Schwung. Dem folgte dann zunächst die Kunstwährung ECU, aus der später der Euro wurde. Ob Südamerika einen ähnlichen Pfad wird gehen wollen, wie jetzt angekündigt, oder andere Formen der Währungskooperation entwickelt – beispielsweise eine regionale digitale Zentralbankwährung – und welche Rolle beispielsweise die chinesische Währung, die nach einem stärkeren internationalen Gewicht drängt, spielen wird, ist Teil der Ungewissheiten der neuen multipolaren Welt.