Haitis Interims-Premierminister Ariel Henry hat nach einem monatelangen Machtkampf aufgegeben. Er trete zurück, sobald ein Übergangsrat ernannt sei, verkündete er in einer in der Nacht zum Dienstag veröffentlichten Videobotschaft aus Puerto Rico. Dort sitzt er seit Tagen fest, weil kriminelle Banden den Flughafen von Port-au-Prince beschießen und die Dominikanische Republik ihn zur Persona non grata erklärt hat. Damit wurde auch eine Rückkehr auf dem Landweg unmöglich. Haiti und die Dominikanische Republik teilen sich die Karibikinsel Hispaniola.
Sein Rücktritt ist jedoch nicht freiwillig, sondern erzwungen. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die USA, hat sich von ihrem Schützling abgewandt. Zweieinhalb Jahre hatten sie an dem Neurochirurgen festgehalten, während das Land in die Anarchie rutschte und das Leben für die Menschen zur Hölle wurde. Zweieinhalb Jahre hatte die Weltgemeinschaft gewarnt und gedroht, sanktioniert und gehofft, Haitis Elite werde sich zusammenreißen und am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Das ist wieder einmal nicht passiert. Und hier liegt das Problem.
Der Abzug der UN-Blauhelm-Mission Minustah im Jahr 2018 hatte ein Machtvakuum hinterlassen, um das sich diverse Clans immer erbitterter stritten.
Der Abzug der UN-Blauhelm-Mission Minustah im Jahr 2018 hatte ein Machtvakuum hinterlassen, um das sich diverse Clans immer erbitterter stritten. Bis schließlich keine einzige demokratisch legitimierte Institution mehr übrig war. Die Ermordung von Präsident Jovenel Moïse im Juli 2021 verwandelte diesen Streit in einen offenen Flächenbrand. Dabei ging es weniger um Politik, sondern hauptsächlich um Geschäftsinteressen wie Schmuggel, Kinderhandel, Prostitution, Zwangsarbeit, Drogen- und Waffen sowie die Korruption des Staates und das Abzweigen von Haushaltsmitteln. Doch die internationale Gemeinschaft hatte andere Probleme als den notorisch instabilen Karibikstaat und dessen Polit-Mafia.
Die USA, seit Jahrzehnten so etwas wie die inoffizielle Parallelregierung Haitis, waren anderweitig beschäftigt: mit Ukraine-Krieg und Wahlkampf, mit der Eindämmung Chinas und des Drogenflusses aus Mexiko sowie mit der Migrationskrise an der Südgrenze. Die Vereinten Nationen fanden keine Geldgeber für eine neue Mission mehr, nachdem die vorherige erst wenige Jahre zuvor grandios gescheitert war. Die Europäer hingegen haben sich ohnehin nie besonders für Haiti interessiert. Mit Ausnahme der ehemaligen Kolonialmacht Frankreich, die dort noch einige historische Altlasten hat.
2003 läuteten in Paris die Alarmglocken, als der damalige haitianische Präsident, Jean-Bertrand Aristide, eine Milliarden-Entschädigung für die Versklavung und die sittenwidrigen Reparationen nach der Unabhängigkeit Haitis forderte. Ein Jahr später war er jedoch gestürzt, von einem obskuren Ex-Polizisten und Drogendealer namens Guy Philippe, der die Aktion telefonisch mit der französischen und der US-Botschaft koordinierte und der heute wieder eine Rolle spielt im haitianischen Drama. „Wir mussten diese Bombe entschärfen“, rechtfertigte der damalige französische Botschafter Yves Gaudeul die Aktion.
Das gelang, und Haiti verschwand – mit Ausnahme der großen Solidaritätswelle nach dem schweren Erdbeben im Jahr 2010 – von der außenpolitischen Prioritätenliste der Weltmächte. International spielte die Musik der letzten Jahre nicht in der Karibik. Und innenpolitisch waren die unterschiedlichen Interessen in einem gordischen Knoten verwoben.
Nach Moïses Ermordung 2021 betraute die internationale Gemeinschaft – die sogenannte Core-Group, der neben den USA noch Brasilien, Kanada, Frankreich, Deutschland, die EU, Spanien, ein Vertreter der UNO und einer der Organisation Amerikanischer Staaten angehören – den renommierten und respektierten Neurochirurgen Ariel Henry mit der Führung der Amtsgeschäfte. Er galt bei seinem Amtsantritt als integer und gehörte keinem der vielen Clans an.
Henry war weder vom Volk legitimiert, noch hatte er eine politische Machtbasis.
Doch Henry war weder vom Volk legitimiert, noch hatte er eine politische Machtbasis. Seine einzige reale Unterstützung war die der internationalen Gemeinschaft und der von ihr ausgebildeten und ausgerüsteten Nationalpolizei. Dass er während der Nacht der Ermordung Moïses mehrere Anrufe eines vermeintlichen Strippenziehers erhalten hatte und dass er bald jeglichen Dialog über Wahlen sabotierte, schürte kein Vertrauen in der Bevölkerung, die ihren Glauben an Politiker ohnehin schon lange verloren hat. Henrys halbherziger Versuch, eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden, scheiterte so einerseits an seiner eigenen politischen Unfähigkeit und andererseits am tiefen Misstrauen der Clans untereinander.
Schließlich forderten sie alle gemeinsam Henrys Rücktritt. Doch weit und breit war niemand in Sicht, der nominal die Amtsgeschäfte hätte führen können. Da waren zum einen die mächtigen Clanbosse, Leute wie die Ex-Senatoren Joseph Lambert und Moise Jean-Charles, Ex-Premier Claude Joseph oder die Geschäftsleute Jean Marie Vorbe und Marc-Antoine Acra, manche davon mit eigenen politischen Ambitionen, andere mit Strohmännern, die ihre Interessen wahren sollten. Dann gab es ein loses Oppositionsbündnis namens Montana-Gruppe, bestehend aus Intellektuellen und Gewerkschaftern, linken Aktivisten und Exilgruppen. Ein bunt zusammengewürfeltes Zweckbündnis vieler Egos, zerstritten über Personalien und Strategien, aber geeint gegen Henry und gegen das von ihm und den USA vorangetriebene Projekt einer internationalen Interventionstruppe unter der Führung Kenias. Mit ausdauerndem Lobbying gelang es der Montana-Gruppe voriges Jahr, die Entsendung der kenianischen Truppe erst im Parlament und dann im Verfassungsgericht zu stoppen.
Derweil gewannen in der Hauptstadt Port-au-Prince die kriminellen Banden immer mehr Terrain. Peu à peu breitete sich die Barbarei aus. Es war ein makabres Spektakel menschlicher Niedertracht. Schulmädchen wurden vergewaltigt, Hospitäler ausgeraubt, Nonnen entführt, Gefängnisse gestürmt, Geschäfte geplündert, Menschen mit brennenden Autoreifen um den Hals qualvoll ermordet. Bandenchef und Ex-Polizist Jimmy Chérizier alias Barbecue legte am Nationalfeiertag anstelle des gewaltsam von dort vertriebenen Präsidenten Kränze am Grab des Nationalhelden nieder und erklärte sich selbst zum Freiheitskämpfer der Unterdrückten, die er noch wenige Stunden vorher gequält hatte.
Die Bevölkerung griff daraufhin selbst zu den Waffen und organisierte die Bwa-Kalé-Selbstverteidigungsgruppen, die auf Mord und Totschlag mit Lynchjustiz reagierten. Die Hauptstadt war nahezu permanent in Geiselhaft. Straßenblockaden, Schusswechsel, Schutzgelderpressungen, Entführungen, Plünderungen und Vertreibungen machten ein normales Leben unmöglich. Täglich verschoben sich die Fronten. Weder Kirchen noch Krankenhäuser wurden verschont. Und dann beschlossen die USA im November, den dort wegen Drogenhandels verurteilten Ex-Putschführer Guy Philippe abzuschieben. Der vom US-Militär ausgebildete ehemalige Polizist machte sich umgehend daran, eine Rebellentruppe zusammenzutrommeln. Im Februar organisierte er parallel zu anderen oppositionellen Demonstrationen in Port-au-Prince. Sie waren Auftakt für das Chaos, das schließlich im Rücktritt Henrys gipfelte.
Entschieden wurde über das Schicksal des Landes nicht im krisengeschüttelten Port-au-Prince, sondern in Jamaika.
Doch entschieden wurde über das Schicksal des Landes nicht im krisengeschüttelten Port-au-Prince, sondern in Jamaika. Von Leuten wie US-Außenminister Anthony Blinken und Vertretern der karibischen Staaten, Mexikos, Frankreichs und Kanadas, die sich dort am Montag zu einem Krisengipfel trafen. 40 haitianische „Vertreter“ – deren Namen bislang unbekannt sind – waren per Zoom zugeschaltet. Fast acht Stunden dauerte die Klausurtagung, dann war aus den sieben unterschiedlichen Entwürfen für eine Übergangsarchitektur eine finale Version geworden.
Viel ist davon jedoch noch nicht bekannt: Der neue Übergangsrat soll aus neun Personen und zwei beratenden Beobachtern bestehen, darunter ein Vertreter der Zivilgesellschaft, ein religiöser Führer, verschiedene Oppositionspolitiker und Geschäftsleute. Vorbestrafte und von den USA sanktionierte Personen sind ausgeschlossen. Der Rat soll dann einen neuen Interims-Premierminister ernennen und einen provisorischen Wahlrat einrichten, der Wahlen anberaumen soll. Es wären die Ersten seit 2016. Das bedeutet einen außenpolitischen Erfolg für Blinken und den Wahlkampf von US-Präsident Joe Biden. Aber nicht alle sehen das positiv. „Der Prozess, der dem vorweg ging, ist missglückt“, sagt Jake Johnston, Haiti-Experte des in Washington ansässigen linken Center for Economic and Policy Research. „Eine neuerliche, vom Ausland unterstützte Regierung, wird es schwer haben, Legitimität zu erlangen.“
Abgesehen davon ist fraglich, ob dieser umfassende Übergangsplan überhaupt umsetzbar ist. In Port-au-Prince beruhigte sich die Lage zur Wochenmitte zwar, doch die Bandenchefs kontrollieren noch immer 80 Prozent der Hauptstadt. Der mächtigste Bandenchef Barbecue kritisierte den Pakt: „Die Haitianer sollen selber über ihre Regierungsform entscheiden“, forderte er. Wahlen sind ohne Sicherheit unmöglich. Zwei Optionen gibt es: Erstens eine internationale Eingreiftruppe, die unter kenianischer Führung schon angedacht war. Für eine solche sind inzwischen rund 300 Millionen US-Dollar Finanzierung zusammen. Doch wer daran teilnehmen wird, wie der Operationsplan aussieht und wie schnell so etwas ginge, ist nach wie vor unklar. Für Renata Segura von der Crisis Group könnte es zweitens auch eine Verhandlungslösung mit den Banden geben. Philippe spiele dabei eine Schlüsselrolle. „Er ist einer der wenigen Politiker, die im Moment einen offenen Kanal zu den Banden haben“, sagte sie.
Selbst wenn schlussendlich eine Befriedung gelingt, sind Wahlen nicht unbedingt der Schlüssel zum Erfolg und zur Stabilität.
Selbst wenn schlussendlich eine Befriedung gelingt, sind Wahlen nicht unbedingt der Schlüssel zum Erfolg und zur Stabilität. Diesem Trugschluss ist der Westen immer wieder aufgesessen. Haitis Wahlgesetzgebung ist mit so vielen Mängeln behaftet, dass Wahlen in der Vergangenheit meist mehr Konflikte geschaffen als Lösungen gebracht haben. Der Übergangsrat muss deshalb zahlreiche technische Fragen lösen, wie der Politikberater Philippe Bard mahnt. Haiti habe seit 20 Jahren keine Volkszählung mehr abgehalten und es existiere kein Personenregister, schreibt er. Außerdem brauche das Land endlich einen professionellen Wahlrat und ein unabhängiges Wahlgericht. Änderungen seien auch im Parteiengesetz nötig. In Haiti braucht es bislang nur 20 Unterschriften, um eine Partei anzumelden.
Darüber hinaus aber müssen noch viel grundlegendere Fragen geklärt werden, die dazu geführt haben, dass Haiti seit dem Ende der Duvalier-Diktatur 1986 in einer Abwärtsspirale gefangen ist. Politik und kriminelle Geschäfte müssen entflochten werden. Das Land braucht eine neue Verfassung, denn die von Frankreich inspirierte ist für die politische Realität Haitis dysfunktional. Die Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen und die politischen Eliten müssen sich zudem auf einen neuen contrat social für das Land einigen. Und wenn dieser Grundkonsens existiert, braucht das Land finanzielle und technische Unterstützung des Auslands. Demokratie braucht Zeit. Wenn man die Kutsche vor die Pferde spannt, werden Stabilität und Entwicklung eine Schimäre bleiben.