Mitte August steht Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro auf einer Bühne im Sambódromo, in der Arena im Zentrum Rio de Janeiros, durch die einmal im Jahr die bekanntesten Karnevalschulen des Landes ziehen. Doch an diesem Tag findet hier keine bunte Parade statt. Stattdessen ist Bolsonaro von einer Gruppe umringt – Arme in die Luft gereckt, Augen geschlossen. „Gelobt sei der Herr“, beten die evangelikalen Pastorinnen und Pastoren inbrünstig. Die Veranstaltung ist der Höhepunkt des alljährlichen „Marschs für Jesus“, eines der wichtigsten Ereignisse der ultrakonservativen Freikirchen. Dass sich Bolsonaro vor tausenden Gläubigen öffentlich segnen lässt, ist kein Zufall: Am 2. Oktober wird in Brasilien gewählt – und der Rechtsradikale ist auf die Stimmen der bibeltreuen Christen angewiesen.

Das größte katholische Land der Welt durchlebt, was einige Wissenschaftlerinnen eine „religiöse Revolution“ nennen. Immer mehr Brasilianerinnen und Brasilianer wenden sich den ultrakonservativen Pfingstkirchen zu. Während sich im Jahr 1990 noch mehr als 80 Prozent der Bevölkerung als katholisch bezeichneten, waren es im Jahr 2020 nur noch rund 50 Prozent. 32 Prozent der Bevölkerung versteht sich mittlerweile als evangelikal – Tendenz steigend. Laut Berechnungen dürften die Evangelikalen schon in zehn Jahren die Mehrheit der Bevölkerung stellen.

Das größte katholische Land der Welt durchlebt eine „religiöse Revolution“.

Doch was bedeutet evangelikal überhaupt? Der Evangelikalismus ist eine theologische Strömung innerhalb des Protestantismus. In der Regel betreiben die Gemeinden keine kritische Bibelexegese; für sie gilt: Was in der Bibel steht, ist wörtlich zu verstehen, gilt als gottgegeben und wird nicht hinterfragt. In Brasilien gibt es auch traditionelle protestantische Gemeinden wie die Lutheraner oder Baptisten. Diese haben einen europäischen Ursprung und sind teilweise liberaler. Den größten Zulauf haben allerdings die ultrakonservativen Pfingstkirchen. Viele davon kommen ursprünglich aus den USA.

Evangelikale Kirchen beherrschen heute gleichermaßen das Straßenbild der brasilianischen Innenstädte, der Armenviertel und der abgelegenen Dörfer. Ähnlich wie in den USA gibt es riesige, hochmoderne Prestigebauten. Doch mittlerweile finden sich an fast jeder Straßenecke auch kleine „Garagentempel“, oft nur mit ein paar Plastikstühlen und einer Verstärkeranlage, einem Mikrofon und Boxen. Da es im Gegensatz zur Katholischen Kirche keine oberste Glaubensbehörde gibt, ist es leicht, eine neue Kirche zu gründen. Fast jeder kann sich Pastorin nennen. Was man vor allem braucht: Charisma und eine „göttliche Berufung“.

Die Heilsversprechen und charismatische Pastoren kommen gerade bei armen Brasilianern gut an. Und die Pfingstkirchen sind dort präsent, wo der Staat fehlt. In Gebieten, in denen es keine Sportplätze, Bibliotheken oder Grünanlagen gibt. Die von Gewalt, Verelendung und Perspektivlosigkeit geprägt sind. Die Evangelikalen sind oft die einzigen, die zuhören, die Bewohnerinnen ernst nehmen, ihre Ängste verstehen. Neben dem emotionalen Beistand bieten sie so etwas wie ein Freizeitangebot an. Heute sind viele Gläubige Frauen, oft alleinerziehend, meist Schwarz. Das wusste Bolsonaro, als er seinen Wahlkampf plante und die Nähe zur Kirchenelite suchte. Der starke Einfluss der Evangelikalen in den armen Stadtteilen erklärt, warum so viele Vorstadtbewohner für den neoliberalen Rassisten Bolsonaro stimmten.

Die Pfingstkirchen sind dort präsent, wo der Staat fehlt.

Der amtierende Präsident ist eigentlich katholisch. Im Wahlkampf 2018 ließ er jedoch kaum eine Gelegenheit aus, die Nähe zu den evangelikalen Kirchen zu suchen. Er war umjubelter Stargast bei Gottesdiensten, wurde medienwirksam im Jordan getauft und von Star-Pastor Silas Malafaia mit seiner dritten Ehefrau vermählt. Die Rechnung ging auf: Bei der Wahl unterstützten alle großen evangelikalen Kirchen erstmals gemeinsam einen Kandidaten, nämlich Bolsonaro. 70 Prozent der evangelikalen Wähler stimmten in der Stichwahl für den Rechtsaußenkandidaten, der passenderweise den Mittelnamen „Messias“ trägt.

Dass der zweifach geschiedene, Knarre schwingende Rüpel Bolsonaro nicht ganz der himmelblauen Traumwelt der Bibeltreuen entspringt, scheint zweitrangig. Wichtiger sind klare Vorstellungen, die er mit den Evangelikalen teilt: Ablehnung von Homosexualität, Kampf gegen Abtreibungen, Verteufelung des Feminismus. 2018 nutzte der ultrarechte Populist geschickt den Verschwörungsmythos einer vermeintlichen „Genderideologie“, um politische Gegnerinnen zu attackieren. Diese würden Kinder und Jugendliche dazu anstiften, ihr Geschlecht zu wechseln, homosexuell zu werden und verfrüht sexuelle Praktiken fördern. In den sozialen Medien fanden absurde Fake-News eine rasante Verbreitung: Ein Programm zur Bekämpfung von Homophobie an Schulen wurde kurzerhand zu einem Projekt zur „Frühsexualisierung“ von Kindern umgedichtet. Viele Brasilianerinnen glauben bis heute, die Arbeiterpartei PT habe Babyfläschchen in Penisform in Kinderkrippen verteilt. Das scharte in der konservativen Gesellschaft viele besorgte Brasilianer hinter dem rechtsradikalen Kandidaten zusammen. Als Bolsonaro dann noch eine Messerattacke überlebte, war es für viele der Beweis erbracht: Dieser Mann hat einen heiligen Auftrag! Er ist von ganz oben geschickt!

Auch in diesem Wahlkampf sucht Bolsonaro die Nähe zu dem streng religiösen Klientel. Während sich mittlerweile viele Kräfte der brasilianischen Gesellschaft von Bolsonaro distanzieren, stehen die großen Kirchen weiterhin treu hinter ihm. Das zeigt sich auch in den Umfragen für die Wahl im Oktober: Während Bolsonaro praktisch bei allen befragten Gruppen auf dem zweiten Rang rangiert, liegt er nur bei der evangelikalen Wählerschaft vorne. Ihre Treue lässt sich auch damit erklären, dass die Regierung in vielen Punkten Politik genau nach ihren reaktionären Grundsätzen betreibt.

Die sogenannte Bibel-Fraktion versucht schon lange, die Politik nach ihren reaktionären Grundsätzen mitzugestalten.

Fundamentalistische Kräfte hatten bereits vor Bolsonaros Aufstieg einen festen Platz in der brasilianischen Politik. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Pastorinnen und Pastoren in die Parlamente wählen lassen. Sonntags predigen, Montags abstimmen. Im Kongress gibt es einen überparteilichen Zusammenschluss evangelikaler Abgeordneter. Die sogenannte Bibel-Fraktion versucht schon lange, die Politik nach ihren reaktionären Grundsätzen mitzugestalten. Jeden Mittwochmorgen versammeln sich die „Brüder im Glauben“ in einem Saal, um gemeinsam zu beten.

Mit dem Amtsantritt Bolsonaros hat allerdings ein regelrechter Umbau des Staates nach ultrakonservativen Vorstellungen begonnen. Fundamentalistische Gruppen haben gezielt die Regierung infiltriert. So wurden ganze Referate ausgewechselt und Expertinnen durch religiöse Hardliner ersetzt. Praktisch das gesamte Team für Frauengesundheit im Gesundheitsministerium wurde beispielsweise ausgetauscht, viele dieser Personen waren renommierte Experten und arbeiteten dort seit Jahrzehnten. Die Regierung legte auch in anderen Bereichen die Axt an. Sie entzog progressiven Projekten die Mittel. Andere Referate schaffte sie gleich ganz ab, wie etwa die Diversitätsabteilung im Bildungsministerium. Und die Evangelikalen und auch einige ultrakonservative Katholiken versuchen, alle Ausschüsse zu besetzen, in denen Themen behandelt werden, die für sie von Interesse sind: Abtreibung, LGBTQI, Drogen. Ebenso versuchen sie, Einfluss bei der Vergabe von Radio- und Fernsehlizenzen zu nehmen, die alle fünf Jahre neu zugeteilt werden, damit sie nicht zu Ungunsten von evangelikalen Netzwerken verändert werden.

Zur Ministerin für Frauen, Familie und Menschenrechte machte Bolsonaro eine besonders umtriebige Person: Damares Alves. Vor ihrer Nominierung predigte die evangelikale Pastorin in vollgepackten Megakirchen, tourte als Abtreibungsgegnerin durch das Land und war Beraterin des Gospel singenden Abgeordneten Magno Malta. Wo es in der Politik genau hingehen soll, erklärte Alves in der ersten Rede nach ihrer Nominierung: Es sei der Moment gekommen, in der die Kirche regiere und in dem Jungen wieder blau und Mädchen wieder rosa trügen. Alves ist mittlerweile keine Ministerin mehr, aber auch andere Regierungsmitglieder trieben den fundamentalistischen Umbau Brasiliens voran.

Bolsonaro versucht, aus der anstehenden Wahl einen Endkampf zwischen Gut und Böse zu machen.

Auch in anderen Punkten lieferte Bolsonaro: Steuerbefreiungen für Kirchen, Vorteile für ihre Mediennetzwerke, ein milliardenschwerer Schuldenerlass. Ebenso lässt sich seine Corona-Politik zum Teil mit dem Druck der Kirchen erklären. Wissenschaftsfeindlichkeit und Verschwörungsmythen gehören zur DNA vieler Gemeinden. Edir Macedo, Gründer der Universalkirche des Königreichs Gottes, sagte etwa, Corona sei eine „Strategie Satans und der Medien“, um die Menschen in Panik zu versetzen. Präsident Bolsonaro bat um einen landesweiten Fastentag, um das Virus mit der Macht des Glaubens zu bekämpfen. Und er brachte ein Dekret auf den Weg, das Kirchen als „notwendige Dienstleistungen“ einstufte, um so ihre zeitweise Schließung während der Pandemie zu verhindern.

Bei den bibeltreuen Christinnen kommen auch Bolsonaros homo- und transfeindliche Ausfälle gut an, sowie die Versuche, die ohnehin schon strengen Abtreibungsgesetze noch weiter zu verschärfen. Und als Bolsonaro – ähnlich wie sein großes Idol Donald Trump – ankündigte, die brasilianische Botschaft von Tel Aviv nach Jerusalem zu verlegen, knallten die Sektkorken in vielen Kirchen. Für die Evangelikalen ist Israel von zentraler Bedeutung, der Schauplatz des Armageddons. Nach Druck der mächtigen Fleischindustrie – die Umsatzeinbußen in der arabischen Welt fürchtete – wurde der Botschaftswechsel zwar abgeblasen. Aber die Richtung wurde klar: Mit Bolsonaro verschwindet zunehmend die Trennlinie zwischen Staat und Kirche.

Bolsonaro versucht, aus der anstehenden Wahl einen Endkampf zwischen Gut und Böse zu machen. Das passt zum Diskurs der Evangelikalen, die sich in einem konstanten Kriegszustand gegen alles Böse wähnen, das der modernen Gesellschaft innewohne – „spirituelle Kriegsführung“ wird das genannt. Viele Pastoren rufen nicht nur ganz offen zur Wahl von Bolsonaro auf, sondern schießen auch aus allen Rohren gegen den als „Antichrist“ und „Kommunisten“ verteufelten Gegenkandidaten Bolsonaros: Luiz Inácio da Silva, besser bekannt als „Lula“.

Der Sozialdemokrat mit der Kratzstimme, der bereits für zwei Amtszeiten regierte, versucht das Thema Religion so gut wie möglich zu umschiffen. Auf diesem Feld könne man gegen die Rechten nur verlieren, hört man Beraterinnen hinter vorgehaltener Hand sagen. Wieviel Sprengkraft hinter bestimmten Themen steckt, zeigte sich, als Lula auf einer Veranstaltung zaghaft die rigiden Abtreibungsgesetze kritisierte und damit einen Sturm der Entrüstung auslöste. Denn: 75 Prozent der Bevölkerung lehnen Schwangerschaftsabbrüche kategorisch ab. Aufgrund der politischen Brisanz umgehen auch viele Linke „heikle Themen“ wie Abtreibung, Entkriminalisierung von Drogen oder Polizeireformen, da das wichtige Stimmen kosten könnten.

Bolsonaro hat bereits ankündigt, nicht einfach abzutreten.

Ganz ohne Religion geht es für Lula dann aber doch nicht: Auf einer Wahlkampfveranstaltung sagte er, Bolsonaro sei „vom Teufel besessen“. Und er traf sich mit progressiven Evangelikalen. Auch wenn die meisten Freikirchler stramm konservativ sind, viele gar fundamentalistisch, gibt es eine Szene abseits der Scharlatan-Pastorinnen und Bolsonaro preisenden Hassprediger. Doch die progressiven Kräfte sind klar in der Minderheit.

Bei der Wahl 2018 war die Debatte um die Themen Geschlecht und Sexualität ausschlaggebend, was Bolsonaro in die Hände spielte. In diesem Wahlkampf dürften andere Themen im Fokus stehen, allen voran die wirtschaftliche Misere. Bolsonaro hat in den letzten dreieinhalb Jahren viel Unmut auf sich gezogen. Und gerade sieht es tatsächlich so aus, als könnte es gelingen, ihn bei der Wahl zu schlagen. Doch er wehrt sich mit allen Mitteln gegen die drohende Niederlage und versucht, den demokratischen Prozess zu delegitimieren. Bolsonaro verbreitet Lügen über das elektronische Wahlsystem, hetzt gegen Richterinnen. Nicht wenige rechnen mit Gewalt, einige sogar mit einem Putschversuch. Was niemand bezweifelt: Es kommen turbulente Wochen auf Brasilien zu, auch weil Bolsonaro bereits ankündigt hat, nicht einfach abzutreten. „Nur Gott“, sagte er, „entfernt mich von der Präsidentschaft.“