Wo Javier Milei auftritt, sorgt er für Schlagzeilen. Nicht anders war es auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos. Dort erklärte er, der Westen sei akut bedroht vom Sozialismus. Dazu zählte er auch den Feminismus, der eine Erfindung der Sozialisten sei, um mehr parasitäre Bürokratie zu schaffen. Soziale Gerechtigkeit sei „von Natur aus ungerecht“, da „der Staat durch Steuern finanziert wird und die Steuern zwangsweise erhoben werden“. Unternehmen seien die wahren Freiheitshelden der Gegenwart. Da dürfte sich selbst der eine oder andere Unternehmer die Augen gerieben haben. Doch der neue argentinische Präsident ist nicht nur ein populistisch begabter Redenschwinger – er meint es ernst. Milei ist ein Libertärer. In Europa hält man diese Ideologie für ein Randphänomen, doch im krisengeschüttelten Lateinamerika ist sie längst salonfähig – und nun auch an der Macht. Doch was und wer stecken dahinter?

Hilfreich ist ein Blick auf Mileis erste Maßnahmen: Derzeit debattiert in Argentinien der Kongress über sein „Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit“ (DNU). Es umfasst 351 Seiten und würde über 300 Gesetze ändern oder aufheben. Es ist das Herzstück der Schocktherapie, mit der Milei Argentinien umkrempeln und ins Spitzenfeld der Industrieländer führen will. Innovativ ist daran recht wenig. Milei schlägt vielmehr in dieselbe Kerbe des argentinischen Pendel-Dilemmas: Dem Land fehlt ein gesellschaftlicher Grundkonsens; die Argentinier nennen das Phänomen la grieta, „die Spalte“. Als der Neoliberalismus der 1990er Jahre in die Krise führte, folgte der gescheiterte Staatskapitalismus – und nun schlägt das Pendel aus in Richtung Neo-Libertarismus, der neoliberale Rezepte mit Autoritarismus vereint.

Ein Vorschlag Mileis aus der neoliberalen Mottenkiste sind Privatisierungen – egal, ob die Konzerne Verlust machen oder profitabel sind. Betroffen wären in Argentinien unter anderem die größte argentinische Fluggesellschaft Aerolíneas Argentinas, Atomkraftwerke, Banken, Häfen, die Nachrichtenagentur Télam, die Wassergesellschaft AYSA und die Eisenbahnen. Exemplarisch ist der Fall der Ölgesellschaft YPF. Die war einst staatlich, wurde unter dem rechtsperonistischen Carlos Menem privatisiert und unter der linksperonistischen Staatschefin Cristina Kirchner 2012 wieder verstaatlicht. Noch immer laufen deshalb Schiedsgerichtsprozesse der internationalen Investoren gegen Argentinien – und nun soll die YPF also wieder privat werden.

Gleichzeitig sieht Mileis Dekret vor, Umweltschutzmaßnahmen zu lockern. Superreiche Steuerhinterzieher werden mit einer Amnestie gelockt, ihre Profite nach Argentinien zurückzutransferieren. Beamte hingegen sollen entlassen und die Macht zentralisiert werden. Künftig soll so beispielsweise der Präsident, nicht mehr der Kongress, über Rentenerhöhungen entscheiden.

Ein Vorschlag Mileis aus der neoliberalen Mottenkiste sind Privatisierungen.

An diese Rezepte glaubten schon die Neoliberalen der 1980er und 1990er Jahre: Großbritanniens eiserne Lady Margaret Thatcher, der chilenische Diktator Augusto Pinochet oder auch Argentiniens peronistischer Expräsident Carlos Menem. Sie sahen im Staat ein ineffizientes, korruptionsanfälliges Übel, das es zu minimieren galt, sie glorifizierten die individuelle (Unternehmens-)Freiheit und bekämpften vermeintlich kommunistische alternative Wirtschafts- und Lebensmodelle (unter anderem Genossenschaften und Allmende-Modelle der Indigenen). Alle drei sind tot, aber ihre Ideen erleben derzeit einen zweiten Frühling, zuletzt etwa in Form der glücklosen Liz Truss in Großbritannien, Donald Trump in den USA oder nun eben „Kettensägenmann“ Milei.

Neu daran ist die Kombination mit offenem Autoritarismus, der in demokratischen Ländern bislang nicht salonfähig war. Mileis Dekret sieht beispielsweise eine Beschneidung des Streik- und Demonstrationsrechts vor. Sozialhilfeempfänger drohen Kürzungen, wenn sie sich gegen die Regierung auflehnen. Wer Straßen blockiert, muss mit bis zu fünf Jahren Haft rechnen.

Der Neoliberalismus hat seine Wurzeln im 20. Jahrhundert und ist eine Gegenreaktion auf den Zweiten Weltkrieg und die totalitäre Erfahrung in Europa. Ihr bekanntester Theoretiker, der Österreicher Friedrich von Hayek, glaubte, mit der Stärkung des Individuums und der freien Wirtschaft könne man ein Bollwerk schaffen gegen totalitäre Versuchungen. Er gründete 1947 in der Schweiz die Mont-Pelérin-Gesellschaft, der Akademiker, Unternehmer und Journalisten angehörten. Sie beschlossen, zukünftige Generationen von wirtschaftsliberalen Ideen zu überzeugen. Es war die Geburtsstunde der neoliberalen Denkfabriken.

Eine der ersten war das 1955 in Großbritannien entstandene Institute of Economic Affairs (IEA). Das Institut dümpelte in seiner Anfangszeit vor sich hin – bis die Erdölmultis Shell und BP in den 1970er Jahren in die Finanzierung einstiegen. Laut dem australischen Klimaforscher Jeremy Walker erlaubte dieses Bündnis „den Ölmultis, ihre Profitinteressen über dritte, vermeintlich unparteiische Akteure in der Welt zu verbreiten“.

Die Forderungen der libertären Ökonomen mischten fortan Lobbyismus mit vermeintlich wissenschaftlichen Theorien: Sie forderten Steuererleichterungen für Konzerne, begründet mit der unter anderem von Thomas Piketty widerlegten Idee vom Trickle-Down-Effekt (wonach die Reichtumsmehrung der obersten Schichten automatisch nach unten durchsickert). Sie übten Kritik am Wohlfahrtsstaat, an indigenen Landrechten sowie an der Umwelt- und Klimaschutzbewegung, weil diese dem Extraktivismus Grenzen auferlegt. Woher das Geld für die Thinktanks kam, wurde vor der Öffentlichkeit verborgen.

Die Forderungen der libertären Ökonomen mischten fortan Lobbyismus mit vermeintlich wissenschaftlichen Theorien.

In Peru stritt beispielsweise Hernan de Soto vom libertären Institut Libertad y Democracia für individuelle Landrechte für die Indigenen. Nur so könnten sie ihr Land veräußern, Hypotheken aufnehmen und sich ins Wirtschaftsleben eingliedern und von ihren Ressourcen profitieren, argumentierte er. Auch Klimaskepsis und die Kriminalisierung von Umweltprotesten gehören zum libertären Gedankengut. Dass der FDP-Abgeordnete Frank Schäffler Klimaaktivisten als Terroristen bezeichnet, ist kein Zufall: Sein Freiheitsinstitut Prometheus  ist Teil des libertären Atlas-Netzwerks.

Das Atlas-Netzwerk entstand 1981 als Zusammenschluss des IEA mit dem Institute for Human Studies, ebenfalls ein Mitglied der Mont-Pelérin-Society. Benannt ist es nach dem libertären Roman Atlas shrugged der US-Amerikanerin Ayn Rand. War der libertäre Kapitalismus bis dahin ein vorwiegend angelsächsisches Phänomen, gelang mit dem Atlas-Netzwerk der weltweite Siegeszug. Entscheidend dafür waren Finanzspritzen von US-Milliardären und Firmen, unter anderem der Koch-Brüder, der Tabak- und Bergbauindustrie oder von Pressemagnaten wie Rupert Murdoch. Derzeit gehören dem Netzwerk über 500 Denkfabriken in über 90 verschiedenen Ländern an, darunter das Fraser-Institut in Kanada, die Heritage Foundation in den USA und die UK Independence Party von Nigel Farage, der ein wichtiger Strippenzieher hinter dem Brexit war.

In Lateinamerika wurde 1991 der Argentinier Alejandro Chafuen der erste Atlas-Netzwerker. In einem Subkontinent, der damals gerade erst Diktaturen hinter sich gelassen hatte, und in dem fast die Hälfte der Bevölkerung in Armut lebte, blieben libertäre Denkfabriken allerdings erst einmal marginal.

Zu ihrem Aufschwung trug kurioserweise die rosarote Welle zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei. 1999 gewann im Ölstaat Venezuela ein sozialistisch inspirierter Oberstleutnant namens Hugo Chávez, der mit Petrodollars und kubanischer Beratung Gesinnungsgenossen in der Region finanzierte. Er nutzte verschiedene Plattformen, etwa das linke Netzwerk Foro de Sao Paulo, und gründete selbst neue wie das Alba-Regionalbündnis. Ein Jahrzehnt später wurde fast ganz Südamerika von linken Regierungen regiert.

Der Rohstoffboom, getrieben durch Chinas Nachfrage, wurde von den linken Regierungen für Sozialprogramme genutzt. Die Armut sank, doch gleichzeitig blühten Klientelismus, Korruption und Misswirtschaft. Mit dem Nachlassen der chinesischen Nachfrage wurden die Missstände sichtbar. „Es gab eine Krise, eine Nachfrage nach Veränderungen, und wir hatten Leute, die bereit waren, bestimmte politische Maßnahmen voranzutreiben“, sagte Chafuen 2017 bei einer libertären Tagung in Buenos Aires.

Zu ihrem Aufschwung trug kurioserweise die rosarote Welle zu Beginn des 21. Jahrhunderts bei. 

Die Anhängerschaft war mittlerweile gewachsen: Auf der Tagung tummelten sich Minister des damaligen argentinischen Präsidenten Mauricio Macri – jetzt einer der Unterstützer Mileis –, konservative bolivianische Oppositionspolitiker und Mitglieder der Bewegung Freies Brasilien, die die Protestwelle gegen die linke Präsidentin Dilma Rousseff initiierte.

Zum libertären Netzwerk gehören in Lateinamerika auch die Stiftung Eléutera in Honduras, Cedice in Venezuela, das Centro Ricardo Salinas Pliego in Mexiko, geleitet von einem der reichsten Unternehmer des Landes, oder die Universität Francisco Marroquín in Guatemala. Milei wurde in der Stichwahl von zahlreichen Expräsidenten des Kontinents unterstützt, darunter Vicente Fox und Felipe Calderón (Mexiko), Ivan Duque und Andrés Pastrana (Kolumbien) und Jorge Quiroga (Bolivien). Auch Literaturnobelpreisträger Mario Vargas Llosa, einst ein liberaler Leuchtturm, war darunter. Dies zeigt, wie weit der Neo-Libertarismus inzwischen in die politische Mitte gerückt ist.

In Brasilien gab es vor zehn Jahren höchstens drei libertäre Thinktanks, jetzt sind es laut Helio Beltrão über 30. Der ehemalige Investmentfondsmanager leitet einen davon, das Mises-Institut. „Es ist wie eine Fußballmannschaft. Die Verteidiger sind die Akademiker, die Stürmer sind die Politiker“, so Beltrão. Das Mittelfeld, fügt er hinzu, sind die „Jungen der Kultur“, die die öffentliche Meinung bilden und dazu besonders aktiv und aggressiv soziale Medien nutzen.

In Lateinamerika waren neoliberale Ideen schon immer eng vermischt mit autoritären – etwa im Chile Pinochets. Derzeit erlebt diese Kombination zahlreiche, an den jeweiligen Kontext des Landes angepasste Neuauflagen. In Chile kombiniert Ex-Präsidentschaftskandidat José Antonio Kast von der Republikanischen Partei rechtsextremes und libertäres Gedankengut. In Argentinien mischt sich der Libertarismus Mileis mit der negationistisch-militaristischen Position seiner Vizepräsidentin Victoria Villaruel. Expräsident Jair Bolsonaro kombinierte in Brasilien die libertäre Verherrlichung des privaten Unternehmertums und des Extraktivismus mit einer Militarisierung des Staatsapparats und mit populistischen Manipulationsstrategien. Sein geistiger Mentor war der esoterische Faschismus-Sympathisant und Impfgegner Olavo de Carvalho.

In Lateinamerika geriet der Libertarismus rasch ins Fahrwasser illegaler Interessen.

In Lateinamerika, wo der Rechtsstaat schwach ist, geriet der Libertarismus rasch ins Fahrwasser illegaler Interessen. Ein Beispiel dafür sind die privaten Modellstädte in Honduras. Die Idee, gescheiterte Staaten von innen heraus zu reformieren durch die Schaffung von Enklaven nach dem Modell Singapurs, wurde vom Weltbankökonomen Paul Romer erfunden und bald von Libertären wie dem Cato- und dem Hayek-Institute aufgegriffen. Einer der ersten Staatschefs, den sie davon überzeugen konnten, war der konservative honduranische Präsident Juan Orlando Hernández. Der setzte das Projekt mit autoritären Mitteln gegen Widerstände des Verfassungsgerichts durch. Auf der Karibikinsel Roatán errichteten internationale Finanzinvestoren – darunter der in Monaco lebende deutsche Manager Titus Gebel – ein paar Holzbaracken und nannten sie die freie Enklave Próspera. Diese kam in die Schlagzeilen durch Menschenrechtsverletzungen und wirkte eher wie ein Briefkasten für Steuerhinterzieher. Hernández steht inzwischen wegen Drogenhandels in den USA vor Gericht.

Friedrich Hayek würde sich im Grabe umdrehen, mutmaßt der Guardian-Kolumnist Georges Monbiot: „Als er und andere die Grundsätze des Neoliberalismus formulierten, glaubten sie, damit die Welt vor Tyrannei zu schützen. Doch dann kam das große Geld, und aus der befreienden Idee wurde eine neue Quelle der Unterdrückung.“

Ob Mileis libertäres Experiment erfolgreicher endet als das von Truss, ist offen. Zahlreiche Gerichte haben bereits Klagen gegen seine Reformen angenommen. Im Kongress stellt seine Partei zusammen mit Macris bürgerlicher PRO-Partei nur 79 von 257 Sitzen, und für den 24. Januar haben die Gewerkschaften zu einem Generalstreik und zu Demonstrationen aufgerufen.