Brasiliens Präsident Jair Bolsonaro ist zwar der prominenteste und schillerndste, aber längst nicht der einzige Rechtsextremist in Lateinamerika. Da ist zum Beispiel Javier Milei aus Argentinien. Er hat einen wirren Haarschopf und einen radikalen, provokanten Diskurs. Mit Sätzen wie „Steuern sind Raub“ und „Sozialhilfen sind asozial, weil sie Menschen in die Abhängigkeit von Politikern treiben“, kam der libertäre Ökonom bei den vergangenen Wahlen auf 17 Prozent und zieht in den Kongress ein. In Chile kommt ebenfalls ein Rechtsaußen in die Stichwahl um die Präsidentschaft: José Antonio Kast sieht sich als Erbe der Militärdiktatur, verspricht eine harte Hand gegen Kriminelle und Migranten und will die Steuern radikal senken.
Als es 2019 in den konservativ regierten Ländern Ecuador, Kolumbien und Chile zu Massenprotesten kam, hatten Neofaschisten schnell eine kuriose Weltverschwörungstheorie zur Hand: Es handele sich um eine „diffus-molekulare Revolution“ der Kommunisten, sagte z.B. Kolumbiens Expräsident Álvaro Uribe, um die Demonstranten zu diskreditieren.
Auf der anderen Seite des ideologischen Spektrums schallt es ähnlich rabiat. In Nicaragua hält der linke sandinistische Machthaber Daniel Ortega jeden Kritiker für einen „Terroristen und Vaterlandsfeind“, seine Frau und Co-Präsidentin Rosario Murillo sieht den Antichristen heraufziehen, wenn jemand von Demokratie und Menschenrechten spricht. In Mexiko beschimpft Präsident Andrés Manuel López Obrador Universitäten, Feministinnen, Menschenrechtsorganisationen, Wissenschaftler und Indigene als neoliberal, konservativ, korrupt, neureich und „aufstiegsorientiert“, wenn sie ihn kritisieren.
Lateinamerika ist 2021 so polarisiert wie seit den Militärdiktaturen und Bürgerkriegen der 70er und 80er Jahre nicht mehr.
Kubas Staatschef Miguel Díaz-Canel benutzt das linke Pendant der „diffus-molekularen“ Revolution und spricht von einem US-imperialistischen Umsturzversuch, wenn die Kubaner auf den Straßen Freiheit fordern und das Ende der sozialistischen Mangelwirtschaft. In Bolivien sah der sozialistische Präsident Luís Arce Putschisten hinter den Protesten gegen seine Regierung. Und in Honduras will Xiomara Castro von der linken Partei Libre bei den Präsidentschaftswahlen Ende November die Narcodiktatur der Nationalpartei entthronen. Diese ihrerseits warnt vor den „Kommunisten und Kindermördern“ von Libre.
Lateinamerika ist 2021 so polarisiert wie seit den Militärdiktaturen und Bürgerkriegen der 70er und 80er Jahre nicht mehr. Die Extreme führen verbal Krieg; die demokratische Mitte ist aufgerieben und diskreditiert. Besonders die jungen Wähler sind desorientiert. Einer Umfrage der Vanderbilt University zufolge zweifeln Menschen zwischen 18 und 25 Jahren besonders häufig an der Demokratie und lassen sich in den sozialen Netzwerken leichter von Verschwörungstheorien oder autoritären Bewegungen ködern. Davon gibt es inzwischen einige. Manchmal kommen sie im Fahrwasser konservativer religiöser Bewegungen wie Pro-Familia daher, andere Male als libertäre Think Tanks im Umfeld der US-amerikanischen Tea Party-Bewegung oder als vermeintlich moderne Korruptionsbekämpfer wie die rechte, libertäre Bewegung Freies Brasilien (MBL). Sie war 2015 treibende Kraft hinter den Protestaufrufen, die zum Amtsenthebungsverfahren der linken Präsidentin Dilma Rousseff führten.
Die Parteien der Mitte, seien sie sozialdemokratischer oder christdemokratischer Prägung, werden mit ihren gemäßigten Tönen von Medien und Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen. Außer sie werden im Parlament als „Königsmacher“ benötigt, um den Regierenden Mehrheiten zu beschaffen. Die Hoffnung, dadurch mäßigend zu wirken, zahlt sich allerdings nur selten aus und birgt die Gefahr, dass sich die verhandlungsbereiten Politikerinnen in den Augen vieler Wähler als opportunistische Postenjäger weiter diskreditieren.
Die Parteien der Mitte werden mit ihren gemäßigten Tönen von Medien und Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen.
Der Niedergang der Traditionsparteien hat viele Gründe. Manche davon sind selbst verschuldet, wie Korruption und die Unfähigkeit zur programmatischen und personellen Erneuerung. Andere haben ihre Wurzeln in überhöhten Erwartungen der Wähler. Die Demokratie, so hofften viele nach dem Ende der Diktaturen und Bürgerkriege in den 1990er Jahren, werde nicht nur Menschenrechte und friedliche politische Alternanz bringen, sondern auch mehr Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Fortschritt. Das ist nur zum Teil gelungen. Fast alle Volkswirtschaften wuchsen dank der Globalisierung oder erlebten wie Mexiko und Chile sogar dramatische Modernisierungsschübe. Doch die internationalen ökonomischen Rahmenbedingungen änderten sich nur sehr langsam. Während die Industriestaaten Autos, Maschinen und Luxusgüter mit hohem Mehrwert exportierten, lieferte Lateinamerika weiterhin hauptsächlich landwirtschaftliche Kolonialwaren, Rohstoffe oder Konsumgüter, die in billigen Fertigungswerkstätten hergestellt wurden.
Beim sozialen Ausgleich kamen Lateinamerikas Regierungen nur schleppend voran. Der Reichtum tröpfelte nur zögerlich nach unten – anders als die herrschende neoliberale volkswirtschaftliche Lehre versprach. Zu wenig gebildet und unproduktiv waren viele Arbeitskräfte, zu wenig wettbewerbsfähig die oft oligopolistischen Wirtschaftsstrukturen. Zugleich verhinderten die Eliten die Modernisierung der Steuer-, Arbeits- und Sozialsysteme, die nötig gewesen wäre, um die seit der Kolonialzeit klaffende Schere zwischen Arm und Reich zu verkleinern. Doch das hätte mehr Steuergerechtigkeit und weniger Privilegien bedeutet. Vor einer solchen Konfrontation schreckten die Politiker zurück, die in der Regel denselben Eliten entstammten. Privilegien zu kappen hätte einen Medienkrieg nach sich gezogen und die Wahlkampfkassen austrocknen lassen.
Die Demokratie, so hofften viele nach dem Ende der Diktaturen und Bürgerkriege, werde nicht nur Menschenrechte und friedliche politische Alternanz bringen, sondern auch mehr Gerechtigkeit und wirtschaftlichen Fortschritt.
Eine Zeitlang wurde dies wettgemacht durch den Boom der Rohstoffpreise wie Erdöl oder Soja. Durch Exportsteuern oder höhere Gewinne staatlicher Rohstoffkonzerne füllten sich in der ersten Dekade des neuen Jahrtausends die Kassen der Regierungen. Das traf zeitlich zusammen mit der sozialdemokratischen „rosaroten Welle“. Mit erhöhten Staatsausgaben für Sozialhilfe- und Investitionsprogramme konnten die Sozialisten und Sozialdemokraten den Mangel an Strukturreformen übertünchen. Die Armen bekamen etwas, den Reichen wurde nichts genommen, und alle waren zufrieden.
Die Pandemie und der Einbruch der Weltwirtschaft, zusammen mit der aufziehenden Systemkrise des Kapitalismus durch Ressourcenverknappung, Klimawandel und Bevölkerungswachstum, haben diese Illusion verpuffen lassen. Es drohen Verteilungskämpfe, und die Zeche scheint als erstes die Demokratie zu zahlen: Der Rückhalt für sie sinkt seit einigen Jahren in Lateinamerika, wie die Umfragen des Latinobarómetro und der Vanderbilt University enthüllen. Laut letzterer halten inzwischen 25 Prozent autoritäre Regime für eine bessere Regierungsform. In Peru und Guatemala antworteten über die Hälfte der Befragten, sie würden einen Staatsstreich unterstützen, wenn dieser die Korruption beende.
Die Eliten verhinderten die Modernisierung der Steuer-, Arbeits- und Sozialsysteme, die nötig gewesen wäre, um die seit der Kolonialzeit klaffende Schere zwischen Arm und Reich zu verkleinern.
Laut Latinobarómetro sind 70 Prozent der Bevölkerung der Region mit der Demokratie unzufrieden. 49 Prozent halten sie trotzdem für die beste Regierungsform. Nur 13 Prozent sprechen sich offen für autoritäre Regime aus. 27 Prozent haben zur Regierungsform keine Meinung. Das mag erstmal beruhigend anmuten, aber 2010 lag die Zustimmung zur Demokratie noch bei 63 Prozent. Frust, das Gefühl, nicht wahrgenommen zu werden oder zukurzgekommen zu sein sowie Zukunfts- und Abstiegsängste machen sich in Demonstrationen Luft, werden aber auch an die Urnen getragen.
Dort haben Extremisten leichte Beute. Außenseiter feiern immer häufiger Überraschungserfolge. Milei und Kast sind dafür Beispiele. Aber auch die Peruaner wählten kürzlich einen marxistischen Landschullehrer zum Präsidenten, der seither von einer Kabinettskrise in die nächste stolpert. Die Guatemalteken stimmten für einen Geschäftsmann, der rassistische und klassistische Sprüche klopft und vom Militär und der Organisierten Kriminalität unterstützt wird. Alle wurden durch demokratische Wahlen an die Macht gebracht.
Dasselbe gilt für Nayib Bukele in El Salvador, der wahre Erdrutschsiege einfährt. Der Sprössling einer Kaufmannsfamilie machte seine politische Karriere zwar in der linken Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN), überwarf sich dann aber mit der Parteiführung und regiert nun mit einer eigenen, personalistischen Sammelbewegung namens „Neue Ideen“. Worin diese Ideen bestehen, ist unklar. Der forsch twitternde Millenial kommt mal progressiv, mal autoritär daher. Konsequent und rasant allerdings ist der seit 2019 amtierende Präsident bei der Verfolgung von Kritikern und dem Abbau institutioneller Gegengewichte. Kein Problem hatte Bukele beispielsweise damit, unliebsame Richter in die Frühpension zu schicken oder mit dem Militär den Kongress zu stürmen, wenn der nicht in seinem Sinne abstimmte oder zu lange debattierte. „Normalerweise brauchen durch Wahlen an die Macht gekommene Autokraten zwei Mandate, um die Demokratie zu beerdigen“, sagt der brasilianische Politologe Oliver Stuenkel. Bukele könnte das schon in einem gelingen.
Es drohen Verteilungskämpfe, und die Zeche scheint als erstes die Demokratie zu zahlen.
Nicht überall ist der Durchmarsch der autoritären Populisten so krass wie in El Salvador. Es gibt Länder wie Uruguay und Costa Rica, die widerstandsfähiger sind gegenüber Extremisten und autoritären Figuren. Doch die Tendenz ist da, und sie ist beunruhigend. Denn eine Antwort haben die Populisten auf die durchaus berechtigten Sorgen der Wähler und die großen Fragen der Zukunft in der Regel nicht. Ihre Rezepte ähneln sich rechts wie links: Permanente Polarisierung und Mobilisierung der Basis gegen vermeintliche Feinde, Personalismus, Militarisierung, Autoritarismus, die Politisierung der Justiz, De-Institutionalisierung.
Kurz, es geht um das Ersticken von Dissens durch Kooptation und Einschüchterung, um den Ausbau der eigenen Macht und Pfründe. Wahlen können dabei durchaus ein Mittel zum Zweck sein, vor allem, wenn die Autokraten populär sind wie Bukele oder wenn sie das Wahlsystem manipulieren können so wie Ortega. Doch das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie nicht Politik machen, sondern Antipolitik, d.h. die Annullierung jeglicher Debatten als Grundlage politischer Entscheidungsfindung.
Eine Antwort haben die Populisten auf die durchaus berechtigten Sorgen der Wähler und die großen Fragen der Zukunft in der Regel nicht.
Bedenklich ist, dass die autoritären Herrscher nicht vor kriminellen Machenschaften zurückschrecken. In Nicaragua und Venezuela beispielsweise beuten kriminelle Organisationen im Schutze der Regierung Goldvorkommen aus, um so internationale Sanktionsmechanismen zu umgehen. In Honduras bauen libertäre Investoren mit Genehmigung des Präsidenten Privatstädte, eine Art extraterritoriale Enklaven, die das Potenzial für neue Steuer- und Geldwäscheoasen haben. Politik und Organisierte Kriminalität verschmelzen dabei zusehends.
Die Wähler erkennen die Falle meist erst, wenn es zu spät und der demokratische Ausweg über Wahlen nicht mehr möglich ist. Venezuela ist dafür das deutlichste Beispiel. Kurioserweise liegt bei der Zustimmung zur Demokratie ausgerechnet Venezuela mit 68 Prozent auf dem zweiten Platz in der Region – nach Uruguay mit 74 Prozent. Die Venezolaner scheinen ihr Flirten mit der Antipolitik inzwischen zu bereuen.