Wenn am 2. Juni 2024 in Mexiko allgemeine Wahlen stattfinden, steht ein Ergebnis schon fest: Das Land wird für die folgenden sechs Jahre von einer Präsidentin geführt werden. Und wenn es keine Überraschungen gibt, wird diese nach allen Umfragen Claudia Sheinbaum Pardo sein, die Kandidatin der Regierungskoalition aus Morena, der Arbeiterpartei und der Grünen Ökologischen Partei. Sheinbaum wurde Anfang September auf Grundlage der Ergebnisse von fünf Umfragen nominiert. Sie soll die Politik des derzeitigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, in Mexiko kurz AMLO genannt, weiterführen, der 2018 nach einem Erdrutschsieg die Regierung übernommen hatte und der mit seinem Programm der sogenannten „Vierten Transformation“ die Machtverhältnisse grundlegend verändert hat.

Dass Mexiko eine Präsidentin bekommen wird, steht auch deshalb quasi fest, weil das wichtigste Oppositionsbündnis Frente Amplio por México ebenfalls eine Kandidatin gekürt hat. Für das Bündnis jener drei Parteien, die jahrzehntelang die Politik in Mexiko dominiert haben (und die von der vor einer Dekade gegründeten Morena in die zweite Reihe verwiesen wurden), tritt Xóchitl Gálvez Ruiz an. Die Senatorin war landesweit weitgehend unbekannt, hat es aber geschafft, in nur zwei Monaten die bislang vorhersehbare politische Dynamik aufzumischen. Erst ihre öffentlichen Auseinandersetzungen mit dem Präsidenten, der sie wiederholt in seinen allmorgendlichen Pressekonferenzen angriff, hatten ihr mit Unterstützung einer frechen Kampagne im Juni eine breite Aufmerksamkeit beschert. Ihre wachsende Popularität bewegte dann die Parteiführungen der Opposition dazu, das laufende Kandidatenauswahlverfahren – das zunächst aus der Vorlage von 150 000 Unterschriften, einer landesweiten Umfrage und schließlich einer internen Vorwahl bestand – kurzerhand vor Abschluss der Umfrage abzubrechen. Den verbliebenen Kandidaten im Dreierbündnis aus der ehemals allmächtigen und 70 Jahre lang autoritär regierenden Partei der institutionalisierten Revolution (PRI), der dieser für zwei Präsidentschaften folgenden konservativen Nationalen Aktionspartei (PAN) sowie die sozialdemokratische Partei der demokratischen Revolution (PRD), blieb nichts anderes übrig, als gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Xóchitl Gálvez beschreibt sich als Frau indigener Herkunft aus armen Verhältnissen sowie als Computeringenieurin und Unternehmerin. Ihre Herkunft, Vita sowie ihr volkstümliches Auftreten und Charisma scheinen auf den ersten Blick besser zum Narrativ von Morena zu passen. Unter der PAN-Regierung von Vicente Fox von 2000 bis 2006 war sie Leiterin der nationalen Kommission für indigene Fragen, danach Kandidatin für die Regierung ihres Bundeslandes, später Bezirksbürgermeisterin in Mexiko-Stadt. Ihre politische Position bezeichnete sie in einem Interview als mitte-links, aber vor allem pragmatisch. Aber während ihre Gegenkandidatin auf der Beliebtheit des Präsidenten aufbauen kann und für die Kontinuität seines Programms der Vierten Transformation steht, hat weder Gálvez noch ihre Koalition bisher eine inhaltliche Marschrichtung vorgelegt, die über Kritik an Regierung und Präsidenten sowie über Allgemeinplätze hinausgeht.

Die Favoritin bleibt Claudia Sheinbaum Pardo, bis vor kurzem Regierungschefin von Mexiko-Stadt.

Die desolate Stimmung innerhalb ihrer Koalition hat Xóchitl Gálvez aber durch vorsichtigen Optimismus ersetzt. Noch vor kaum zwei Monaten stellte sich lediglich die Frage nach dem Abstand, mit dem die Opposition die Wahlen verlieren würde. Auch nach allen aktuellen Umfragen wird sie Sheinbaum kaum einholen können. Aber immerhin könnte Gálvez dafür sorgen, dass die Oppositionsparteien im Kongress ihre Präsenz erhöhen und damit die Hoffnung der Regierungskoalition auf eine qualifizierte Mehrheit für Verfassungsänderungen zunichtemachen. Der lange Wahlkampf könnte noch für weitere Überraschungen sorgen, und das Wahlergebnis wird auch davon abhängen, ob noch eine weitere Partei der Opposition einen Kandidaten oder eine Kandidatin aufstellen wird.

Die Favoritin bleibt aber Claudia Sheinbaum Pardo, bis vor kurzem Regierungschefin von Mexiko-Stadt. Das Amt diente vor ihr bereits AMLO als Sprungbrett ins Präsidentenamt. Ihr parteiinterner Konkurrent um die Kandidatur, der ehemalige Außenminister Marcelo Ebrard, hatte den Posten ebenfalls bereits inne. Der Posten war ab Ende der 1990er Jahre unter den Sozialdemokraten zum Katalysator einer linken modernen Politik mit Auswirkungen auf das ganze Land geworden. Unter AMLO war Sheinbaum Umweltsekretärin in Mexiko-Stadt, danach Teil seines Wahlkampfteams bei den verlorenen Präsidentschaftswahlen 2006, kehrte dann wieder an die Universität zurück und engagierte sich nach den (ebenfalls von AMLO verlorenen) Wahlen 2012 für die Gründung von Morena. 2018 gewann sie als erste Frau die Wahl in Mexiko-Stadt, während AMLO Präsident wurde.

Sheinbaum kommt aus der Mittelschicht und hat eine umfangreiche akademische Vita. Die Physikerin promovierte nach einem Forschungsaufenthalt in Berkeley in Energietechnik. Sie war Forscherin am Institut für Ingenieurswissenschaften der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko und befasste sich schon früh mit Fragen des Klimawandels. Sie spezialisierte sich auf Fragen nachhaltiger Entwicklung, war Mitglied der Expertengruppe der Vereinten Nationen zum Klimawandel und Beraterin der Unternehmensleitung der Bundeskommission für Elektrizität, einem Staatsunternehmen.

Im Vergleich mit dem Präsidenten wurde Sheinbaum oft mangelndes Charisma vorgeworfen. Jedoch scheint dies nicht von Relevanz zu sein. Wichtig ist vielmehr, dass sie glaubwürdig das Erbe AMLOs antreten kann, dem sie politisch ein Vierteljahrhundert gefolgt ist. Sie ist zudem fest innerhalb von Morena verankert und hat sich trotz des Einbruchs ihrer Partei bei den Distriktwahlen 2021 in Mexiko-Stadt bewährt. Dass sie sich bei der Kandidatenkür der Regierungskoalition durchsetzen würde, war von vornerein in allen Umfragen als gesetzt angesehen worden. Aus Sicht der Partei und ihrer Mitglieder, aber auch eines Großteils derer, die die Politik AMLOs fortgesetzt sehen wollen, ist sie aufgrund ihres Werdegangs jedenfalls die beste Kandidatin.

Der Rückzug des Präsidenten, der die politische Agenda Mexikos seit der Jahrhundertwende wie kein anderer geprägt hat, wird ein Vakuum hinterlassen.

Der Rückzug des Präsidenten, der die politische Agenda Mexikos seit der Jahrhundertwende wie kein anderer geprägt hat, wird trotzdem ein Vakuum hinterlassen – ein Vakuum, das Sheinbaum einerseits wird füllen müssen, das ihr andererseits aber auch Handlungsspielraum eröffnen wird. So steht sie vor gleich mehreren Herausforderungen, die sie von Präsident López Obrador – aller Voraussicht nach – erben wird. Sheinbaum muss die engste Gefolgschaft des Präsidenten halten, den sie als charismatischen Führer nicht ersetzen kann, von dessen Popularität sie aber abhängt. Dafür muss sie glaubwürdig die Kontinuität der sechsjährigen Regierung AMLOs verkörpern, vor allem was die Fortsetzung der Sozialprogramme betrifft. Doch die stehen vor Problemen: Der Aufbau eines universellen Gesundheitssystems oder die Grundrente, die im letzten Regierungsjahr um 25 Prozent erhöht werden soll, können schon bald nicht mehr aus den laufenden Einnahmen finanziert werden. Auch wenn die Einnahmen aufgrund einer rigoroseren Steuereintreibung gerade bei großen Unternehmen deutlich angestiegen sind, liegt das Steueraufkommen in Mexiko bei unter 15 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Trotzdem werden sowohl eine Steuerreform als auch eine stärkere Verschuldung vom Präsidenten bislang ausgeschlossen. Angesichts der Wahlen ist hier nun etwas in Bewegung gekommen. Der Haushalt wird 2023 voraussichtlich ein Defizit in Höhe von 3,3 Prozent aufweisen und die Verschuldung soll auf 49 Prozent des BIP anwachsen.

In Interviews hat Sheinbaum die notwendige Transformation der Energieproduktion hin zu erneuerbaren Energien hervorgehoben. Eine Abkehr von der vor allem auf Erdöl basierenden Energiepolitik war bisher ein Tabu. Die Regierung verfolgt das Ziel der Energiesouveränität durch die Stärkung des seit Jahrzehnten nicht mehr rentablen staatlichen Erdölunternehmens PEMEX und der ebenfalls staatlichen CFE, die für die Produktion und den Transport von Elektrizität zuständig ist. Diese Politik ist zu einem schwelenden Disput im Rahmen des Handelsabkommens mit den USA und Kanada geworden. Nach erfolglosen Konsultationen werden die USA nun – aufgrund der Benachteiligung ausländischer Investitionen in erneuerbare Energien – den Streitlösungsmechanismus des Abkommens in Gang setzen. Sollte Mexiko vor diesem Panel verlieren, könnten Milliardenforderungen auf das Land zukommen.

Ein weiteres Problem, das Sheinbaum von AMLO erben würde, ist das angespannte Verhältnis zu den Universitäten. Die Austeritätspolitik hatte besonders starke Auswirkungen auf Forschungsinstitute und Hochschulen gehabt, die mit regelmäßiger Kritik an der Regierungspolitik den Präsidenten verärgerten. AMLO steckte die Bildungsinstitutionen – wie auch Nichtregierungsorganisationen einschließlich feministischer Gruppen – kurzerhand in den gleichen argumentativen Sack wie Konservative, korrupte Eliten und Neoliberale, die sich gegen den Verlust ihrer Privilegien vereint hätten. Sheinbaum hingegen betont die Bedeutung von Forschung und Entwicklung.

Claudia Sheinbaum steht vor der Schwierigkeit, gleichzeitig Kontinuität versprechen und Veränderungen vorbereiten zu müssen.

Nicht zuletzt würde sie das konfliktgeladene Verhältnis von López Obrador zu den Institutionen, aber auch dessen konfrontativen und polarisierenden Regierungsstil erben. AMLO argumentiert, dass seine Regierung der Vierten Transformation die genuine Vertretung der Interessen des Volkes gegenüber den Eliten sei. Von seinen Kritikern wird AMLO deswegen nicht nur des Populismus bezichtigt. Ihm wird auch vorgeworfen, dass er mit Blick auf die mexikanische Geschichte eine autoritäre Restauration verfolge, indem er die Autonomie der Institutionen einzuschränken versuche, die als Schranken der Exekutive und zur Schaffung von Transparenz im Rahmen des Demokratisierungsprozesses seit Ende der 1990er Jahren aufgebaut worden sind.

Claudia Sheinbaum steht vor der Schwierigkeit, gleichzeitig Kontinuität versprechen und Veränderungen vorbereiten zu müssen. Zudem tritt sie gegen eine Kandidatin an, die beides ebenfalls ankündigen wird. Trotzdem bleibt sie klare Favoritin. Während die anhaltende Popularität AMLOs, die im Großen und Ganzen gute wirtschaftliche und soziale Regierungsbilanz, aber auch die Unterstützung ihrer Partei ihr politisches Kapital darstellt, sind für Gálvez die Parteien ihrer Koalition eher ein Ballast. Das betrifft weniger die Sozialdemokraten, die darum fürchten müssen, erneut in den Kongress einziehen zu können. Sondern in erster Linie PAN und PRI als diskreditierte ehemalige Regierungsparteien. Die historische Erfahrung, dass deren Politik immer im Interesse weniger war, hat AMLOs Glaubwürdigkeit aufgebaut: als ein Präsident, der sich zum ersten Mal für die Mehrheit der unprivilegierten Bevölkerung einsetzt. AMLO hat es in den vergangenen Jahren nicht einen Moment ausgelassen, diesen Zusammenhang öffentlich zu bekräftigen. Trotz berechtigter Kritik – etwa angesichts des Versagens, Gewalt und Verbrechen zu verringern, oder angesichts der Versuche, autonome Institutionen unterzuordnen – sieht eine Mehrheit der Bevölkerung ihn weiterhin als Chance für Veränderung. Bisher scheint diese Mehrheit bereit zu sein, dieses Vertrauen auch in seine designierte Nachfolgerin zu setzen.