In El Salvador vollzieht sich gerade das wohl gefährlichste politische Experiment Lateinamerikas. Eine eigenwillige Spielart des Populismus scheint im praktisch jahrhundertelangen Tauziehen zwischen Autoritarismus und Demokratie in der Region jetzt die Oberhand zu gewinnen. Anstatt das Land zu spalten, wie es der Populismus normalerweise tut, vereint er es. Vor allem aber ist er erfolgreich – und zwar auf so schillernde und aufsehenerregende Weise, dass man in der Region und darüber hinaus ganz genau hinsieht.

An der Spitze des Ganzen steht der selbsternannte „coolste Diktator der Welt“, Nayib Bukele. Seit er Zehntausende mutmaßliche Bandenmitglieder in diversen Polizei- und Militäraktionen festnehmen ließ, wobei allerdings nicht einmal der Anschein von rechtsstaatlichen Praktiken oder gar ordentlichen Gerichtsverfahren gewahrt wurde, ist Bukele ein veritabler Nationalheld geworden. Seine Umfragewerte liegen inzwischen bei über 90 Prozent Zustimmung. Unter seiner Führung ist eines der ehemals am stärksten von Gewalt geprägten Länder der Welt erheblich sicherer geworden. Es ist eine wirklich beeindruckende Veränderung, für die (fast) alle Salvadorianerinnen und Salvadorianer zutiefst dankbar zu sein scheinen.

Es ist nicht das erste Mal, dass ein ebenso charismatischer wie knallharter junger Führer an die Macht kommt und radikale Maßnahmen ergreift, um die Kriminalität in seinem Land zu bekämpfen – auf Kosten grundlegender Menschenrechte. Meistens scheitern solche Führer und hinterlassen zahlreiche ruinierte Leben sowie ein instabiles politisches System. Hin und wieder aber gibt es Staatschefs wie Lee Kuan Yew in Singapur: rücksichtslos, autoritär, aber so erfolgreich beim Aufbau einer stabilen, wohlhabenden Gesellschaft, dass die alles andere als makellose Menschenrechtsbilanz aus der Geschichtsschreibung verschwindet oder zu einer Fußnote wird. Singapur ist das Modell, dem sich Nayib Bukele verschrieben hat – und zwar ganz explizit.

Nach einem bestenfalls durchwachsenen Start im Jahr 2019 als der erste Crypto-Fan an der Spitze eines Staates, konzentrierte sich Bukele vor allem auf die öffentliche Sicherheit, das zentrale Thema in einem Land, das lange Zeit zu den am stärksten von Gewalt geprägten Staaten der Welt zählte. Es sollte erwähnt sein, dass die astronomische Mordrate in El Salvador schon vor dem Wahlsieg von Bukele leicht gesunken war. Vorherige Regierungen waren wechselweise mit harter Hand gegen die Straßenbanden (Maras), die El Salvador terrorisierten, vorgegangen oder hatten „Nichtangriffspakte“ mit ihnen ausgehandelt. Bukele hat diese Vereinbarungen öffentlich stets kritisiert, allerdings im Stillen versucht, sie beizubehalten.

Wer jung, männlich und arm war und darüber hinaus vielleicht noch einige auffällige Tattoos hatte, wurde verhaftet.

Im März 2022 scheiterte ein weiteres Friedensabkommen zwischen den Maras und der Regierung. Die Banden mordeten wieder schonungslos. Bukele sah darin seine Chance und erließ ein Notstandsgesetz, mit dem Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt wurden. Es folgte eine erschreckend aggressive, von der Armee geführte Rasterfahndung. Jeder, der im Entferntesten verdächtigt werden konnte, ein Bandenmitglied zu sein, wurde ins Gefängnis gesteckt – ohne auch nur den Hauch eines ordentlichen Gerichtsverfahrens oder der Aussicht auf einen zukünftigen Prozess. Es schien, als sei die Mutter aller bürgerlichen Freiheiten, Habeas Corpus – der 800 Jahre alte Grundsatz, dass die Regierung Personen nicht ohne konkreten Grund, der sich auf Beweise und Gesetze stützt, ihrer Freiheit berauben darf –, im ganzen Land aufgegeben worden. Wer jung, männlich und arm war und darüber hinaus vielleicht noch einige auffällige Tattoos hatte, wurde verhaftet. Die Chancen, dass ein Gericht den Fall dieser Personen überhaupt anhört, waren und sind weiterhin verschwindend gering.

In ausländischen Medien tauchten bald zahlreiche Horrorgeschichten über Menschen auf, die zu Unrecht verhaftet worden waren. Darunter waren unter anderem US-Bürger sowie geläuterte Ex-Gangmitglieder, die kommunale Initiativen führten, mit denen Menschen aus den Maras herausgeholt werden sollten. Die Missachtung demokratischer Standards ist ein essenzieller Teil der Bukele-Politik. Der salvadorianische Kongress nickt neue Gesetze nur noch ab, der Oberste Gerichtshof erscheint wie ein Bukele-Fanclub. Die Presse ist mundtot gemacht, kritische Journalistinnen und Journalisten werden ausgespäht und direkt angegangen. Die Demokratie in El Salvador ist tot – und niemand im Land scheint ihr nachzutrauern.

Meist wird betont, dass Populisten von Polarisierung und Spaltung profitieren. In El Salvador ist das Gegenteil zu beobachten. Anstatt das Land zu spalten, hat Bukele mit seinem radikalen Sicherheitskonzept fast alle Salvadorianer hinter sich versammelt. In Umfragen bewerten 91 Prozent die Arbeit des Präsidenten positiv. 70 Prozent würden ihn wiederwählen, auch wenn er nach derzeitigem Recht nicht erneut kandidieren dürfte. Die 6,9 Prozent, die sich gegen seine Autokratie aussprechen, sind eine marginale Gruppe, vergleichbar mit den sieben Prozent der US-Amerikaner, die glauben, dass die Mondlandung inszeniert war und nicht wirklich stattgefunden hat.

Der Grund für diese Zustimmung ist, dass die Demokratie die Salvadorianer bisher nicht vor den brutalen Gangs hatte schützen können. Diese blutige „Bandenkultur“ hat ihre Ursprünge unter anderem in US-Gefängnissen, von wo kriminelle Salvadorianer nach dem Absitzen ihrer Strafe in ihr Heimatland abgeschoben werden. Anders als in Mexiko, wo das organisierte Verbrechen den größten Teil seiner Einnahmen aus dem Drogenhandel bezieht, leben die Maras in El Salvador hauptsächlich von Erpressung. Sie terrorisieren somit gezielt die lokale Bevölkerung und treiben mit Gewalt ihre Schutzgelder bis zum letzten Cent ein.

Der salvadorianische Kongress nickt neue Gesetze nur noch ab, der Oberste Gerichtshof erscheint wie ein Bukele-Fanclub.

Dies führte in der Vergangenheit zu einer schier hoffnungslosen Lage, für die es keine konventionellen Lösungen zu geben schien. Die Polizei hatte kaum die Mittel, um gegen die Banden zu ermitteln und Einzelpersonen nach und nach vor Gericht zu stellen. Selbst wenn dies möglich gewesen wäre, hätte es wohl wenig gebracht: Wenn lediglich eins von zehn Gangmitgliedern verhaftet wird, bleibt die Mara trotzdem bestehen und könnte, da sie nun weniger „Personal“ hat, noch gewalttätiger werden. In El Salvador war man der Überzeugung, dass die einzige Möglichkeit, die Maras zu stoppen, darin bestehe, alle Mitglieder auf einmal ins Gefängnis zu stecken – eine scheinbar verrückte Idee, zu abgedreht, um ernsthaft in Betracht gezogen zu werden. Bis Nayib Bukele auftauchte und genau dies tat.

Das Ergebnis ist ein Desaster für die bürgerlichen Freiheiten im Land. Doch die meisten Salvadorianer zeigen (verständlicherweise) wenig Interesse an Menschenrechtspredigten von Außenstehenden, die nicht das erlebt haben, was jahrelang im Land vor sich ging. Normale Menschen, die jahrelang in Angst vor den Maras gelebt hatten, freuten sich über die Massenverhaftungen. Plötzlich verlagerte sich das Leben wieder nach draußen: Nachbarschaftsparks und Fußballplätze, die jahrzehntelang ungenutzt geblieben waren, wurden plötzlich von Kindern aus der Nachbarschaft bevölkert. Die Salvadorianer fühlten sich in ihren eigenen Straßen und Gemeinden so frei wie schon lange nicht mehr. Als Demokrat müsste man sich zumindest unwohl fühlen, wenn man eine Politik kritisiert, die nahezu alle Menschen im Land unterstützen.

Das Bukele-Experiment zeigt, dass nicht das Scheitern Autokraten gefährlich macht, sondern der Erfolg. Niemand möchte ein zweiter Perón, Chávez oder gar Bolsonaro werden – denn diese Führer haben ihre Länder in einem viel schlechteren Zustand hinterlassen, als sie sie vorgefunden hatten. Das mehrfache Scheitern des Populismus wirkte bisher wie das ultimative Bollwerk gegen seine weitere Ausbreitung.

Nun gibt es mit Bukele eine populistische Erfolgsstory. Das wirkt sich über die Grenzen El Salvadors hinweg aus. In mehreren Ländern wird der Bukelismo bereits als Alternative zu demokratischen Systemen gehandelt, die als zu verkrustet gelten, um wirkliche Veränderung zu bringen. Guatemalas neuer Präsident hat beispielsweise versprochen, den Erfolg von El Salvador im Kampf gegen die eigenen heimischen Maras zu wiederholen. Der Bürgermeister von Lima, Rafael López Aliaga, will ebenfalls eine explizit an Bukele angelehnte Politik betreiben. Santiago Cúneo, einer der beliebtesten argentinischen Fernsehmoderatoren, hat gerade seine Präsidentschaftskandidatur angekündigt und versprochen, „Nayib Bukeles Vorbild zu folgen“. Nichts ist verführerischer als Erfolg.

In mehreren Ländern wird der Bukelismo bereits als Alternative zu demokratischen Systemen gehandelt.

Der Bukelismo ist möglicherweise nicht nachhaltig und zukunftsfähig. Eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Banden ist in Lateinamerika – auch wenn sie weniger energisch verfolgt wurde – schon oft nach hinten losgegangen. Ohne jeglichen Plan zur Wiedereingliederung der Zehntausenden von (vermeintlichen und tatsächlichen) Bandenmitgliedern, die er inhaftiert hat, spielt Bukele auf Zeit und droht somit, in der Zukunft noch größere Probleme zu schaffen. Es ist nicht undenkbar, dass ungewollt eine regelrechte „Armee“ in den Gefängnissen entsteht, die zukünftig nicht mehr kontrolliert werden kann. Gleichzeitig könnten neue Maras entstehen und das Vakuum nutzen, das die Inhaftierten hinterlassen haben. Der erhoffte Investitionsboom im Zuge der Massenverhaftungen könnte möglicherweise niemals eintreten.

Auf der anderen Seite ist aber auch das Überleben der Demokratie in Lateinamerika alles andere als sicher. Der Aufstieg einer attraktiven und scheinbar funktionierenden Alternative sollte als die wirkliche Krise verstanden werden. Unzufriedenheit mit der Demokratie ist in der gesamten Region weit verbreitet. Laut einer Studie aus dem Jahr 2020 sind nur 25 Prozent der Menschen in Lateinamerika mit dem Funktionieren ihrer Demokratien zufrieden. Sie wünschen sich Alternativen, die ein Mindestmaß an Sicherheit und Wohlstand bieten.

Werfen wir einen hypothetischen Blick in die Zukunft: Im Jahr 2060 ist ein dann 79-jähriger Nayib Bukele immer noch Präsident und El Salvador tatsächlich dem Weg Singapurs gefolgt. Es ist sicher, wohlhabend und unfrei geworden – ein Magnet für ausländische Investitionen, ein Aushängeschild und ein Vorbild für eine gewisse Spielart des populistischen Autoritarismus.

Deswegen müssen Demokraten jetzt aktiv werden und Lösungen für Sicherheitsprobleme und gegen die Bandengewalt vorschlagen, die genauso effektiv sind wie der Bukelismo – nur ohne seine katastrophalen Auswirkungen auf die Menschenrechtslage. Wie genau das gehen kann, weiß ich nicht; vermutlich weiß es niemand. Wir sollten es aber schnellstmöglich herausfinden, denn sonst scheint es nicht unwahrscheinlich, dass noch viel mehr Menschen in Lateinamerika gewillt sind, ihre Freiheiten und Rechte für eine Hipster-Diktatur à la Bukele einzutauschen.

Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin Persuasion.

Aus dem Englischen von Tim Steins