Drogen sind normalerweise ein unbequemes Thema, um welches Lateinamerikas Staatschefs einen Bogen machen. Zu viele wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interessen sind mit dem Thema verknüpft, zu viele Fettnäpfchen warten auf diejenigen, die sich zu weit aus dem Fenster lehnen. Am Wochenende aber gaben sich die Präsidenten Gustavo Petro aus Kolumbien und Andrés Manuel López Obrador aus Mexiko die Ehre bei einem Regionaltreffen in der kolumbianischen Stadt Calí. Dort wurde ein Grundsatzpapier verabschiedet, das Lateinamerika 2025 auf dem internationalen Drogengipfel präsentieren will. Delegierte aus 19 Ländern Lateinamerikas und der Karibik unterzeichneten die Abschlusserklärung, die vor allem die Konsumentenländer stärker in die Verantwortung nimmt – nicht nur finanzieller Art, vielmehr werden beispielweise auch schärfere Kontrollen zur Unterbindung des Waffenhandels aus dem globalen Norden fordert.

Statt Repression müssten die strukturellen Ursachen, wie zum Beispiel die Bekämpfung von Armut, stärker in den politischen Fokus rücken, forderten Petro und López Obrador, die sich beide als Fürsprecher der Benachteiligten sehen. „Wir müssen dieser katastrophalen Politik ein Ende setzen, bei der die Schuldigen die Kokabauern sind. Die Industrieländer sollten sich lieber fragen, warum ihre Gesellschaften Drogen konsumieren, bis sie tot umfallen“, sagte Petro. López Obrador nutzte die internationale Plattform, um für seinen daheim umstrittenen Schmusekurs mit den Kriminellen Werbung zu machen. Man müsse die sozialen Ursachen angehen und den Jugendlichen attraktive Studien- und Ausbildungsplätze anbieten, forderte er.

Trotz der Rebellion im Hinterhof halten die US-Hardliner im Verteidigungsministerium, in der Anti-Drogen-Behörde DEA und in der Republikanischen Partei unbeirrt am gescheiterten Drogenkrieg fest. Der Schulterschluss von Petro und López Obrador hat auch damit zu tun, dass diese Kreise in letzter Zeit unverhohlen mit einer militärischen Intervention in Mexiko drohen, wenn die dortige Regierung das Drogenproblem nicht in den Griff bekomme.

International isoliert sind diese Hardliner übrigens nicht. Sie können auf die Unterstützung zahlreicher arabischer und asiatischer Staaten zählen, die die Opium-Kriege der britischen Kolonialmacht noch in unguter Erinnerung haben und daher eine Politik der harten Hand fahren. Mit „Küssen statt Schüssen“ dürften diese Länder 2025 kaum zu überzeugen sein. Daher muss Lateinamerika jetzt Nägel mit Köpfen machen und eine schlüssige Anti-Drogen-Strategie vorlegen.

Der Verkaufspreis für Koka liegt im historischen Schnitt weit über dem anderer landwirtschaftlicher Produkte.

In den zehn Jahren, die seit dem Amerikagipfel in Cartagena vergangen sind, ist da nicht viel passiert. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) arbeitete eine Strategie aus, in der neben den altbekannten Vorschlägen (unter anderem der Stärkung der polizeilichen Zusammenarbeit, Bekämpfung von Korruption und Geldwäsche, Sozialprogramme für Jugendliche und Bauern) eine Lanze für die Legalisierung von Marihuana gebrochen wurde. Ein Ansatz, den auch Kanada und immer mehr US-Bundesstaaten seither verfolgen. In Lateinamerika ist mittlerweile in acht Ländern Marihuana entweder entkriminalisiert oder für medizinische Zwecke legalisiert. Als Freizeitdroge ist Marihuana allerdings nur in Mexiko und Uruguay legal.

Die Marihuana-Freigabe erspart zwar vielen Konsumenten harsche Gefängnisstrafen und ein Abgleiten in die Verbrecherwelt. Doch das Problem der Unterwanderung der Staaten durch die Organisierte Kriminalität hat sich damit nicht lösen lassen. Mexiko und Uruguay sind dafür die besten Beispiele. Beide Länder stecken in einer Gewaltspirale. In Mexiko starben 2022 25 von 100 000 Menschen eines gewaltsamen Todes; in Uruguay waren es zwar „nur“ elf, es ist aber trotzdem ein historischer Höchststand. Auch andere bislang friedliche Länder der Region (in denen Marihuana illegal beziehungsweise nur für medizinische Zwecke erlaubt ist) wie zum Beispiel Ecuador und Costa Rica kämpfen mit stark zunehmender Gewaltkriminalität.

Nicht nur die Legalisierung erwies sich als unzureichend, sondern auch die Substitutionspolitik, das zweite Standbein einer alternativen Drogenpolitik, das seit 20 Jahren von europäischen und US-amerikanischen Entwicklungshilfe-Organisationen propagiert wird. Dabei geht es darum, in den Drogengebieten den Anbau und die Verarbeitung alternativer landwirtschaftlicher Produkte zu fördern, um die Kokabauern zum Umstieg in die Legalität zu animieren. Auch das kolumbianische Friedensabkommen von 2016 hat diese Komponente. Gelungen ist die Substitutionspolitik nicht. Kolumbien ist derzeit das Land mit der größten Koka-Anbaufläche (230 000 Hektar) und der höchsten Kokainproduktion (1 700 Tonnen im Jahr 2022).

Das Versagen hat wirtschaftliche Gründe: Der Verkaufspreis für Koka liegt im historischen Schnitt weit über dem anderer landwirtschaftlicher Produkte. Erntehelfer verdienen auf Kokaplantagen in der Woche so viel wie in der Kaffeeernte im Monat. Der Kokastrauch ist anspruchslos, und seine Blätter können mehrmals im Jahr geerntet werden. Außerdem funktioniert die kriminelle Lieferkette reibungslos, die Händler kommen auf den Hof. Dagegen hat der Transport und die Weiterverarbeitung legaler Produkte viele Hindernisse zu überwinden: mangelnde Infrastruktur, geringe Marktpreise, viel zu kurze politische Planungshorizonte.

Mexikos Kartelle sind heutzutage eher ein Franchise-Verband, zusammengesetzt aus vielen unterschiedlichen Zellen.

Was genau nun anders werden soll, ist auf dem Gipfel größtenteils unklar geblieben. Petros Justizminister Nestor Osuna stellte am Rande zwar die neue nationale Drogenpolitik vor, die immerhin auf zehn Jahre konzipiert ist, aber kaum neue Ideen beinhaltet – abgesehen von internationalen Klimaschutzgeldern, die künftig Bauern dazu animieren sollen, in Wiederaufforstung und Schutz von Wäldern zu investieren. Doch ob sich das rechnet und als Präventionspolitik funktioniert, ist unklar. Sicher ist, dass deutlich schärfere juristische, politische und wirtschaftliche Geschütze aufgefahren werden müssen, um der kriminellen Krake in Lateinamerika Herr zu werden.

Laut dem Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) konsumierten im Jahr 2021 mehr als 296 Millionen Menschen illegale Substanzen, was einem Anstieg von 23 Prozent gegenüber dem vorangegangenen Jahrzehnt entspricht. Lateinamerika hat sich zu einer der wichtigsten Drehscheiben der internationalen Kriminalität entwickelt. Auf dem Kontinent sind alle international einschlägigen Akteure aktiv, von chinesischen Triaden über die italienische ’Ndrangheta bis hin zur albanischen Mafia. Längst geht es nicht mehr nur um Kokain aus Südamerika, das in die USA geschmuggelt wird. Inzwischen hat sich das synthetische Opioid Fentanyl hinzugesellt. Bei Kokain geht ein immer größerer Anteil nach Europa oder Asien und Ozeanien, wo die Gewinnspanne höher ist.

Wer das Geschäft noch mit Paten wie Pablo Escobar vom Medellin-Kartell oder Chapo Guzmán vom Sinaloa-Kartell verbindet, ist nicht mehr auf der Höhe der Zeit: Im letzten Jahrzehnt haben sich Dutzende neue kriminelle Akteure hinzugesellt, wie beispielsweise das gefürchtete venezolanische Verbrechersyndikat „El Tren de Aragua“, das sich im Zuge der Flüchtlingskrise auf ganz Südamerika ausweitete und neben Drogen auch in der Prostitution aktiv ist. Oder der „Clan del Golfo“ in Kolumbien, der nicht nur mit Drogen Geld verdient, sondern mindestens so viel mit Wegzöllen, die den Migranten abgenommen werden, die den Darien-Dschungel zwischen Kolumbien und Panama durchqueren. Oder die gewaltbereite brasilianische „Familia do Norte“, die vor allem die Amazonasroute für sich erschlossen hat, über die Kokain aus Peru und Kolumbien an die Häfen Nordbrasiliens und von dort nach Europa verschifft wird.

Der Drogenhandel ist längst nicht mehr der einzige Geschäftszweig der Mafia, und das Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr in Familienverbänden mit Paten. Mexikos Kartelle sind heutzutage eher ein Franchise-Verband, zusammengesetzt aus vielen unterschiedlichen Zellen, die lose zusammenarbeiten. Wird eine Zelle ausgehoben, kann sie in kürzester Zeit ersetzt werden. Bezahlt werden diese Zellen seit einigen Jahren nicht mehr mit Geld, sondern mit einem Teil der Droge. Das führt zu einem starken angebotsindizierten Anstieg des Konsums in Transitländern, vor allem in Mexiko.

Ein Teil der Umweltzerstörung in Lateinamerika hat einen kriminellen Hintergrund.

Diese Zellen operieren unter dem „Schutz“ eines Kartells, müssen dafür aber eine Lizenzgebühr abdrücken – einen Anteil ihrer kriminellen Einnahmen. Das hat zu einer rasanten Ausweitung der Branchen geführt, die inzwischen ins Visier der Kriminellen geraten sind: Menschenschmuggel (Migranten), Schutzgelderpressung (Agrobusiness), Entführungen, Kinderprostitution, Benzinschmuggel, Produktpiraterie, Organhandel oder Überfälle auf LKW und Frachtschiffe. Der Fantasie sind kaum Grenzen gesetzt.

Schwierig ist die Bekämpfung der Organisierten Kriminalität deshalb, weil sie global vernetzt ist und an die legalen Warenströme andockt. Kokain beispielsweise nimmt dieselben Routen wie der Welthandel und reist per Containerschiff nach Europa. Die chemischen Vorläuferprodukte zur Herstellung von Fentanyl in Mexiko kommen per Schiff aus China – oft getarnt als legale Importe von Pharmafirmen. Deshalb ist die Gewaltkriminalität vor allem in den Hafenstädten explodiert, von Guayaquil in Ecuador, Puerto Limón in Costa Rica bis Amsterdam in den Niederlanden.

Gewaschen werden die illegalen Gelder in Briefkastenfirmen in Delaware, Panama und Andorra – oder per Rimessen, getarnt als Überweisungen von Migranten in ihre Heimatländer. Der mexikanische Thinktank „Signos Vitales“ schätzt, dass 7,5 Prozent der Rimessen nach Mexiko kriminellen Ursprungs sind. Die US-Sanktionspolitik gegen Länder wie Venezuela hat diese kriminellen Kanäle noch befeuert. Korrupte Mittelsmänner wie Alex Saab, gegen den gleich mehrere Länder einen Haftbefehl erlassen haben, haben für die geächteten Regime globale Netzwerke aufgebaut, über die Import-Export-Geschäfte abgewickelt und Gelder gewaschen werden. So vermittelte Saab einen Deal mit der Türkei. Diese verarbeitet einen Teil des venezolanischen Goldes im Tausch gegen Lebensmittel. Die Goldförderung in Venezuela ist in der Hand der kolumbianischen Guerilla und korrupter venezolanischer Militärs. Ein Teil der kriminellen Gewinne wird in andere illegale Geschäfte reinvestiert, beispielsweise das Schürfen von Gold oder Edelsteinen wie Jade und Smaragde oder den Handel mit Edelhölzern und exotischen Tieren aus den Tropen. Ein Teil der Umweltzerstörung in Lateinamerika hat einen kriminellen Hintergrund.

So werden kometenhafte politische Karrieren fabriziert und ganze Länder kriminell unterwandert.

Auch Politik und Sicherheitskräfte werden zunehmend kriminell infiltriert. Kaum eine Woche vergeht, ohne dass irgendwo in Lateinamerika ein Offizier als Komplize der Mafia enttarnt wird. Jüngster Fall ist der brasilianische General und Sicherheitsminister des Bundesstaates Amazonas, Carlos Alberto Mansur. In Ecuador ermordeten Drogenbosse gerade einen Präsidentschaftskandidaten. In Mexiko, Guatemala, Honduras, Peru und Kolumbien zahlen Lokalpolitiker, die sich nicht korrumpieren lassen, einen hohen Blutzoll. Zahlreiche Dörfer in diesen Ländern werden zum Teil seit Jahren von der Mafia regiert. Schwarzgeld wird in politische Kampagnen investiert, so werden kometenhafte politische Karrieren fabriziert und ganze Länder kriminell unterwandert. Paraguay wurde beispielsweise zwischen 2013 und 2018 von Horacio Cartes, einem verurteilten Schmuggler regiert, sein Onkel war ein bekannter Drogenhändler. Auch in Bolivien ist die regierende sozialistische MAS tief mit der Drogen- und Goldmafia verbandelt.

Diese Unterwanderung durch die Organisierte Kriminalität ist eine der größten akuten Bedrohungen der lateinamerikanischen Demokratien. Mit Substitutionspolitik, Legalisierung oder der Zahlung von Klimageldern an arme Bauern ist es nicht getan. Militarisierung hieße, den Bock zum Gärtner zu machen. Eine konzertierte, multidisziplinäre internationale Anti-Kriminalitäts-Offensive tut not, und die Europäische Union sollte dazu ihren Beitrag leisten – im eigenen Interesse.