Es waren klare Worte, die Anfang Juli beim Gipfeltreffen der Mercosur-Staatschefs zu hören waren. „Inakzeptabel“ seien die Forderungen aus Brüssel, schimpfte Brasiliens Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Die EU präsentiere eine „einseitige Vision der nachhaltigen Entwicklung“, hieß es von Argentiniens Staatschef Alberto Fernández. Der Streitpunkt: Eine Zusatzerklärung für das EU-Mercosur-Abkommen, die unter anderem striktere Umweltstandards vorsieht.

Die EU hatte vor mehr als 20 Jahren die Verhandlungen mit den Mercosur-Staaten – Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay – begonnen. Der Vertrag würde die größte Freihandelszone der Welt mit 780 Millionen Menschen schaffen. Es sollen Zölle abgebaut und der Handel angekurbelt werden. Das Abkommen muss von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden, allerdings liegt es seit 2019 auf Eis – vor allem wegen der Umweltbilanz des ehemaligen brasilianischen Amtsinhabers Jair Bolsonaro. Die EU hatte gehofft, mit dem auf internationalem Parkett beliebten Lula das Abkommen bald zum Abschluss zu bringen. Unlängst bereiste EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die Region, um für das Freihandelsabkommen zu werben. Es sei an der Zeit, sagte sie, die „strategische Partnerschaft auf eine neue Ebene“ zu heben. Die EU-Kommission prescht nach vorne, doch Lula – eigentlich ein Befürworter des Abkommens – drückt auf die Bremse.

Die Kritik der Mercosur-Staaten: Zu hohe Umweltauflagen, zu wenig wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit.

Insbesondere der Zusatzvertrag erhitzt die Gemüter. Die Kritik der Mercosur-Staaten: Zu hohe Umweltauflagen, zu wenig wirtschaftliche und soziale Nachhaltigkeit. Die EU setze auf Protektionismus in der Landwirtschaft, heißt es unisono aus Brasília und Buenos Aires. Außerdem wolle sie Gesetze „außerhalb ihres Hoheitsgebiets“ erlassen. Und tatsächlich zeigt ein genauerer Blick: Der Vertrag könnte den Mercosur-Staaten nicht nur Vorteile bringen. Gerade die Öffnung für EU-Produkte könnte schwere Folgen für die südamerikanischen Märkte haben.

Lula hat auch Recht, wenn er fordert: Die Grundlage zwischen Partnern sollte „gegenseitiges Vertrauen“ sein, nicht „Misstrauen und Sanktionen“. Westlicher Paternalismus ist ohnehin ein wunder Punkt in Lateinamerika. Viel zu oft haben sie jenseits des Atlantiks die Erfahrung gemacht, als Hinterhof oder Rohstofflieferant abgestempelt zu werden. Wenn es die reichen Länder der EU wirklich ernst meinen, müssen sie die Bedenken ihrer Partner anhören, neokoloniale Arroganz ablegen und auf der viel beschworenen Augenhöhe diskutieren. Denn so viel steht fest: Ein Handelsvertrag ist keine Einbahnstraße. Für die Energiewende benötigt die EU südamerikanische Rohstoffe wie Kobalt, Nickel und Lithium. Auch die Nachfrage nach Lebensmitteln steigt – und Südamerika liefert. Millionen Tonnen brasilianisches Soja landen als Kraftfutter in den Mägen europäischer Schweine. Ein großer Teil des in der EU gehandelten Rindfleischs kommt aus dem Mercosur, auch weil die Produktion dort halb so teuer ist wie in Europa. Die kommerzielle Landwirtschaft und Viehzucht sind jedoch die größten Treiber der Abholzung des Regenwalds. So wirkt es oft wie ein Widerspruch, auf der einen Seite immer striktere Regeln für den Umweltschutz auferlegen zu wollen und gleichzeitig billige Agrarprodukte zu importieren. Nur selten wird das exportorientierte Agrarmodell, dem Umweltzerstörung und Menschenrechtsverletzungen innewohnen, grundsätzlich zur Disposition gestellt. 

Viele südamerikanische Staaten wollen nicht länger nach der Pfeife des Westens tanzen.

Deutsche Politikerinnen und Politiker wie Olaf Scholz, Robert Habeck und Cem Özdemir reisten in diesem Jahr in die Region, ihre Besuche waren Teil einer ausgetüftelten Charme-Offensive. Das plötzlich erwachte Interesse an der Region hängt jedoch vor allem mit dem Krieg in der Ukraine und der veränderten geopolitischen Lage zusammen. Statt Russland soll Südamerika verstärkt als Energie- und Nahrungsmittellieferant auftreten. Doch verständlicherweise will sich die Region nicht als Rohstoffexporteur abspeisen lassen und pocht auf eine eigenständige Rolle in der Weltpolitik. Die Weigerung vieler südamerikanischer Staaten, sich den Sanktionen gegen Russland anzuschließen oder Waffen an die Ukraine zu liefern, zeigte zudem: Sie wollen nicht länger nach der Pfeife des Westens tanzen. Das neue Selbstbewusstsein rührt auch daher, dass es durchaus veritable Alternativen gibt. Gerade China bietet der Region viele Möglichkeiten. Das Reich der Mitte ist schon seit längerem der wichtigste Handelspartner Brasiliens.

Es ist wichtig, dass Lula und Fernandez bei der Diskussion um das umstrittene Handelsabkommen klare Positionen beziehen. Es ist allerdings auch wichtig, beim Klima- und Umweltschutz auf klare Regeln zu setzen – und die müssen auch Sanktionsmöglichkeiten beinhalten. Denn die Vergangenheit hat gezeigt: Mit freiwilligen Bekenntnissen wird man den Raubbau am Regenwald nicht aufhalten. Ein Abkommen ohne scharfe Waffen wird ineffektiv sein. Denn der Vertrag soll viele Jahre überdauern. Und was, wenn in drei Jahren ein Gefolgsmann Bolsonaros an die Spitze Brasiliens gewählt wird? Ohne Sanktionsmöglichkeiten könnte das Abkommen dann schnell zum Treiber der Zerstörung werden, mit dramatischen Folgen für das Weltklima.

Die Herausforderungen für das umstrittene Abkommen sind groß.

Und auch unter Lula drohen Klima- und Umweltziele geschliffen zu werden. Zwar lässt sich der Ex-Gewerkschafter gerne als Ökopräsident feiern und er legte tatsächlich ambitionierte Pläne vor, um die illegale Abholzung zu stoppen und die indigene Bevölkerung zu schützen. Allerdings sind konservative Kräfte stark, mehr als die Hälfe der Abgeordneten werden einer Interessenvereinigung des Agrobusiness zuordnet. Zuletzt stimmte das Abgeordnetenhaus für ein Gesetz, das die Rechte der indigenen Bevölkerung massiv einschränken würde. Das Land hängt stark von Rohstoffen ab, die Agrarindustrie trägt zu 25 Prozent des brasilianischen BIP bei. Das erklärt teilweise auch Lulas Kurs, er weiß: Zu große Sprünge kann er sich daheim nicht leisten. 

Die Herausforderungen für das umstrittene Abkommen sind groß. Es muss bisweilen konträr laufende Interessen zusammenbringen. Es muss soziale Disparitäten zwischen den reichen EU-Ländern und dem Mercosur berücksichtigen. Und es muss strikte Umweltschutz- und Menschenrechtsauflagen erfüllen. Von der Leyen gab sich zuletzt zwar selbstbewusst und erklärte, das Abkommen befinde sich „nahe der Ziellinie“. Das ist allerdings Wunschdenken, es sieht nicht nach einer baldigen Ratifizierung aus. Die Mercosur-Staatschefs dürften bald einen Gegenvorschlag für den Zusatzvertrag präsentieren. Die Verantwortlichen der EU sollten ihn genau lesen und zu Kompromissen bereit sein – wenn sie an einer ernsthaften Partnerschaft interessiert sind und das Abkommen doch noch zum Abschluss bringen wollen.