„So viele weibliche Abgeordnete wie noch nie im Kongress“, titelten mexikanische Medien nach den Bundeswahlen am 1. Juli. Als sei das Ergebnis eine Überraschung aus heiterem Himmel und nicht ein langjähriger, zäher Kampf der Mexikanerinnen gewesen. Im Abgeordnetenhaus werden fortan 244 Frauen und 256 Männer sitzen; im Senat 63 Frauen und 65 Männer. Mexikos designierter Präsident Andrés Manuel López Obrador hat zudem bereits die ersten Namen seines Kabinetts bekannt gegeben: Es besteht aus neun Männern und acht Frauen, den traditionell wichtigsten Posten im Kabinett wird Olga Sánchez Cordero als Innenministerin einnehmen.
Vorbereitet wurde diese Entwicklung in Mexiko 2014 durch einen kleinen Husarenstreich. Die fraktionsübergreifende weibliche Abgeordnetengruppe passte im mexikanischen Kongress den damaligen Präsidenten Enrique Peña Nieto ab. Dessen Stern war wegen diverser Korruptionsskandale und der Drogengewalt am Sinken. Eine verbindliche Frauenquote auf Wahllisten als Bestandteil seiner politischen Reform – das wäre etwas, womit er sein Image als Modernisierer verbessern könnte, ohne große politische Kosten oder Widerstand, flüsterte ihm die damalige Vorsitzende des Gleichstellungsausschusses, Diva Gastelum, ins Ohr. Was den Parlamentarierinnen vorschwebte, war eine richtige Parität, ohne Tricks. Zwar existierte bereits eine 30-Prozent-Quote, doch die wurde elegant umschifft, indem Frauen auf die hinteren, aussichtslosen Listenplätze oder auf die suplentes, die Liste der Vertreterinnen, gesetzt wurden. Sie sollten fortan titulares sein, Haupt-Amtsträger, mit einer Frau als Vertreterin und abwechselnd mit einem Männergespann. Auch die bisherige Regel, die Quote nach parteiinternen Vorwahlen auszuhebeln zu können wurde annulliert. Peña Nieto ließ sich überzeugen. „Es gab Gemurre, aber kein Mann traute sich, offen dagegen zu sein. Es war ein Sieg der emanzipierten Frauen über die Machos in den jeweiligen Parteien“, erinnert sich Ivonne Melgar, Parlamentsreporterin des Medienkonglomerats Imagen und Mitherausgeberin des feministischen Portals mujeresmas.
Mexiko verzeichnet heute zusammen mit Nicaragua und Costa Rica die meisten Frauen in politischen Ämtern in Lateinamerika.
Mexiko verzeichnet heute zusammen mit Nicaragua und Costa Rica die meisten Frauen in politischen Ämtern in Lateinamerika, wo im Schnitt nur 28 Prozent der Abgeordneten und Minister weiblich sind. Im Gegensatz zu früheren Jahren, als es in Lateinamerika gleich mehrere Präsidentinnen gab, regiert derzeit nur auf der Karibikinsel Trinidad und Tobago eine Frau.
Um den Machismo, das übersteigerte männliche Überlegenheitsgefühl, und die männlichen Seilschaften einzuhegen, bleibt noch viel zu tun. „Es ist schön, dass es so viele weibliche Abgeordnete geben wird, aber leider sieht es bei Bürgermeisterinnen und Gouverneurinnen nicht so rosig aus“, bedauert die Direktorin der Initiative Mexico como vamos, Valeria Moy, den Ausgang der Mexiko-Wahlen. Nur drei der 32 Bundesstaaten werden von Frauen regiert; 90 Prozent der Bürgermeister sind weiterhin Männer.
Auch im Management, auf gut dotierten Professorenstellen oder auf Chefposten in den Medien haben weiterhin Männer das Sagen in der Region. Noch immer verdienen Frauen in der Region im Schnitt 16 Prozent weniger als Männer. Während der Studie des Weltwirtschaftsforums zufolge in Nicaragua, Bolivien und Kuba Frauen finanziell kaum schlechter dastehen, ist die Bresche in Brasilien, Mexiko und Guatemala am größten.
Dennoch sind die Latinas vorangekommen, seit Argentinien als erstes Land der Region im Jahr 1991 eine 30-Prozent-Frauenquote im Kongress einführte. Fast alle Länder zogen nach, bis auf Guatemala und Venezuela, die bis heute keine Quotenregelung kennen. Doch die Quoten brachten nicht automatisch auch einen Fortschritt für die Anliegen aller Frauen. Jedes einzelne Recht musste hart erkämpft werden. Der Erfolg dieser Auseinandersetzungen war eher von der Stärke der jeweiligen nationalen Frauenbewegungen und ihrer gesellschaftlichen Mobilisierungskraft abhängig, als von der Anzahl weiblicher Vertreter im Parlament oder von der Tatsache, ob eine Frau oder ein Mann die Präsidentschaft inne hatte.
Die Quoten brachten nicht automatisch auch einen Fortschritt für die Anliegen aller Frauen.
Auch das internationale Umfeld spielte eine Rolle. So brachten in Lateinamerika die UN-Milleniumsziele und 2010 die Einrichtung einer UN-Frauenorganisation – deren erste Generalsekretärin die Chilenin Michelle Bachelet war –Genderfragen auf die politische Agenda vieler lateinamerikanischer Regierungen. Bis heute stammen die umfassendsten Statistiken und Studien zu Frauen von der UNO.
Die Argentinierinnen gehörten in vielerlei Hinsicht zu den Pionieren, die Frauen- und Sexualmorde studierten, Machismo in Sprache und Kultur gesellschaftlich thematisierten und erreichten, dass 2012 der Straftatbestand des Frauenmordes gesetzlich verankert wurde. Aus der Protestbewegung gegen Frauenmorde, bekannt als Niunamenos („Nicht eine weniger“) entstand eine feministische Bewegung, die auch in die Nachbarländer überschwappte. Im Juni errang sie nach Massenmobilisierungen einen neuen Durchbruch – und zwar unter der konservativen Regierung von Argentiniens Präsident Mauricio Macri: Das Abgeordnetenhaus stimmte für die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs bis zur 14. Woche. Sollte auch der Senat dem zustimmen, wäre Argentinien das erste größere Land der Region, das den Frauen dieses Recht zugesteht. Bislang ist Abtreibung nur in Uruguay und Kuba sowie in Mexikos Hauptstadt erlaubt.
Ähnlich wie in Argentinien haben auch in Chile junge Frauen eine konservative Regierung „auf dem linken Fuß“ erwischt. Ermutigt durch die weltweite #MeToo-Kampagne prangern Studentinnen seit April Diskriminierung und sexistische Übergriffe an, haben Universitäten besetzt und verlangen von den Rektoren ein klares Protokoll zur Bestrafung solcher Übergriffe. Auch dem konservativen Präsidenten Sebastián Piñera haben sie eine Frauenagenda abgerungen. In Nicaragua wurde zwar unter der sandinistischen Regierung Frauenkomissariate eingerichtet, die sich mit Delikten gegen Frauen befassen. Zugleich gilt in Nicaragua zusammen mit El Salvador das restriktivste Abtreibungsverbot in der Region. „In unseren Ländern gibt es einen sehr konservativen gesellschaftlichen Sektor, und auf der anderen Seite eine progressive Jugend“, sagt die costaricanische Vizepräsidentin Epsy Campbell, die erste schwarze Frau auf diesem Posten. Zwischen diesen Sektoren Brücken zu bauen statt zu polarisieren ist eine der großen zukünftigen Herausforderungen für die Regierungen in der Region.