Für die kleinen Inselstaaten der Karibik ist Impfdiplomatie der Schlüssel zur Bewältigung der Covid-Pandemie. Auch wenn ihre Bevölkerungszahl kaum der eines Stadtteils von São Paulo entspricht: Länder wie Grenada oder Antigua & Barbuda sind souveräne Staaten, und als solche haben sie genauso Sitz und Stimme in den Vereinten Nationen wie Brasilien oder Mexiko. Die 14 Staaten der Karibischen Gemeinschaft CARICOM zusammen bringen hier mehr „voting power“ auf die Waage als ganz Südamerika. Die aktuelle Krise zeigt, wie sich diese staatliche Souveränität in eine Versorgung mit Impfstoffen ummünzen lässt, von der größere Staaten nur träumen können.
Zum Beispiel Dominica (nicht zu verwechseln mit der ungleich größeren Dominikanischen Republik): Mit ihren 70 000 Einwohnern hatte die Insel bereits Anfang Februar 70 000 Impfdosen aus Indien erhalten. Inzwischen hat China nachgelegt und weitere Impfdosen eingeflogen. Dabei hat das Land die Epidemie unter Kontrolle wie kaum ein anderes: bislang kein einziger Todesfall; die Zahl der Infizierten liegt bei 161 – nicht pro Woche, wie auf den zu Frankreich gehörenden Nachbarinseln Guadeloupe und Martinique, sondern insgesamt, seit Beginn der Pandemie.
Nicht alle karibischen Inselstaaten haben so eine spektakuläre Bilanz wie Dominica. Aber viele können von der internationalen Konkurrenz der Impfdiplomatie profitieren. Barbados hat von Indien 100 000 Impfdosen als Spende erhalten; 40 000 Impfdosen gingen an Antigua & Barbuda, weitere an andere CARICOM-Nationen. Für ein Land wie Indien sind das keine großen Dimensionen; in den kleinen Inselstaaten hingegen decken sie einen substanziellen Teil der erwachsenen Bevölkerung ab. Barbados hat bereits über 20 Prozent der Einwohnerschaft geimpft; Anfang Mai will man mit der gesamten Bevölkerung durch sein. Man lanciert bereits Szenarien, dann auch Touristen Impfungen anbieten zu können.
Viele Staaten der Karibik spielen zudem seit langem die Konkurrenz zwischen Taiwan und China für sich aus.
Viele Staaten der Karibik spielen zudem seit langem die Konkurrenz zwischen Taiwan und China für sich aus. Mit Belize, Haiti, St. Lucia, St. Kitts & Nevis sowie St. Vincent and the Grenadines zählen fünf der 15 Staaten, die Taiwan weltweit offiziell diplomatisch anerkennen, zur Karibik. Im Gegenzug können sie auf Kredite und WLAN-Ausbau, öffentliche Bauten und Study-in-Taiwan-Programme zählen. Mit Beginn der Covid-Krise kamen Masken, Schnelltests und Beatmungsgeräte mit „Taiwan helps“-Aufklebern hinzu. Bei Impfstoffen aber ist Taiwan selbst auf Importe angewiesen. Um diesen Mangel auszugleichen, verspricht man bereits großzügige Programmen zur wirtschaftlichen Post-Covid-Wiederbelebung. Seit 2016 haben Panama, die Dominikanische Republik und El Salvador die Seiten gewechselt und erkennen Taiwan nicht länger an. Taiwan wird es sich einiges kosten lassen, damit keine Kettenreaktion daraus entsteht.
Denn bei den Impflieferungen spielt China seine Trümpfe offen aus: Die Dominikanische Republik hatte vor drei Jahren ihre Beziehungen zu Taiwan gekappt. Nun landete in Santo Domingo ein chinesisches Flugzeug mit einer Million Impfdosen an Bord. Entsprechend groß war die Inszenierung auf dem Flughafen: Foto-Termine mit chinesischen Fahnen beim Ausladen der Fracht; Ansprachen, die Freundschaft und Solidarität beschwören. Oder der Fall Guyana, das unlängst Taiwan erlaubt hatte, ein Handelsbüro zu eröffnen. Peking machte aus seiner Verärgerung kein Hehl. Und als Guyanas Präsident Irfaan Ali vor wenigen Wochen diesen Fehler „korrigierte“, sicherte ihm Xi Jingping persönlich per Telefon 20 000 Dosen Sinopharm-Impfstoff zu.
Fast zeitgleich zu der chinesischen Millionenlieferung an die Dominikanische Republik erreichte auch die erste Lieferung der multilateralen COVAX-Initiative, an der die EU maßgeblich beteiligt ist, die Karibik: 14 000 Impfdosen, geliefert an Jamaika am 15. März. Mit der Zeit mag COVAX durchaus erhebliche Wirkung entfalten; im Moment aber wirkt es vor allem „late & little“.
Der große Sonderfall in der karibischen Impfdiplomatie ist Kuba. Die sozialistische Regierung hat keinen Impfstoff importiert. Stattdessen setzt Havanna ganz auf Selbstversorgung.
Die USA haben sich unter Präsident Biden auch der COVAX-Initiative angeschlossen, ansonsten spielen US-Impfstoffe in der Karibik bislang allerdings kaum eine Rolle. In dem Maße, in dem die schnelle Impfkampagne in den USA selbst vorankommt, kann sich dies jedoch schon in ein paar Monaten ändern, wenn die USA zum Exporteur überschüssiger Impfstoffe werden. Zunächst aber zeigt auch der Verlauf der Impfkampagne in Puerto Rico und U.S. Virgin Islands die periphere Rolle dieser zu den USA gehörigen karibischen Territorien: Ihre Impfquote liegt noch unter der von Georgia, dem Schlusslicht der 50 US Bundesstaaten.
Auch die anderen nicht-souveränen Territorien der Karibik haben kaum Möglichkeiten zu aktiver Impfdiplomatie. In den Niederländischen Antillen oder den französischen Übersee-Départements regiert Europas Impfstoff-Knappheit. Während sonst die Anbindung an die Metropolen den Zugang zu überlegenen Sozial- und Gesundheitsleistungen der „Ersten Welt“ verspricht, finden sich die Inseln in der ungewohnten Rolle, neidvoll auf die oft deutlich bessere Impfstoff-Situation ihrer unabhängigen Nachbarn zu schauen. Während Argentinien, Bolivien oder Mexiko auch auf Impfstoffe aus Russland zurückgreifen, spielen diese in der Karibik bislang keine Rolle – auch wenn St. Vincent & the Grenadines als erstes Land der Region dem Sputnik V-Impfstoff eine Zulassung erteilt hat.
Der große Sonderfall in der karibischen Impfdiplomatie ist Kuba. Die sozialistische Regierung hat keinen Impfstoff importiert – auch wenn sie diesen von China oder Russland sicherlich hätte erhalten können. Stattdessen setzt Havanna ganz auf Selbstversorgung. Der generellen wirtschaftlichen Krise zum Trotz sind Medizin- und Biotechnologie nach wie vor leistungsfähige moderne Sektoren. Die Regierung ist stolz darauf, dass Kuba als einziges Land Lateinamerikas eigene Impfstoffe entwickelt hat. Der am weitesten fortgeschrittene („Soberana 2“) befindet sich zur Zeit in Phase 3-Tests mit 44 000 Personen in Kuba sowie einer weiteren Testgruppe im Iran. Wenn diese erfolgreich sind, kann – so die Hoffnung – noch im zweiten Quartal mit der landesweiten Impfkampagne begonnen werden.
Die Covid-Pandemie scheint nicht zu einem Umdenken der Entwicklungsstrategie zu führen. Vielmehr wollen die Staaten sich durch Impfungen schnellstmöglich wieder als sichere Touristen-Destination vermarkten.
Und dann winkt da noch die ganz große Hoffnung: dass der kubanische Impfstoff ein Exportschlager und Devisenbringer wird. 100 Millionen Dosen wolle man bis Ende des Jahres produzieren, so die Ankündigung. Auch ein Video ist schon gedreht, das Ausländer zum Urlaub auf Kuba „mit Sonne, Strand und Impfung“ einlädt. Selbstverständlich wolle man auch anderen Staaten in Lateinamerika, Afrika und Asien solidarisch mit kostenlosen Impfstofflieferungen helfen.
Kuba hatte das ganze Jahr 2020 über sehr niedrige Infektionszahlen. Aber seit Januar ist die Ausbreitung des Virus rapide in die Höhe geschnellt. Zu der prekären Versorgungslage kommt so auch eine angespannte epidemiologische Situation hinzu. Dass voll auf die Eigenentwicklung gesetzt wird – und damit auch auf den Verzicht jeglichen Imports von Impfstoffen – ist eine Strategie mit hohem Risiko und vielen Unbekannten. Wie wirksam wird der Impfstoff sein und wie sicher? Wann wird er in ausreichender Menge zur Verfügung stehen? Denn nicht nur die Entwicklung, auch die Massenproduktion stellt eine gewaltige Herausforderung dar – von der internationalen Zertifizierung ganz zu schweigen.
Die Karibik ist die tourismusabhängigste Region der Welt. Der Kollaps des Flugverkehrs hat die ganze Region in eine tiefe Wirtschaftskrise gestürzt. Die Covid-Pandemie scheint allerdings nicht zu einem Umdenken der Entwicklungsstrategie zu führen. Vielmehr wollen die Staaten sich durch Impfungen schnellstmöglich wieder als sichere Touristen-Destination vermarkten.
Viele karibische Inselstaaten können dabei mit geschickter Impfdiplomatie bemerkenswerte Erfolge verzeichnen. Die USA und die EU spielen dabei eine Nebenrolle. Dass die Hilfe der neuen Freunde aus Asien nicht ganz selbstlos sein mag, sondern Gegenleistungen in Form von einschlägigem Abstimmungsverhalten oder anderen Gesten der Verbundenheit erwartet werden mögen – das wird in der Karibik in der derzeitigen Krisensituation wenige schrecken, sondern allenfalls als „Diversifizierung der Abhängigkeiten“ erscheinen.