Am Sonntag, dem 17. November 2023, ist in Chile nach jahrelangem Ringen der Versuch gescheitert, dem Land eine neue Verfassung zu geben. 55,76 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung stimmten gegen den Textvorschlag des Verfassungsrates, der mehrheitlich von den rechten und extrem rechten Parteien besetzt war. In nur vier Jahren hat das schmale Andenland in Südamerika zwei komplexe Verfassungsprozesse durchlaufen. Beide blieben ohne Erfolg. Bereits in 2015 hatte die damalige Präsidentin Michelle Bachelet einen Verfassungsprozess mit demokratischer Partizipation ins Leben gerufen, der jedoch mit dem Ende ihres Mandats 2018 von der rechtskonservativen Folgeregierung unter Präsident Sebastian Piñera nicht weitergeführt wurde. Erst durch die massiven sozialen Unruhen 2019, bei denen Millionen von Menschen auf die Straße gingen, um für mehr soziale Gerechtigkeit zu demonstrieren, bot Piñera einen neuen Verfassungsprozess als institutionelle Lösung für die von den Unruhen ausgelöste Staatskrise an.
Doch die Hoffnung vieler Chileninnen und Chilenen, endlich die noch aus der Diktatur stammende Verfassung durch eine neue, demokratisch legitimierte Staatsordnung ersetzen zu können, war vergeblich. Chile ist damit das erste Land weltweit, dass zweimal hintereinander mit dem Versuch scheiterte, sich eine neue Verfassung zu geben. Da die Regierung bereits vor dem Plebiszit angekündigt hatte, keinen weiteren Versuch zu unternehmen, bleibt nun somit die alte Verfassung in Kraft, die – wenn auch in Teilen reformiert – noch aus der Zeit der Diktatur stammt.
Die erste gescheiterte Abstimmung fand im September 2022 statt, als rund 62 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung einen von mehrheitlich linken und progressiven Kräften erarbeiteten Verfassungsvorschlag ablehnten. Die Vorschläge hätten unterschiedlicher nicht sein können. Der erste ein Mammutwerk progressiver Ideen, das ein für alle Mal mit dem neoliberalen Erbe des Landes zu brechen suchte, und der zweite das genaue Gegenteil: eine Zementierung der neoliberalen Wirtschaftsordnung, kombiniert mit einem konservativ-religiösen Gesellschaftsmodell. Die rund 15,4 Millionen wahlberechtigten Chileninnen und Chilenen wollten jedoch weder radikalen Fortschritt noch reaktionären Rückschritt. Vielmehr scheint die berühmte goldene Mitte gefehlt zu haben.
Der erfolglose Versuch, Chile eine neue Verfassung zu geben, ist letztlich ein Scheitern der Politik.
Der erste Verfassungsentwurf galt als feministisch, ökologisch und war mit umfangreichen neuen sozialen und kulturellen Rechten ausgestattet. Er definierte Chile als plurinational, was selbst den indigenen Völkern zu weit ging und ihre überwiegende Ablehnung beim Plebiszit im September 2022 hervorrief. Der neue Vorschlag hingegen gilt als antifeministisch, die Reichen des Landes begünstigend und demokratische Rechte abbauend. Er enthielt beispielsweise Formulierungen, die das ohnehin stark eingeschränkte Abtreibungsrecht auszuhebeln vermochte, oder Steuererleichterungen für die 23 Prozent der reichsten Chilenen, was insbesondere die Einnahmen armer Kommunen drastisch verringert hätte.
Der erfolglose Versuch, Chile eine neue Verfassung zu geben, ist letztlich ein Scheitern der Politik. Es spiegelt die verbreitete Entfremdung zwischen den Politikern und ihren „Untertanen“ wider. Während der erste Verfassungsprozess noch mit einer gewissen Leidenschaft und Neugierde verfolgt wurde, dominierte im zweiten Apathie und Desinteresse für die Bemühungen der politischen Klasse, einen Textentwurf zu erarbeiten. Denn diese hatte es nicht geschafft, einen Text zu erarbeiten, der einer neuen Verfassung für alle Chileninnen und Chilenen würdig gewesen wäre.
Die Ablehnung der Bevölkerung scheint in diesem Lichte mehr den politischen Akteuren zu gelten und ihrer Unfähigkeit, einen für das Land tragfähigen und moderaten Kurs einzuschlagen. In der Wahrnehmung ihres Wahlvolkes firmiert die politische Klasse als ideologisch verbrämt, abgehoben und nicht in der Lage, einen mehrheitlich akzeptablen Kompromiss zu finden, der die tagtäglichen Probleme der Bevölkerung zu lösen vermag. Seit den Unruhen 2019, als die Menschen auf die Straße gegangen sind, um mehr soziale Gerechtigkeit und Sicherheit einzufordern, ist politisch nur wenig passiert. Dringend notwendige Reformen im Gesundheitswesen, bei der Rente oder im Bildungswesen scheiterten am Widerstand der rechten Parteien, die im Kongress die Mehrheit haben. Das Bild der Politik, das sich den Menschen bot, war vor allem geprägt von Streit, Korruptionsfällen und parteipolitischen Fragmentierungen, jedoch nur wenigen tatsächlichen Verbesserungen bei einer zugleich immer schlechter werdenden Sicherheitslage.
Der Versuch, über den konstitutionellen Weg eine Lösung für die in den Protesten von 2019 zum Ausdruck gebrachte soziale Misere des Landes zu finden, glich am Ende einer Quadratur des Kreises. Das Absurde dabei ist, dass nun die politische Linke erleichtert darüber ist, die alte, aus der Diktatur stammende Verfassung behalten zu können, die sie vor vier Jahren loszuwerden versuchte. Auf der anderen Seite die Rechte, die zwar eine Niederlage eingefahren hat, nun aber die Verfassung behält, die sie ursprünglich nie ändern wollte. Am Ende haben sowohl die Linke wie auch die Rechte verloren und dabei das Vertrauen der Menschen in die Problemlösungsfähigkeit der Politik weiter erschüttert.
Am Ende haben sowohl die Linke wie auch die Rechte verloren.
Wie geht es nun weiter in dem Land, dass sich gerne als Musterschüler Lateinamerikas versteht? Die linke Regierung des jungen Präsidenten Gabriel Boric hat sich nach Bekanntwerden der Ergebnisse in einem moderaten Ton an die Bevölkerung und das unterlegene Lager der Rechten gewandt. Der Präsident rief zur Einheit und Zusammenarbeit der verschiedenen Lager auf und betonte die Wichtigkeit, nun endlich mit den ausstehenden Reformen bei Rente, Bildung, Wohnung, im Gesundheitssystem und bei Steuern voranzukommen. Er mahnte, keinen Revanchismus zu betreiben, sondern alle Energien auf ein faires politisches Miteinander zu richten, um breite politische Lösungen zu finden. Boric schlug damit einen versöhnenden und einigenden Ton an, der nach den letzten konfrontativen Wochen der Kampagne wohltuend wirkt.
Die Aussichten jedoch, dass die Minderheitsregierung tatsächlich wichtige politische Reformen durchzubringen vermag, sind nicht besonders vielversprechend. Zwar könnte die Niederlage der Rechten nach der Ablehnung ihres Verfassungsvorschlags eine Möglichkeit bieten, dass die gemäßigtere Rechte sich von den extrem rechten Republikanern distanzieren könnte, um sich hierdurch bessere Chancen für die Präsidentschaftswahlen 2025 auszurechnen. Nachdem die Wählerinnen und Wähler ihre Abneigung gegenüber extremen Positionen deutlich zum Ausdruck gebracht haben, könnten Teile des rechten Lagers gewillt sein, mit der Regierung zu kooperieren und sich somit als die wählbarere Alternative für 2025 in Stellung zu bringen.
Allerdings fehlte es selbst bei einer so wichtigen Frage wie der Erarbeitung einer neuen Verfassung an politischer Kompromissbereitschaft. Die letzten vier Jahren sind Zeugnis dessen und so bleibt es abzuwarten, ob es der chilenischen Politik gelingt, aus ihrem Scheitern zu lernen und mit weniger Emotionen und ideologischem Partikularismus weiterzumachen. Die erteilte Lektion ruft nach mehr politischem Pragmatismus und nach Kompromissen, um die zum Teil gravierenden sozial- und sicherheitspolitischen Probleme auch tatsächlich zu lösen. Gelingt dies nicht, ist es nicht auszuschließen, dass die Chilenen weiter das Vertrauen in die Politik verlieren und es in den kommenden Jahren zu erneuten sozialen Unruhen kommt – mit ungewissem Ausgang für das Land, das lange als friedliche „Oase“ in Südamerika galt.