Rechtsruck in der Regierung, Hochverrat an der Regierungspartei Movimiento al Socialismo (MAS), Korruption und Zusammenarbeit mit dem illegalen Drogenhandel: Die Angriffe und Anschuldigungen gegen den bolivianischen Präsidenten Luis Arce sind hart. Zumal sie aus seiner eigenen Partei kommen. Einst Minister und Verbündeter von Boliviens Expräsidenten und Vorsitzendem der MAS, Evo Morales, liefert sich Arce nun mit diesem einen erbitterten Machtkampf darüber, wer von den beiden bei den Präsidentschaftswahlen 2025 als Kandidat antreten darf. Jüngst wurde auf dem Kongress der MAS der Parteiausschluss von Arce sowie von Vizepräsident David Choquehuanca initiiert.
Evo Morales und die ihm nahestehenden Organisationen wollen, dass er wieder Präsident wird – nach seinen drei Amtsperioden von 2006 bis 2019. Aus seiner Sicht war die aktuelle Präsidentschaft von Luis Arce immer nur eine Übergangsphase, bis er wieder das Amt übernehmen würde. Morales selbst hatte, nach seinem Rücktritt und der Flucht aus Bolivien 2019 im Rahmen der damaligen politischen Krise, Luis Arce zum Präsidentschaftskandidaten bei den Wahlen 2020 erkoren. Die Basisorganisationen der MAS hingegen wollten David Choquehuanca zum Kandidaten machen, einen wichtigen Gegenspieler von Morales innerhalb der Partei. Morales setzte sich jedoch durch und erwartete, dass Arce nach einer Amtszeit den Weg für seine Rückkehr frei machen würde.
Morales erwartete, dass Arce nach einer Amtszeit den Weg für seine Rückkehr frei machen würde.
Diese Erwartung hat sich nicht erfüllt, die Entfremdung zwischen Arce und Morales wurde schrittweise immer größer. Zunächst befolgte Arce nicht die Empfehlungen von Morales hinsichtlich verschiedener politischer Entscheidungen. Anschließend begann er, Morales-nahe Personen aus den Ministerien zu entfernen. Spätestens als klar wurde, dass er beabsichtigt, bei den Wahlen 2025 als Kandidat der MAS anzutreten, waren die Beziehungen so vergiftet, dass der Dialog zwischen den beiden endete und der Konfrontation wich.
Dafür gibt es auch gute Gründe: In einem präsidentiellen System, dessen politische Tradition nur den Caudillo kennt, den autoritären Führer, wird ein Präsident ohne eigene Ambitionen zur „lahmen Ente“. Der Aufstieg und die Machtposition von Politikerinnen und Politikern beruhen oftmals auf der Loyalität zu der Person, die ihnen ein Amt geben oder entziehen kann. Wenn diese Funktionen von zwei Personen ausgeübt werden – eine, die die Macht innehat, und eine, die sie voraussichtlich zukünftig innehaben wird –, entstehen unklare Loyalitätsbeziehungen, die mit der effektiven Machtausübung in einem solchen System unvereinbar sind. Für Arce lag die Befürchtung nahe, dass das Kabinett, der Ministerialapparat und die Basisorganisationen nicht mehr ihm, sondern Morales folgen würden. Um seine Regierung zu kontrollieren, blieb ihm also nicht viel anderes übrig, als sich gegen Morales zu stellen und sich über das Jahr 2025 hinaus zu profilieren.
Die MAS ist von ihren Spitzenfiguren über die Parlamentsfraktion bis hin zu den Basisorganisationen zutiefst gespalten.
Das Ergebnis: Die MAS ist von ihren Spitzenfiguren über die Parlamentsfraktion bis hin zu den Basisorganisationen zutiefst zerstritten. Die Spaltung wurde spätestens durch zwei Ereignisse irreversibel und nahm zudem persönliche Züge an. Zum einen bezichtigte Morales im September 2022 Luis Arces Sohn Marcelo illegaler Geschäfte und stellte im Oktober 2023 gegen diesen Strafanzeige wegen illegaler Geschäfte rund um bolivianisches Erdgas und Lithium. Ein zweiter kritischer Moment war die Amtsenthebung des Innenministers Eduardo del Castillo, eines engen Verbündeten von Arce, durch eine Zweidrittelmehrheit im Parlament im Juni 2023. Die Morales-treuen Abgeordneten der MAS stimmten zusammen mit den beiden Oppositionsfraktionen für die Amtsenthebung des Ministers, der schon lange im Fadenkreuz von Morales gewesen war. Zwei Tage darauf ernannte Arce ihn erneut zum Minister – ein Vorgehen, das bereits Übergangspräsidentin Jeanine Áñez 2020 mit zwei ihres Amtes enthobenen Ministern praktiziert hatte und für das sie von der MAS heftig kritisiert worden war. Dass die Morales-Parlamentsfraktion derart ignoriert wurde, führte dazu, dass sie seitdem fast alle Gesetzesprojekte der Regierung ablehnt.
Aufgrund der Spaltung der MAS-Fraktion hat die Regierung keine Parlamentsmehrheit mehr und muss mühsam bei jeder Abstimmung versuchen, die notwendigen Stimmen zusammenzubekommen. Dabei greift sie auch auf die ebenfalls gespaltene Opposition zurück, wobei einige ihrer Abgeordneten mittlerweile mit der Arce-Fraktion verbündet sind, andere mit der Morales-Fraktion. In vielen Fällen erzielt die Regierung dennoch keine Mehrheit. So ist die Aufnahme von Krediten durch die Regierung, die vom Parlament abgesegnet werden müssen, fast vollständig zum Erliegen gekommen.
Die Erdgasreserven des Landes gehen zur Neige.
Das stellt ein großes Problem im Kontext der aktuellen Devisenknappheit dar. Boliviens Wirtschaftswachstum und Armutsbekämpfung der 2010er Jahren beruhte auf den Einnahmen aus Erdgasexporten. Die Erdgasreserven des Landes gehen jedoch zur Neige, die Exportmengen gehen kontinuierlich zurück und damit auch die US-Dollars, die ins Land fließen. Die aktuelle Regierung, genau wie ihre Vorgängerinnen, hat es versäumt, wirtschaftliche Alternativen aufzubauen; und bis die großen Lithiumvorräte des Landes abgebaut und verkauft werden können, dürften noch einige Jahre vergehen. Die Strategie, Staatsunternehmen zu gründen, um mit der Privatwirtschaft zu konkurrieren und Importe zu substituieren, hat bislang keine Früchte getragen. Dazu hat sie zahlreiche defizitäre Unternehmen hervorgebracht, die den Staatshaushalt weiter belasten. Hinzu kommt, dass der Preis für Treibstoff auf umgerechnet etwa 50 Cent pro Liter festgelegt ist. Der Staat kauft auf den internationalen Märkten zum Marktpreis ein und trägt die Differenz. Diese Subvention ist die Grundlage für die informelle Wirtschaft und hält die Inflation gering. Sie belastet den Staatshaushalt aber stark und am meisten profitieren von ihr die konsumstarken hohen Einkommensgruppen. Dennoch wird diese Subvention von der Regierung nicht angerührt.
Als Reaktion auf die Devisenknappheit wurde im Mai 2023 das sogenannte Goldgesetz verabschiedet, das die Zentralbank dazu befugt, 21 Tonnen der Goldreserven des Landes zu verkaufen. Evo Morales war dagegen, da er befürchtet, zu seinem erwarteten Amtsantritt 2025 ein abgewirtschaftetes Land zu übernehmen, dessen letztes Tafelsilber von seinem Widersacher verscherbelt wurde. Die 21 Tonnen wurden inzwischen verkauft, die US-Dollars sind in die Wirtschaft geflossen und nun steht das Land wieder an der Ausgangsposition: mit einer akuten Devisenknappheit, die die Wirtschaft lähmt und im schlimmsten Fall zum Zahlungsausfall und Treibstoffmangel im Land führen kann, verbunden mit der Unfähigkeit, Kredite aufzunehmen, aufgrund der Blockade im Parlament.
Als wäre das nicht genug, steht dem Land auch noch eine Justiz- und Verfassungskrise bevor. In Bolivien werden die obersten Richter vom Volk gewählt. Diese Praxis ist umstritten, da die Kandidatinnen und Kandidaten der Wählerschaft im Regelfall unbekannt sind und sie auch keinen Wahlkampf betreiben dürfen. Die aktuellen Mandate laufen Ende des Jahres aus, eigentlich hätten daher noch dieses Jahr die Richterwahlen durchgeführt werden sollen. Die Arce-Fraktion blockierte jedoch im Parlament und durch ein Normenkontrollverfahren das Gesetz, mit dem die Wahlen einberufen werden sollten. Somit können diese Wahlen auf absehbare Zeit nicht durchgeführt werden und ab Anfang 2024 werden die höchsten Ämter der bolivianischen Justiz erstmal vakant bleiben. Die Verfassung sieht diese Situation nicht vor und bietet daher auch keine Lösung an. Vermutlich werden die Richterinnen und Richter sich ihre Amtszeiten selbst verlängern. So könnten sie weiter ihren lukrativen Geschäften nachgehen (Urteile werden im Regelfall erkauft) und im Gegenzug Urteile im Sinne der Regierung fällen, die ihnen diese Verlängerung ermöglicht hat.
Es ist denkbar, dass die Auseinandersetzung zwischen Morales und Arce durch die Justiz entschieden wird.
Es ist denkbar, dass die Auseinandersetzung zwischen Morales und Arce durch die Justiz entschieden wird. So wurde etwa der MAS-Kongress im Oktober, einberufen von der von Morales kontrollierten Parteispitze, anschließend vom Obersten Wahlgericht für ungültig erklärt, sodass seine Ergebnisse nicht anerkannt werden. Eines dieser Ergebnisse war die Ausrufung von Morales zum Präsidentschaftskandidaten der MAS. Es ist auch möglich, dass das Oberste Verfassungsgericht Morales aufgrund einer Interpretation der Verfassung von den Präsidentschaftswahlen ausschließt. Demnach sei nur eine einmalige, direkte Wiederwahl erlaubt. Damit würde zwar höchstrichterlich der Opposition recht gegeben werden, die aus genau diesem Grund seit jeher Morales’ Kandidatur 2019 für verfassungswidrig hält. Aktuell ist jedoch nichts mehr undenkbar.
Eigentlich ließe sich die Auseinandersetzung so einfach lösen: Alle Parteien müssen in Bolivien Vorwahlen durchführen. Evo Morales und Luis Arce könnten in einen innerparteilichen demokratischen Wettstreit treten, der Gewinner wird Präsidentschaftskandidat, der Verlierer unterstützt den Gewinner. Diese Option ist aber offensichtlich für keinen der beiden attraktiv. Aufgrund dieses Machtkampfs zwischen zwei Caudillos sowie der Zersplitterung des Oppositionslagers stehen unruhige Zeiten bevor.