Der Systemsprenger Milei kommt nach Deutschland. Der argentinische Präsident wird von der Hayek-Gesellschaft am Samstag mit einer Medaille ausgezeichnet. Vordergründig geht es hier um einen Propheten eines „freiheitlichen Wirtschaftsprogramms“, entscheidender aber ist der täglich fortschreitende Kulturkampf, den er propagiert. Milei ist zwar Staatschef Argentiniens, bezeichnet sich aber auf X, seinem Lieblingsmedium, als Ökonom. Dass er Präsident ist, freut ihn vor allem deshalb, weil seine Sichtbarkeit und Interaktionsrate dadurch größer ist.
In der Nachrichtenwelt wird das Augenmerk meist auf die Milei’schen Reformen gelegt: die deregulierende Schocktherapie und das weitreichende Sparprogramm. Und es gibt ja auch „positive“ Nachrichten: ein Haushaltsüberschuss, das erste Mal in 16 Jahren, und erstmals wieder eine einstellige monatliche Inflationsrate im Hochinflationsland Argentinien. Den Preis dafür zahlt allerdings nicht die politische „Kaste“, die Elite, wie ursprünglich einmal angekündigt, sondern Arbeitnehmer der unteren und mittleren Einkommensklassen.
Kernstück Milei’scher Reformpolitik ist das sogenannte Ley Omnibus, das am 12. Juni nach monatelangen Debatten mit einer Stimme Mehrheit im Senat angenommen wurde – begleitet von zornigen Protesten, einem massiven Polizeiaufgebot und gewalttätigen Ausschreitungen auf der Straße. Milei sprach von einem „Putschversuch“, eine höchst gefährliche Äußerung, die zeigt, wie weit der demokratische Diskurs illiberale Züge bekommt.
In den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Energie und Verwaltung bekommt der Präsident für ein Jahr außerordentliche Befugnisse, die es ihm erlauben, über diese Fragen ohne den Kongress zu entscheiden. Die weiteren Schwerpunkte der Reform sind eine Arbeitsmarktreform und ein Anreizsystem für Großinvestitionen aus dem Ausland, das Steuer-, Zoll- und Wechselkursvergünstigungen bietet und von lokalen Auflagen und von jeglicher Haftung für mögliche Umweltsünden befreit. Zweifelsohne braucht Argentinien Investitionen, um dem Krisenmodus zu entfliehen. Aber die neue Regelung wird zur weiteren Deindustrialisierung beitragen, statt mittel- und langfristig Wirtschaftszweige mit nationaler Beteiligung und neuen Arbeitsplätzen zu fördern.
Mileis Reformen gleichen einem sozialen Kettensägenmassaker.
Mileis Reformen gleichen einem sozialen Kettensägenmassaker: Geldentwertung, Rentenkürzungen, Entlassung staatlicher Angestellter, Teuerungsraten von bis zu 300 Prozent für Strom, Wasser und den öffentlichen Nahverkehr aufgrund der Abschaffung hoher Subventionen. Die Armutsrate ist auf 55 Prozent geklettert. Millionen Menschen in Argentinien leiden an Hunger, und das in einem Land, das zu den Kornkammern der Welt gehört. Hunger und Armut gab es sicherlich auch schon vor Milei, doch die Ausmaße sind aktuell enorm.
In dieser Situation entschied die Regierung, Lebensmittel, die für die 44 000 Suppenküchen bestimmt waren, zu horten. Die Begründung ist politisch: Man wolle Suppenküchen, die nur auf dem Papier existieren (und dem politischen Gegner zuzuordnen sind) nicht beliefern (und so „die Kaste“ bestrafen). Nach Klage und einem Richterspruch ist die Regierung nun gezwungen, ihren staatlichen Grundverpflichtungen nachzukommen. Es handelt sich hier um bereits vorhandene Lebensmittel, die nur verteilt werden müssen.
Auch im Falle von Hunger macht Milei keinen Hehl darum, dass der Staat nicht einzugreifen habe: „Es wird eine Zeit kommen, in der eine Person verhungert, also wird diese Person, sagen wir, irgendwie beschließen, nicht zu sterben.“ Der Vorstand der Hayek-Gesellschaft schreibt, dass es Milei „um nicht weniger (geht) als um die Abschaffung des egalitären Wohlfahrtstaates … und des gesellschaftspolitischen Destruktionismus (Genderismus and all that)“. Kurz gesagt: Staatliche Grausamkeit im Sinne der Freiheit bekommt jetzt in Deutschland einen Preis.
Javier Milei reist zwar in der Funktion als argentinischer Präsident durch die Welt. Allerdings hat er auf seinen nun insgesamt sieben Auslandsreisen in sechs Monaten nur drei Regierungschefs getroffen – und zwar solche, die aus politisch ähnlich tickenden Lagern kommen. Hauptaugenmerk seiner Auslandsreisen liegt auf ideologischen Treffen mit ultrarechten Kräften und den von ihm bewunderten Techno-Unternehmer-Titanen Musk, Bezos und Co. Keine Auslandsreise galt wie sonst üblich einem Nachbarland Argentiniens. Aber so ist es im Argentinien von heute: Nichts ist mehr so wie früher und vor allem nicht traditionell.
Die Wirtschaftstätigkeit ging seit Dezember 2023 insgesamt um 5,3 Prozent zurück.
Die Unflätigkeit, rhetorische Aggressivität und das Rabaukentum im neuen politischen Zeitalter unter Milei ist nichts für Feinfühlige. Der durch soziale Medien und das TV berühmt gewordene Milei brüllt, wütet und teilt aus, in Dauerbeschallung. Er markiert das Spielfeld – seine Stierkampfarena – und wettert wahlweise gegen den Präsidenten Spaniens beziehungsweise dessen „korrupte“ Frau, gegen den Präsidenten Kolumbiens – einen „terroristischen Mörder“ –, gegen den brasilianischen „kommunistischen“ Präsidenten Lula da Silva, gegen die argentinischen Abgeordneten, die für ihn Ratten sind, oder gegen das gesamte Parlament: das Rattennest. Die Aggressivität, die Konfrontation, die Erregung und die Überzogenheit gehören zur Strategie und dienen als Ablenkungsmanöver. Milei geht es nicht darum, als Präsident in Repräsentanz einer Mehrheit zu sprechen. Es geht um ideologische Fragen. Er sieht sich als globaler Influencer und Anführer der ultralibertären Rebellion gegen den Sozialismus. Daher wird er umgarnt von allen ultrarechten Netzwerken und Parteien Europas, wie man in der spanischen Wahlarena von Vox im Mai 2024 sehen konnte.
Man könnte auch sagen, er versucht von den wenigen positiven Resultaten seiner nun bald sechs Monate dauernden Präsidentschaft abzulenken. Die Inflationsbekämpfung führte zu einem rezessiven Schock und zum Verlust von Arbeitsplätzen. Die Wirtschaftstätigkeit ging seit Dezember 2023 insgesamt um 5,3 Prozent zurück. Seither sind 63 000 Arbeitsplätze in der Privatwirtschaft verloren gegangen. Die Regierung wartet auf Investitionen, die bisher jedoch noch nicht in Sichtweite sind.
Doch interessanterweise – und trotz massiver Demonstrationen seitens einer breiten Opposition aus Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, Frauenbewegung, sozialer Bewegungen, peronistischer und linker Verbände – unterstützen circa 46 Prozent weiterhin die Regierung und ihr Reformprogramm, natürlich in der Hoffnung, dass die ganzen Opfer bald zum Erfolg führen. Doch die Frage ist: Wie lange noch? In vielen Bereichen des Lebens herrscht in Argentinien eine angespannte Ruhe. Doch wann läuft das Fass über?
Sollte der radaulibertäre Milei in wirtschaftlicher Hinsicht erfolglos sein (in der realen Welt der Fakten, nicht in der imaginären Wahrnehmung des Showman Milei), bedeutet dies nicht automatisch, dass er auch ideologisch scheitert. Seine Reformen zielen auf die Zerstörung des Staates und seiner Funktionen im Sinne des Gemeinwohls; Strukturveränderungen in diesem Sinne untergraben die Demokratie, da sie Teilnahme und Teilhabe beeinträchtigen.
An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass Milei immer wieder einen deutschen Ökonomen, Hans-Hermann Hoppe, als Lieblingslektüre, ja als intellektuellen Kompass erwähnt. Hoppe vertritt allerdings nicht nur libertäre Ideen, sondern ist ein Feind der Demokratie. Sein bekanntestes Buch heißt Demokratie, der Gott, der keiner ist. Auf 300 Seiten erklärt er, warum die Demokratie nicht funktioniere, und schlägt sehr explizite Mechanismen vor, um sie zu beenden. Er sagt im Vorwort zur deutschen Ausgabe: „Deutschland ist kein freies Land. Es gibt in Deutschland nicht einmal Redefreiheit. Wer hier bestimmten regierungsamtlich verkündeten Aussagen öffentlich widerspricht, wird eingekerkert.“ Das ist nicht alles. In Hoppes Schriften findet man auch Hinweise auf die vermeintliche Überlegenheit des weißen, heterosexuellen Mannes.
Milei, so heißt es in diplomatischen Kreisen, setze sich für die Vertiefung der Beziehungen Argentiniens zu westlichen Ländern und den gemeinsamen Werten ein. Doch seine unkonventionelle Haudrauf-Politik – so viel ist sicher – ist ein Kreuzzug gegen unser Modell von Solidarität, Teilhabe, Toleranz und Emanzipation.