Inmitten der Corona-Pandemie und noch immer hoher Infektionszahlen nimmt Chile eine neue Verfassung in Angriff. Am vergangenen Wochenende wurden in dem Andenstaat 155 Mitglieder einer Verfassungsgebenden Versammlung gewählt. In ihren Händen liegen nun die Zukunft des Landes und die Hoffnungen vieler Menschen. Der Ausgang der Wahl ist ein Erdbeben für die politische Elite des Landes. Die Bevölkerung sprach ihr Vertrauen vorwiegend jungen, progressiven und unabhängigen Newcomern aus. 103 Sitze haben Parteilose gewonnen, 78 Frauen sind vertreten und 40 Prozent der Gewählten haben ihren 40. Geburtstag noch vor sich. Die Carta Magna wird damit von einer neuen politischen Generation geschrieben.
Viele Kandidaten traditioneller Parteien bleiben dagegen außen vor. Der große Verlierer dieser historischen Wahl sind Präsident Sebastián Piñera und sein rechtskonservatives Regierungsbündnis Chile Vamos. Es erzielte nur 20 Prozent der Stimmen und hat damit – anders als erwartet – keine Vetomacht im Konvent. Doch auch die Mitte-links-Parteien der Opposition schnitten schlecht ab. Die Ursachen sind zahlreich: Sie traten mit getrennten Wahllisten an, sie haben das Vertrauen der Bürgerinnen durch Korruption, Klientelismus und mangelnde Erneuerungsfähigkeit verspielt, sie bieten keine glaubwürdige Alternative und sie sind Teil der kleinen Elite des Landes. Nur das noch junge Bündnis Frente Amplio, das erstmals 2017 die politische Bühne betrat und aus der starken Studentenbewegung entstanden ist, konnte gute Wahlergebnisse erzielen.
Mit dieser Wahl wird sich die Politiklandschaft Chiles nachhaltig verändern. Die Parteien aller politischer Lager repräsentieren nur noch eine Minderheit. Lediglich zwei Prozent der Bürger identifizieren sich mit einer der Parteien. 90 Prozent sind der Meinung, dass keine Gesetze im Sinne des Gemeinwohls, sondern nur zum Vorteil der Wirtschaft verabschiedet werden. Das sind erschreckende Zahlen in einer repräsentativen Demokratie. Sie erklären neben den gravierenden sozialen Problemen und Ungerechtigkeiten in Chile die anhaltende Wut vieler Menschen, die heftigen politischen Unruhen seit Mitte 2019 und eben auch das aktuelle Wahlergebnis. Lösungen werden nicht von den etablierten Parteien erwartet, sondern von unabhängigen Volksvertreterinnen.
Manche Wahlanalysten interpretieren dies als Demokratisierungsschub, da nun das Volk bestimme. Andere prognostizieren das Ende der repräsentativen Demokratie.
Manche Wahlanalysten interpretieren dies als Demokratisierungsschub, da nun das Volk bestimme. Andere prognostizieren das Ende der repräsentativen Demokratie. Klar ist, die Verteidiger des Status Quo liegen am Boden, die reformorientierten Kräfte haben die Mehrheit im Konvent.
Die Chancen stehen daher gut, 2022 ein gemeinwohlorientierteres Grundgesetz zu ratifizieren, das neue Spielregeln zwischen Markt und Staat definiert. Damit wäre die zentrale Forderung der Protestbewegung erfüllt. „Der Neoliberalismus wurde in Chile geboren und muss auch hier sterben“, lautete einer der Slogans der Demonstrierenden. Seit Pinochet mit Hilfe der Chicago Boys ein neoliberales Wirtschaftssystem etablierte, gilt der Andenstaat als eines der „wirtschaftsfreundlichsten“ Länder der Welt. Als politisches Erbe hinterließ Pinochet 1990 eine Verfassung, in der die Rolle des Staates auf ein Minimum reduziert wurde. Bildung, Gesundheit, Rente sind seitdem beinahe vollständig privatisiert. Das gilt auch für wichtige Güter des täglichen Bedarfs wie die Wasserversorgung.
Die Corona-Pandemie hat die sozialen Probleme des südamerikanischen OECD-Mitglieds wie ein Brennglas in den letzten 12 Monaten verschärft. Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger steigen. Allein in der Hauptstadt Santiago ist die Obdachlosigkeit 2020 um 235 Prozent gestiegen. Daher verbinden die Menschen große Hoffnungen mit der neuen Verfassung. Sie erwarten die Lösung aller aufgestauten sozialen, politischen, wirtschaftlichen Probleme. Aber eine neue Verfassung leitet nicht zwangsläufig einen schnellen, tiefgreifenden Wandel ein; das zeigen zahlreiche Beispiele weltweit. Voraussichtlich werden einige Jahre vergehen, bis die neue Verfassung tatsächlich im Alltag der Menschen wirkt. Der Prozess ist wichtig, kann aber nicht die heutigen gravierenden Herausforderungen Chiles lösen. Die abstürzende Mittelschicht benötigt sofort Hilfe.
Ob der Weg hin zu einem sozialdemokratischeren Entwicklungsmodell in Chile gelingt, hängt in erster Linie von vier Faktoren ab. Erstens muss es den zersplitterten linken Kräften in der Versammlung über zahlreiche Partei- und Organisationsgrenzen, über persönliche Streitigkeiten und inhaltliche Differenzen hinweg gelingen, eine Allianz zu bilden. Viele Mitglieder sind Newcomer und und damit unerfahren im Aushandeln von Kompromissen. Nur wenn es ihnen gelingt, Mehrheiten zu sichern, werden sie ihre gemeinsamen Forderungen durchsetzen können.
Scheitert der Prozess, bliebe die aktuelle Verfassung aus der Ära des Diktators Pinochet in Kraft. Dieses Szenario birgt viel Sprengstoff.
Zweitens muss die wirtschaftliche und konservative Elite des Landes akzeptieren, dass es an der Zeit ist, Privilegien abzugeben. Die reichsten 10 Prozent haben in den letzten Jahrzehnten sehr von dem auf Ausbeutung der Rohstoffe basierenden Wirtschaftsmodell profitiert. Auch wenn diese Kräfte nun nur marginal in der Verfassungsgebenden Versammlung vertreten sind, ist von ihrer Seite mit kräftigem Gegenwind gegen jegliche Art von progressiven Veränderungen zu rechnen.
Drittens darf der Verfassungsprozess nach der anfänglichen Euphorie nicht schnell an Legitimität verlieren. Er muss von der Mehrheit der Chilenen und Chileninnen als institutioneller Ausweg aus der Krise akzeptiert werden. Ansonsten besteht die Gefahr der weiteren Polarisierung und der Rückkehr zum Kampf auf der Straße. Die Wahlbeteiligung lag bei nur 40 Prozent. Es ist also ungewiss, ob ein Großteil der Gesellschaft dies als „ihren“ Prozess wahrnimmt.
Es muss in den kommenden zwölf Monaten, die dem Konvent zur Erarbeitung der Verfassung zur Verfügung stehen, eine ausreichende ökonomische und soziale Stabilität geben, um einen konservativen, populistischen Rückschlag „à la Bolsonaro“ zu vermeiden. Dies ist in Zeiten der Pandemie, die das Land laut der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen in ihrem Entwicklungsstand um bis zu 20 Jahre zurückzuwerfen droht, keine Selbstverständlichkeit.
Gelingt all dies, wird Chile ein sozialdemokratischeres, gerechteres und inklusiveres Land werden. Und die Erneuerung der Politik sowie die Hinwendung zu einer linkeren, weiblicheren, bunteren Politik wären nachhaltig.
Gelingt es nicht, bleibt die aktuelle Verfassung aus der Ära des Diktators Pinochet in Kraft. Dieses Szenario birgt viel Sprengstoff. Historisch ist aber schon heute, dass in Chile nun zum ersten Mal seit 1812 demokratisch gewählte Vertreter und nicht Militärs die Verfassung schreiben. Chile ist zudem das erste Land weltweit, in dem eine verfassungsgebende Versammlung paritätisch besetzt ist und gleichermaßen Frauen und Männer beteiligt werden. Das sind gute Nachrichten für die Demokratie.