Nachdem Russland wegen des Krieges in der Ukraine als Energielieferant ausgefallen ist, hat die Bundesregierung jetzt Lateinamerika wiederentdeckt. Doch warum ist Kanzler Olaf Scholz bei seiner Lateinamerikareise im Januar eigentlich nicht in Venezuela vorbeigekommen, wo es sich doch um das Land mit den größten Erdölvorkommen und achtgrößten Gasvorkommen der Welt handelt? Überhaupt ist Venezuela in den letzten Jahren größtenteils aus den Schlagzeilen verschwunden, nachdem Oppositionsführer Juan Guaidó die Regierung unter Nicolas Maduro mithilfe von Massendemonstrationen in der Hauptstadt Caracas hatte stürzen wollen. Das ist nicht gelungen, und dann kam die Coronapandemie. Was ist seitdem in Venezuela passiert?

Zur Erinnerung: Die Parlamentswahlen von 2015 hatten einen Sieg der Oppositionsparteien gebracht. Nach Unregelmäßigkeiten und wegen der schlechten Menschenrechtslage hatte die internationale Staatengemeinschaft – jedenfalls die USA, die Mitgliedsstaaten der EU und eine Mehrheit der lateinamerikanischen Staaten – die Wahl von Maduro 2018 zum Präsidenten Venezuelas nicht anerkannt. Guaidó von der Oppositionspartei Voluntad Popular, damals Präsident der Nationalversammlung, hatte sich im Januar 2019 mit Billigung der oben genannten Staaten zum Interimspräsidenten erklärt. Im Dezember 2020 fanden erneut Parlamentswahlen in Venezuela statt, die aber von den die Interimsregierung stützenden Parteien boykottiert wurden. Stattdessen erklärte sich die 2015 gewählte Nationalversammlung als weiterhin einzige legitime Volksvertretung Venezuelas und bestätigte die Präsidentschaft Guaidós.

Als rechtliche Grundlage dieser Selbstermächtigung wurde ein Artikel der venezolanischen Verfassung herangezogen, dem zufolge im Falle der Abwesenheit eines gewählten Präsidenten der Präsident der Nationalversammlung das Amt übernimmt – allerdings nur für 30 Tage, innerhalb derer Neuwahlen angesetzt werden müssen. Man ging damals davon aus, dass es angesichts der massiven wirtschaftlichen Schwierigkeiten Venezuelas, der harten internationalen Wirtschafts- und Finanzsanktionen gegen das Land und angesichts des Massenprotestes in den Straßen vor allem von Caracas sehr bald mit der Präsidentschaft Maduros vorbei sein würde. Diese Erwartung wurde auch von großen Teilen der internationalen Gemeinschaft geteilt.

Man hat sich getäuscht. Der Präsident ist bis heute im Amt und sitzt fester im Sattel als zuvor. Grund dafür ist das strategische Geschick Maduros und seiner Unterstützer sowie die beschränkte Wirksamkeit der Sanktionen. Hinzu kamen Fehler der Opposition unter Guaidó, wie Missmanagement und fehlende Transparenz im Umgang mit finanziellen Ressourcen sowie eine anfängliche Unterstützung des fehlgeschlagenen dilettantischen Versuchs einer militärischen Invasion im Mai 2020. Der von Guaidó bereits prognostizierte Übertritt der Streitkräfte auf die Seite der Opposition – ein entscheidender Faktor im Kampf um die Macht – fand nicht statt.

Der Präsident ist bis heute im Amt und sitzt fester im Sattel als zuvor.

Das Übergewicht der Partei Voluntad Popular im Verhältnis zu den anderen, die Interimsregierung tragenden, Oppositionsparteien hat im Laufe der vier Jahre zu immer größeren Spannungen zwischen ihnen geführt, und schließlich ist der Rückhalt in der Bevölkerung immer weiter gesunken. Ein Grund dafür ist, dass die Interimsregierung und ihre Parteien nie ein politisches Profil entwickelt haben. Sie haben sich im Wesentlichen darauf konzentriert, den Sturz der Regierung Maduro zu betreiben. Die Diskussionen fanden hauptsächlich in der virtuellen Welt der sozialen Medien statt, ohne große Relevanz für das Leben der Bevölkerung. Maduros Regierung dagegen konnte trotz der Sanktionen seit 2019 durch die faktische Anerkennung des US-Dollars als Zahlungsmittel und die partielle Deregulierung der venezolanischen Wirtschaft die Lebensbedingungen im Land verbessern und hat sich auch bei der Bekämpfung der Coronapandemie profiliert.

Am 30. Dezember 2022 hat nun eine Mehrheit der Abgeordneten der 2015 gewählten venezolanischen Nationalversammlung beschlossen, das Mandat der Interimsregierung unter Juan Guaidó nicht zu verlängern. Diese Entscheidung war überfällig und ist ein spätes Eingeständnis, dass die Strategie der Opposition und der sie unterstützenden Staaten gescheitert ist, die Regierung Maduro durch Sanktionen unter Druck zu setzen und zu hoffen, dass sie an inneren Konflikten zerbricht. Guaidó, der sich bis zuletzt gegen diese Entscheidung gewehrt hat, ist jetzt wieder nur eine von mehreren Führungspersönlichkeiten der Opposition in Venezuela und nur als solcher international anerkannt.

Immerhin bestehen die Ausschüsse der Nationalversammlung von 2015 zur Verwaltung des Vermögens Venezuelas in den Unterstützerstaaten der Opposition fort, so dass diese finanziellen Ressourcen jetzt nicht automatisch in die Verfügungsgewalt der Regierung Maduro zurückfallen. Bei diesem Vermögen handelt es sich vor allem um die Firma CITGO – eine der wichtigsten Erzeugerinnen von Erdölprodukten in den USA –, ferner um 30 Tonnen Gold in Großbritannien sowie um Geld auf Bankkonten in den USA und Europa. Die Interimsregierung unterstützte mit diesem Geld bisher ihre Vertretungen im Ausland und die sie tragenden Oppositionsparteien, die sonst kaum über finanzielle Ressourcen verfügen. Dieses beträchtliche Auslandsvermögen in den Händen der Opposition hat dazu geführt, dass sich die Regierung Maduro bereiterklärte, unter Vermittlung Norwegens in Mexiko mit ihr zu verhandeln.

Diese Verhandlungen sind jedoch gerade einmal wieder ins Stocken geraten. Die Entscheidung vom 30. Dezember 2022 hat die Spaltungen in der venezolanischen Opposition vertieft und diese so weiter geschwächt. Hinzu kommt, dass in den letzten Monaten in Lateinamerika mit ihr sympathisierenden Regierungen in Chile, Kolumbien und Brasilien abgewählt worden sind. Die Biden-Administration in den USA sowie einige europäische Länder, wie Spanien oder Frankreich, setzen zunehmend auf Veränderungen in Venezuela durch Dialog mit der Regierung Maduro. Es gibt derzeit jedoch noch keine Anzeichen, dass diese Staaten in naher Zukunft so weit gehen werden, die Rechtmäßigkeit der Regierung Maduro anzuerkennen. Dafür wären erhebliche Zugeständnisse bei den Themen Menschenrechte und Demokratie notwendig. Noch ist auch nicht entschieden, ob Maduro zum im Juni 2023 in Brüssel stattfindenden EU-Lateinamerika-Gipfel fahren kann, oder ob er ausgeladen wird.

Seit 2019 waren nicht mehr so viele Menschen auf der Straße.

Auch ist fraglich, ob sich die für Maduro in den letzten Jahren positive Entwicklung so fortsetzen wird. Für weitere Verbesserungen müssten internationale Sanktionen aufgehoben und neben den politischen grundlegende wirtschaftliche Reformen durchgeführt werden. Es ist nicht ersichtlich, dass die Regierung dazu bereit oder in der Lage wäre. Die sozialen Ungleichheiten zwischen Arm und Reich sind stark gestiegen. Die zwischenzeitlich erfolgreich bekämpfte Hyperinflation ist zurück, die Preise – auch in US-Dollar – haben sich vervielfacht. Der von der Regierung festgelegte Mindestlohn reicht deshalb in keiner Weise zum Überleben. Das Jahr 2023 hatte deshalb mit sozialen Protesten im ganzen Land begonnen, seit 2019 waren nicht mehr so viele Menschen auf der Straße gewesen.

In dieser Situation wäre es jetzt für Maduro außerordentlich hilfreich, er könnte wie sein Vorgänger Chavez und etliche Regierungen Venezuelas davor, die riesigen Erdöl- und Gasvorräte – und das enorme Potential Venezuelas bei der nicht-fossilen Energiegewinnung – nutzen, um die dringend benötigten Devisen für den Staatshaushalt zu erhalten. Leider aber sind die Erdölförderanlagen wegen fehlender Instandhaltung in den letzten Jahrzehnten in einem so schlechten Zustand, dass die Produktion bei einem Bruchteil der früheren Mengen liegt. Gas wird fast gar nicht gefördert, sondern überwiegend als lästiges Nebenprodukt der Erdölförderung verbrannt – mit den entsprechenden negativen Folgen für die Umwelt. Die Idee einer Nutzung nicht-fossiler Energieträger hat sich noch nicht durchsetzen können in Venezuela, und auch hier fehlt es wegen der Sanktionen an Geld für die notwendigen Investitionen.

Die Chance der Suche von Ländern wie Deutschland nach neuen Quellen der Energieversorgung geht also gerade ungenutzt vorbei. Derzeit ist nicht absehbar, wie es in Venezuela weitergeht. Werden wieder mehr Menschen auf die Straße gehen? Reagiert die Regierung wie 2019 mit mehr Repression? Ausgeschlossen werden kann dies zumindest nicht.

Die Interimsregierung unter Juan Guaidó ist jedenfalls Geschichte. Die neue Phase des Verhältnisses zwischen Regierung und Opposition wird bestimmt werden durch die für 2024 angekündigte Präsidentschaftswahl, bei der Nicolas Maduro erneut antritt und von der er sich eine Legitimierung seiner Herrschaft und die Anerkennung durch die internationale Staatengemeinschaft verspricht. 2025 sollen dann reguläre Parlaments- und Regionalwahlen stattfinden. Wenn die Opposition hier Erfolg haben will, muss sie einig sein und vor allem politisches Profil entwickeln. Aus Umfragen weiß man, dass eine Mehrheit der Venezolanerinnen und Venezolaner weder der Regierung noch der Opposition vertraut, sich aber dennoch einen Wechsel durch Wahlen wünscht. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass diese unter einem Mindestmaß an fairen Bedingungen durchgeführt werden.