Um den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung in Lateinamerika war es noch nie besonders gut bestellt. Das ist ein Resultat der Kolonialgeschichte und einer Unabhängigkeit, bei der die kreolischen Eliten sich mit allerlei Kniffen – wie der politischen Ernennung von obersten Richtern und Staatsanwälten – die Kontrolle über Schlüsselstellen der Justiz sicherten. Die Französische Revolution hatte zwar die Unabhängigkeitskämpfer inspiriert, doch allzu viel Raum wollten die siegreichen Caudillos den liberalen Ideen in den unabhängigen Nationalstaaten doch nicht geben – das hätte sie womöglich die gerade erst erkämpfte Macht und Privilegien gekostet.

„Für meine Freunde alles, für meine Gegner das Gesetz“, so umschreibt ein geflügeltes Wort die in Lateinamerika herrschende Rechtsphilosophie. Es illustriert eines der Grundübel der lateinamerikanischen Staaten: Die Vetternwirtschaft, die die Gewaltentrennung unterläuft und damit ein grundlegendes Element der Demokratie zur Makulatur macht.

Mitte der 2010er Jahre erfasste eine von Brasilien ausgehende Anti-Korruptions-Welle den Kontinent.

Das änderte sich Mitte der 2010er Jahre, als eine von Brasilien ausgehende Anti-Korruptions-Welle den Kontinent erfasste. 2014 verfolgten brasilianische Ermittler die Spur von Geldkoffern, die in Autowaschanlagen ausgetauscht worden waren. Die unter dem Decknamen Lava-jato (Autowaschanlage) laufende Ermittlung führte dank der neuen Kronzeugenregelung bald zum staatlichen Ölkonzern Petrobras und in die Chefetagen der wichtigsten Bau- und Agrarkonzerne des Landes. Dabei kam heraus: Sie unterhielten seit Jahrzehnten eine geheime doppelte Buchführung, um Schmiergelder an Politiker aller Parteien auszuzahlen.

75 Prozent aller Kampagnen in Brasilien seien illegal finanziert worden, sagte Marcelo Odebrecht, Direktor des gleichnamigen Baukonzerns, bei seiner Vernehmung. Über 300 brasilianische Manager und Politiker wurden verurteilt, darunter so hochrangige wie Ex-Parlamentspräsident Eduardo Cunha, der Unternehmer Eike Batista und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva. Die mit der Aufklärung befassten Justizbeamten, darunter Richter Sergio Moro, wurden von den Medien zu mutigen Helden stilisiert.

Mit Finanzinformationen, die die US-Ermittlungsbehörden 2016 nach Brasilien überstellten, weitete sich der Korruptionsskandal aus. Es stellte sich heraus, dass vor allem der Baukonzern Odebrecht im Gegenzug für Staatsaufträge auch Kampagnen in Peru, Kolumbien, Mexiko, Argentinien, Ecuador, Guatemala, Panama, Venezuela und der Dominikanischen Republik finanziert hatte. Die Bauvorhaben wurden dann im Nachhinein immer teurer als veranschlagt – so machte Odebrecht keinen Verlust, und die Politiker füllten ihre Wahlkampfkassen. Den Schaden hatten die Steuerzahler.

Generalstaatsanwälte wie Claudia Paz y Paz aus Guatemala und Pablo Sánchez aus Peru begannen, dank dieser Informationen bis dahin unantastbare Korruptionsnetzwerke zu zerschlagen. Zahlreiche Politiker der Region kamen in Bedrängnis und einige sogar hinter Gitter, darunter Perus Ex-Präsident Ollanta Humala und Panamas Ex-Präsident Ricardo Martinelli. Der ehemalige peruanische Präsident Alan Garcia kam einer Anklage durch Suizid zuvor. Es gab weitere seltsame Todesfälle im Zusammenhang mit den Ermittlungen. Der brasilianische Richter Teori Zavascki kam 2017 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. In Kolumbien wurden der wichtigste Zeuge im Odebrecht-Skandal und sein Sohn vergiftet. Die Ermittlungen ließen das Establishment Lateinamerikas erzittern, wie es in den 1990er Jahren mani pulite in Italien getan hatte.

Befürworter der Korruptionsbekämpfung dachten, der gordische Knoten der Straffreiheit sei nun geplatzt.

Begeisterte Befürworter der Korruptionsbekämpfung dachten, der gordische Knoten der Straffreiheit sei nun geplatzt. Sie drängten darauf, die Macht und Unabhängigkeit der Generalstaatsanwälte weiter zu stärken und sie von Gegenkontrollen zu befreien. Doch dem lag ein Denkfehler zugrunde: Sie dachten, dass nur ehrliche, unparteiische Staatsanwälte und Richter die höchsten Posten bekleiden würden.

Die Welle der Empörung und der Antipolitik spülte 2018 in Brasilien den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro an die Macht mit dem Versprechen, den korrupten Saustall auszumisten. Nach seinem Amtsantritt geschah das Gegenteil, denn zum Regieren brauchte Bolsonaro im Kongress die Unterstützung der korrupten Zentrumsparteien. Der von ihm eingesetzte Generalstaatsanwalt Augusto Aras erzwang erst den Rücktritt des Lava-jato-Chefermittlers Deltan Dallagnol und löste dann 2021 dessen Sondereinheit komplett auf. Das Task-Force-Modell habe einen persönlichen Starkult befeuert, sei von zahlreichen Unregelmäßigkeiten überschattet und habe sich nicht bewährt, begründete Aras die Auflösung.

Vorschub leistete ihm dabei eine Investigation des linken Nachrichtenportals The Intercept, das gehackte Whatsapp-Nachrichten zwischen Dallagnol und dem Richter und Medienliebling Sergio Moro veröffentlicht hatte. Darin äußerte sich Moro abfällig über Lula und verletzte die richterliche Neutralitätspflicht. Das Oberste Gericht hob die Verurteilung Lulas deshalb schließlich auf, auch andere Inhaftierte wurden nach und nach aus unterschiedlichen Gründen freigelassen. Die Stars von Lava-jato endeten dort, wo nach rechtsstaatlichem Empfinden kein Richter und Staatsanwalt etwas zu suchen hat: in der Politik. Moro wurde Bolsonaros Justizminister, Dallagnol Abgeordneter für die rechte Partido Novo.

„Die Task-Force hat einen Großteil ihres moralischen Kapitals verspielt, indem sie sich mit Bolsonaro verbündete“, kritisiert der brasilianische Soziologe Celsa Rocha. „Korrupte Politiker sind verständlicherweise darüber sehr glücklich.“ Etwas anders sieht es der brasilianische Ökonom und Antikorruptionsexperte Bruno Brandao. „Bei Lava-jato sind gravierende Fehler passiert. Aber es wäre naiv zu glauben, dass dies der Grund für die Auflösung der Einheit war“, sagte er. „Lava-jato wurde wegen seines Erfolges vernichtet. Die Korrupten schlagen immer zurück.“

In Lateinamerika ist es still geworden um die Korruptionsbekämpfung.

Nicht nur in Brasilien, auch im Rest Lateinamerikas ist es zwei Jahre nach dem Ende von Lava-jato still geworden um die Korruptionsbekämpfung – dabei wäre sie notwendiger denn je. In den autoritär regierten Ländern Nicaragua, Venezuela und Kuba ist die Justiz gleichgeschaltet. Korruptionsskandale kommen, wenn überhaupt, nur durch investigative Medien ans Licht. Weil es sich ohne Kontrolle einfacher regieren lässt – besonders auch in wirtschaftlich und politisch turbulenten Zeiten wie momentan –, macht das Beispiel überall Schule.

In Guatemala kriminalisiert Generalstaatsanwältin Consuelo Porras den gewählten Präsidenten Bernard Arévalo und seine Partei sowie die Mitglieder des Wahlrates und unabhängige Richter und Staatsanwälte, die scharenweise ins Exil fliehen. Porras, die auf der US-amerikanischen Engels-Liste der korrupten Staatsdiener steht, verteidigt damit nicht nur ihren eigenen Job, sondern die Pfründe einer Elite, die nach der schockierenden Erfahrung mit der UN-Kommission gegen Straffreiheit nichts stärker fürchtet als einen Demokraten an der Staatsspitze und eine unabhängige Justiz.

In Peru gab es Anfang Dezember gleich zwei Justizpossen. Das Verfassungsgericht entließ unter Verletzung internationaler Normen den wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen verurteilten Ex-Diktator Alberto Fujimori frühzeitig aus der Haft. Die beiden Richter, die sich der Freilassung widersetzt hatten, wurden zu der Sitzung gar nicht eingeladen. Dann wurde die Generalstaatsanwältin Patricia Benavides suspendiert. Sie hatte die Sondereinheit zur Odebrecht-Korruption aufgelöst. Ihr Chefberater gestand zudem, er habe ein Dutzend Kongressabgeordnete korrumpiert, um eine Rivalin, die gegen Benavides’ Schwester wegen Korruption ermittelte, und das Justizkontrollorgan zu entmachten. 

Nicht viel erbaulicher steht es um die beiden Regionalmächte Brasilien und Mexiko. Auch dort sind beide Präsidenten bemüht, die Justiz unter ihre Kontrolle zu bekommen, um sich vor Ermittlungen zu wappnen und leichter durchregieren zu können. In Mexiko ernannte der linkspopulistische Präsident Andrés Manuel López Obrador 2018 einen persönlichen Vertrauten zum Generalstaatsanwalt, der seinen Posten für politische und familiäre Vendetta nutzt und deshalb schon vom Obersten Gericht durch die Annullierung eines Prozesses zurückgepfiffen wurde.

Das Oberste Gericht, das Vereinnahmungsversuchen bislang widerstanden hat, ist unter Dauerbeschuss. Anhänger des Präsidenten blockierten tagelang das Gerichtsgebäude und verbrannten eine Puppe, die die Gerichtspräsidentin symbolisierte. Zwei Richter traten bislang unter dem Druck der Exekutive zurück und sollen nach Wunsch des Präsidenten durch Gefolgsleute ersetzt werden. In Brasilien agiert Lula ähnlich: Er nominierte seinen umstrittenen Justizminister Flavio Dino für den freiwerdenden Posten im Obersten Gericht.

In 18 von 23 lateinamerikanischen Ländern sind die Menschen mehrheitlich überzeugt, dass die Exekutive bewusst die Judikative schwächt.

Solche Manöver erodieren das Vertrauen der Bürger. Wie das World Justice Project in seiner jüngsten Erhebung dieses Jahr herausgefunden hat, sind in 18 von 23 lateinamerikanischen Ländern die Menschen mehrheitlich überzeugt, dass die Exekutive bewusst die Judikative schwächt. Das leistet der Erosion der Demokratie Vorschub. Unterstützten 2010 noch 63 Prozent der Lateinamerikaner die Demokratie, waren es 2023 nur noch 48 Prozent, hat das Institut Latinobarómetro ermittelt. 

„Der große Unterschied zur Welle der demokratischen Rezession in den 1960er Jahren besteht darin, dass nicht das Militär Protagonist ist“, schreibt Latinobarómetro. „Diesmal sind alle Diktatoren Zivilisten, die in freien und kompetitiven Wahlen gewählt werden und sich dann an der Macht halten, indem sie die Regeln ändern und Pseudowahlen abhalten. Es handelt sich um zivile Wahl-Diktaturen.“