José Rubén Zamora gibt sich keinen Illusionen hin. „Ich bin ein politischer Gefangener“, ist sich der Vollblut-Journalist und Gründer von el Periódico sicher. Die kritische Tageszeitung hat am 15. Mai ihre letzte Ausgabe publiziert, nach ziemlich genau 27 Jahren gehört sie der Geschichte an. Der Chefredakteur ist Mitte Juni wegen Geldwäsche, Korruption und Erpressung zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt worden. Dagegen will der 66-Jährige in Berufung gehen. Er bezeichnet die gegen ihn ins Feld geführten Anschuldigungen als fingiert und moniert, dass Entlastungszeugen nicht zugelassen und seine Verteidiger kriminalisiert wurden. Eine Einschätzung, die auch die Interamerikanische Pressegesellschaft teilt, die gleich mehrfach an die Verantwortlichen in Guatemala schrieb. Dabei äußerte die Medienorganisation den Verdacht, dass die Justiz in Guatemala nicht unabhängig und zu einem Instrument dubioser Kräfte geworden sei.
Dafür spricht vieles in Guatemala. Es sind nicht nur die zahlreichen Verfahren gegen unbequeme Journalistinnen und Journalisten wie Zamora, Carlos Choc, Sunny Figueroa oder Marvin Del Cid, die darauf hindeuten, dass die Justiz ihre Unabhängigkeit verloren hat, sondern auch die Verfahren gegen „unbequeme“ Richterinnen und Staatsanwälte. Virginia Laparra ist eine von ihnen. Die Leiterin der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Korruption in Quetzaltenango sitzt wegen Amtsmissbrauchs seit Februar 2022 in Untersuchungshaft. Kriminalisierung drohte auch einem der angesehensten Richter Guatemalas: Miguel Ángel Gálvez. Der 64-Jährige zog die Konsequenzen und nutzte eine Deutschlandreise im November 2022 für den Gang ins Exil – ähnlich wie mehr als drei Dutzend Justizangestellte und Anwältinnen aus Guatemala, die sich im Laufe der jüngsten Jahre nicht mehr sicher in Guatemala fühlten und in ein Nachbarland oder in die USA flohen. Aufregung erzielte auch der Fall Thelma Aldana, die bis 2018 Generalstaatsanwältin war und international bekannt ist. 2018 erhielt sie für ihre Verdienste zur Bekämpfung der Korruption in der Region den alternativen Nobelpreis, gemeinsam mit Iván Velásquez, Direktor der UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala (CICIG). Doch ein Jahr später musste Aldana ihr Land verlassen, weil die resolute Juristin für die Präsidentschaft kandidiert hatte. Daraufhin wurde ein Korruptionsverfahren gegen Aldana eingeleitet und ihre Kandidatur wurde vom Obersten Wahlgericht storniert, obwohl sie die Umfragen anführte. Wenig später gingen die ersten Drohungen gegen die Juristin ein, die kurz darauf das Land verließ.
Die UN-Kommission gegen Straflosigkeit in Guatemala kam denjenigen zu nahe, die die Macht innehaben.
Alles andere als ein Zufall, denn spätestens 2017 hatte sich der Wind in Guatemala gedreht. Von da an war die CICIG unerwünscht, obwohl die UN-Kommission gegen Straflosigkeit 2006 auf den Wunsch der guatemaltekischen Regierung ins Land geholt worden war: Sie war denjenigen zu nahe gekommen, die die Macht inne haben. Die CICIG baute neben neuen Strukturen in der Justiz auch ein neues Selbstverständnis auf. Korrupte Richterinnen und Richter, eher die Regel als die Ausnahme in Guatemala, mussten gehen, was für ein neues Selbstverständnis im Justizsystem des mittelamerikanischen Landes sorgte. Bestes Beispiel dafür war der unfreiwillige Rücktritt von Präsident Otto Pérez Molina am 2. September 2015. Gegen den Ex-General des militärischen Geheimdienstes hatte die guatemaltekische Staatsanwaltschaft, unterstützt von der CICIG, etliche Pappkartons mit Beweisen für Selbstbereicherung vorgelegt. Daraufhin entzog das Parlament dem Präsidenten die Immunität. Unter dem Jubel von 150 000 Guatemaltekinnen und Guatemalteken, die vor dem Parlament und dem Nationalpalast gegen Korruption und für die Demokratie demonstrierten, gab Otto Pérez Molina wenig später seinen Rücktritt bekannt.
Damals hätte das Pendel durchaus in Richtung Demokratie ausschlagen können. Vom „mittelamerikanischen Frühling“ war die Rede, die Aufbruchstimmung in einer vom Bürgerkrieg (1960–1996) gezeichneten Gesellschaft war quasi greifbar. Doch die alten Parallelstrukturen, die Allianzen zwischen Militärs und Unternehmerfamilien aus dem Bürgerkrieg, erwachten wieder und begannen sich peu á peu neu zu organisieren: „Sie sind zum ‚Pakt der Korrupten‘ mutiert, der heute wieder die Macht in Guatemala kontrolliert“, meint Miguel Ángel Gálvez, der Richter, der heute im Exil lebt. Das Netzwerk aus Militärs und den wichtigsten Unternehmerfamilien, ergänzt um korrupte Politiker sowie die organisierte Drogenkriminalität, hat das Land de facto an die Ketten gelegt. Sämtliche Institutionen werden vom Pakt der Korrupten kontrolliert, allen voran die Generalstaatsanwaltschaft unter der korrupten und mit einem Einreiseverbot in die USA belegten María Consuelo Porras.
Das politische Establishment unter dem hyperkorrupten Präsidenten Alejandro Giammattei reagiert längst nicht mehr auf Kritik aus dem Ausland.
Das gilt auch für das Oberste Wahlgericht und für das Verfassungsgericht, die sich derzeit die Bälle zuspielen. Sie haben bereits drei Kandidatinnen und Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen am 25. Juni unter fadenscheinigen Begründungen von den Wahlen ausgesperrt. Unter den Betroffenen ist auch das wohl aussichtsreichste linke Duo, die indigene Präsidentschaftskandidatin Thelma Cabrera und ihr Vizekandidat Jordán Rodas, ehemaliger Ombudsmann für Menschenrechte. Hinzu kommen mit Roberto Arzú und Carlos Pineda zwei aussichtsreiche konservative Kandidaten. Das gleiche Schicksal droht auch Edmond Mulet: Der ehemalige UN-Diplomat wartet derzeit auf ein abschließendes Urteil des Verfassungsgerichts.
Das könnte trotz internationaler Proteste von Seiten der USA, der EU und der Organisation Amerikanischer Staaten negativ ausfallen. Bezeichnend ist, dass das politische Establishment unter dem hyperkorrupten Präsidenten Alejandro Giammattei längst nicht mehr auf Kritik aus dem Ausland reagiert. Ein wesentlicher Grund, weshalb der ausgeschlossene Kandidat für den Vizepräsidentschaftsposten Jordán Rodas von den Wahlen nicht viel erwartet. Guatemala stehe ein neues autoritäres Regime bevor, so der im Exil im spanischen Bilbao lebende Jurist.