Die regelbasierte, multilaterale Ordnung ist stark geschwächt. Vor diesem Hintergrund wandelt sich auch die Architektur der Global Governance. Denn der Rahmen für Diplomatie, Zusammenarbeit, Verteidigung, Investitionen und Handel ist zunehmend fragmentiert. Die Integration der EU in die multilaterale Ordnung ist in einer von staatlichen Akteuren dominierten Welt noch nie einfach gewesen. So stieß Brüssels Versuch, interregionale Beziehungen zu entwickeln, auf zahlreiche Hindernisse. Die Rückkehr der Großmachtpolitik, die Deglobalisierung als Folge der Covid-19-Pandemie sowie die Krise der Demokratie wirken den internationalen Bestrebungen der EU im Rahmen der liberalen Ordnung entgegen. Trotz starker kultureller, politischer und wirtschaftlicher Gemeinsamkeiten ist der regionale Dialog zwischen der EU und Lateinamerika eines der Opfer dieser internationalen Entwicklung.
In den letzten Jahren waren die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Lateinamerika geprägt von Problemen innerhalb der EU (der Finanzkrise und dem Brexit), von neuen geopolitischen Prioritäten Europas, vom Engagement Lateinamerikas für andere internationale Akteure (wie China) sowie von regionalen politischen Gegensätzen. Mit dem EU-CELAC-Gipfel im Juli 2023, der nach acht Jahren des Stillstands wieder stattfindet, will Brüssel Lateinamerika zu einer der vorrangigen Achsen seiner internationalen Zukunftsausrichtung machen. Gerade in dem neuen geopolitischen Kontext, der sich nach der russischen Invasion in der Ukraine abzuzeichnen beginnt, ist dies besonders relevant.
Das Gipfeltreffen eröffnet möglicherweise eine einmalige Gelegenheit, wieder eine gemeinsame Agenda auf den Weg zu bringen. Bei dieser geht es nicht nur darum, wie viel Europa von einer erneuerten Beziehung zu Lateinamerika profitieren kann, sondern auch darum, wie viel Lateinamerika zur Lösung verschiedener globaler Probleme beitragen kann, von denen einige für die Zukunft Europas wesentlich sind. Die Herausforderungen der Energiewende im Rahmen des europäischen Green Deal und die Bemühungen um eine Diversifizierung der Energieversorgung, sind dabei wesentliche Elemente einer erneuerten Partnerschaft zwischen der EU auf der einen Seite und Lateinamerika sowie der Karibik auf der anderen. Diese Partnerschaft sollte sich von den traditionellen europäischen Investitionen in den exportorientierten lateinamerikanischen Rohstoffsektor zu einer viel komplexeren Beziehung entwickeln, die Investitionen in erneuerbare Energien, grüne industrielle Wertschöpfungsketten und Klimazusammenarbeit umfasst.
Das Gipfeltreffen eröffnet möglicherweise eine einmalige Gelegenheit, eine gemeinsame Agenda wieder auf den Weg zu bringen.
Der traditionelle Bereich der Kooperation, die lateinamerikanischen Exporte von Kohlenwasserstoff in die EU, zeigte angesichts der anhaltenden Energiekrise ein begrenztes Wachstumspotenzial. Lateinamerikanische Kohle, Erdgas und Rohöl haben lediglich eine kurzfristige Aufwertung für die EU-Mitgliedstaaten erfahren, die ihre Abhängigkeit von Russland verringern wollen. In absoluten Zahlen haben die Energielieferungen zwar zugenommen – allerdings ohne die strategische Verschiebung in der Matrix der fossilen Importe zu bewirken, die von anderen Akteuren wie den USA vorgenommen wurde. Im Gegensatz zu anderen traditionellen Erdöl- und Erdgasexportländern haben die Besuche führender EU-Politiker in Lateinamerika auf der Suche nach neuen Lieferungen und Importvereinbarungen nicht merklich zugenommen.
Nach dem Rückzug aus Venezuela, aufgrund seiner schweren sozioökonomischen Krise, und dem Rückgang der Produktion in Ecuador, Kolumbien und Mexiko, wo sich das Geschäftsklima für ausländische Investitionen verschlechtert hat, haben sich die europäischen Upstream-Investitionen auf spezifische Aktivitäten im Zusammenhang mit der Exploration und Förderung unkonventioneller Kohlenwasserstoffe verlagert. Diese Verlagerung konzentrierte sich primär auf die brasilianischen Pre-Salt-Reserven, den Tiefwasser-Upstream-Sektor in Guyana und in geringerem Maße auf den argentinischen Ölschiefer in Vaca-Muerta.
Die Aussichten für eine Zusammenarbeit bei der Dekarbonisierung sind wesentlich ermutigender, was einen gewissen Reifegrad in den biregionalen Energiebeziehungen erkennen lässt. Obwohl es beträchtliche Unterschiede in Bezug auf Klimaauswirkungen, Ambitionen, Energiequellen und sozioökonomische Gegebenheiten zwischen den Ländern gibt, schaffen die starken wirtschaftlichen und sozialen Verbindungen zusammen mit dem gemeinsamen Engagement für den Klimawandel ein günstiges Umfeld für gegenseitiges Lernen und für Kooperation zwischen den beiden Regionen. Darüber hinaus ist Lateinamerika für Europa eine der Regionen mit dem größten Potenzial für die Entwicklung der externen Dimension des europäischen Green Deal. Dies zeigt sich an der Entstehung neuer Wertschöpfungsketten, die sich aus dem Ausbau der erneuerbaren Energien ergeben, sowie an der potenziellen Entwicklung von Übergangsmineralien und der Integration kohlenstoffarmer Industriezweige.
Mit Blick auf strategische Mineralien steht die EU nach wie vor im Schatten Chinas.
In den letzten zehn Jahren haben die ausländischen Direktinvestitionen in Projekte im Bereich der erneuerbaren Energien in Lateinamerika die Investitionen in Kohlenwasserstoffe kontinuierlich übertroffen. Europäische Unternehmen waren die Haupttreiber dieses Trends. 75 Prozent der ausländischen Direktinvestitionen in erneuerbare Energien stammten von ihnen, wobei sie sich durch strenge Arbeits-, Sozial- und Umweltstandards sowie einen bemerkenswerten Technologietransfer auszeichneten. Die erfolgreichsten Länder beim Einsatz erneuerbarer Energien – Brasilien, Chile und bis vor kurzem Mexiko – waren diejenigen, die politische Rahmenbedingungen einführten, welche mit der EU kompatibel waren. Dies zeigt die potenziellen Synergien zwischen regulatorischer Konvergenz, Investitionen, Schaffung von Wohlstand und Dekarbonisierung. Die Heterogenität der in Lateinamerika vorherrschenden Wirtschaftsmodelle verdeutlicht jedoch die Schwierigkeiten einer biregionalen Zusammenarbeit im Bereich der erneuerbaren Energien, die länderspezifische Ansätze gegenüber multilateralen Rahmenwerken begünstigt.
Wasserstoff gewinnt in der EU-Lateinamerika/Karibik-Agenda und in Wirtschaftsforen zunehmend an Aufmerksamkeit. Entgegen des vorherrschenden Narrativs, welches Wasserstoff als neue Exportware darstellt, sollte die EU jedoch anstreben, ein Konzept der industriellen Entwicklung von Wasserstoff zu unterstützen. Sie sollte darauf abzielen, eine Wiederholung der einseitigen fossilen Energieströme und des regionalen Trends zur vorzeitigen Deindustrialisierung und Reprimarisierung zu vermeiden. Erneuerbarer Wasserstoff könnte dazu beitragen, die Auswirkungen des EU-Mechanismus zur Anpassung der Kohlestoffgrenzen (CBAM) abzufedern. Die erste Phase des CBAM wird vor allem Eisen und Stahl, Düngemittel, Aluminium, Zement, Elektrizität und Wasserstoffprodukte betreffen, und so einen Teil des derzeitigen bilateralen Handels berühren. Weil Wasserstoff ein wichtiger Bestandteil von Düngemitteln auf Stickstoffbasis ist, könnten europäische Investitionen in die Entwicklung von erneuerbarem Wasserstoff auch die Abhängigkeit Lateinamerikas von den Düngemittelpreisen verringern. Das würde die Ernährungssicherheit in der weltweit größten Nettoexportregion für Lebensmittel erhöhen.
Mit Blick auf strategische Mineralien steht die EU nach wie vor im Schatten Chinas. Sie muss ein neues Konzept finden, das Elemente der Industrialisierung, des Friend-shoring und der biregionalen Integration von Wertschöpfungsketten umfasst. Deshalb will die EU zwar den Zugang zu wichtigen Rohstoffen sichern, sich aber gleichzeitig von anderen führenden Investoren abheben, indem sie nachhaltige Modelle der gegenseitigen Abhängigkeit anbietet, die die effektive Erwirtschaftung und Verteilung von Bergbaugewinnen gewährleisten. Damit ist Lateinamerika in einer günstigen Position, um eine führende Rolle bei der Entwicklung neuer kohlenstoffarmer Wertschöpfungsketten auf der Grundlage nachgelagerter Produkte zu übernehmen.
Der Erfolg der europäischen Investitionen in erneuerbare Energien stimmt optimistisch für die Zukunft.
In der jüngsten Aktualisierung des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und Chile wird die Bedeutung von Kupfer und Lithium hervorgehoben. Chile erreichte dabei einen verbesserten Zugang zum europäischen Markt für seine landwirtschaftlichen Erzeugnisse im Gegenzug für Schutzmaßnahmen für europäische Investitionen im Bergbau sowie den Zugang zum heimischen Markt für Lithium und damit verbundene nachgelagerte Produkte zu Marktpreisen. Nach der Unterzeichnung einer Absichtserklärung zur Gründung einer Partnerschaft zwischen der EU und Argentinien im Bereich nachhaltiger Rohstoff-Wertschöpfungsketten könnte, wenn die laufenden Verhandlungen über das Handelsabkommen zwischen der EU und dem Mercosur erfolgreich abgeschlossen würden, ein ähnlicher Ansatz für die Zusammenarbeit im Bereich der Mineralien entwickelt und der geografische Geltungsbereich dieser Strategie erweitert werden.
Die Partnerschaft der EU mit Lateinamerika und der Karibik bietet in der Energiezusammenarbeit eine Möglichkeit zur Stärkung der Beziehungen, die über die traditionelle Dynamik des fossilen Systems hinausgeht. Der Erfolg der europäischen Investitionen in erneuerbare Energien stimmt optimistisch für die Zukunft einer verstärkten biregionalen Energiezusammenarbeit. Sie könnte neben der Konsolidierung der traditionellen Kooperation im Bereich der erneuerbaren Energien auch auf Wasserstoff, die industrielle Dekarbonisierung und den Bergbau ausgedehnt werden. Der EU-CELAC-Gipfel im Jahr 2023 wird eine neue Gelegenheit bieten, eine Partnerschaft wiederzubeleben, die viele Möglichkeiten für den Aufbau von Win-Win-Rezepten bietet. Lateinamerika und Europa sind zwei weitgehend kompatible Regionen, die ihre Beziehungen auf dem Weg zu einer gerechten Energiewende im weiteren Kontext des europäischen Green Deal vertiefen müssen.
Aus dem Englischen von Lucie Kretschmer