Angesichts des andauernden Krisenmodus, des systematischen Defizits der öffentlichen Kassen und der Selbstbedienungsmentalität der regierenden politischen Klasse repräsentiert Javier Milei für viele Argentinier die letzte Option. Viele wählten ihn, weil sie den etablierten Politikern keine Lösung der schwierigen Lage zutrauten, der „Kandidat mit der Kettensäge“ erschien trotz aller Vorbehalte als das kleinere Übel. Doch nach mittlerweile zwei Monaten Amtszeit kann man bereits von einem perfekten Fehlstart sprechen: Milei und seine Leute haben mit Notprogrammen, Notstandsdekreten und einem sogenannten Omnibusgesetz, in dem über 600 Einzelregelungen zusammengefasst wurden, einen Neuanfang für Argentinien eingeläutet.

Doch genau dieses Gesetz ist nun vorerst im Parlament gescheitert. Und damit auch der Anspruch des Präsidenten, grundlegend im Land aufzuräumen mit allem, was nicht seinem Ideal entspricht. Diese ist am Leitbild von Marktfreiheit, Reduzierung von Staatsregulierung und Beseitigung von Subventionen orientiert. Das Ende Dezember vorgelegte Paket enthält 664 Änderungen verschiedenster Art, die von der Reform des Wahlrechts, der Parteiengesetzgebung, der Privatisierung von Staatsunternehmen bis hin zur Übertragung von Legislativfunktionen auf die Exekutive reichen. Das schon zum Teil mit der Opposition ausverhandelte und infolgedessen auf 200 Gesetzesänderungen reduzierte Reformpaket wurde nun in die Ausschüsse des Kongresses zurückverwiesen. Damit steht alles wieder auf Anfang und Mileis rasant angedachter Regierungsbeginn ist vorerst ausgebremst. Gerade der extrem heterogene Charakter eines solchen Reformpakets ohne klaren Fokus rief vielfältige Kritik und sich gegenseitig verstärkende Widerstandskoalitionen hervor.

Auch Mileis Megadekret zur Abschaffung oder Reform von 366 anderen Gesetzen und Bestimmungen liegt weitgehend auf Eis. Damit wollte er eine Deregulierung in einem breiten Spektrum von Wirtschaftssektoren wie Arbeit, Handel, Immobilien, Luftfahrt, Gesundheit und sogar Fußballvereinen erreichen. Durch entsprechende gerichtliche Entscheidungen und die Notwendigkeit, auch dafür eine Zustimmung im Parlament zu erlangen, ist auch hier unsicher, ob das Dekret Bestand haben wird. Nun ist aus dem Milei-Lager zusätzlich eine Initiative zur Abschaffung des Abtreibungsrechts vorgelegt worden, was für zusätzlichen Sprengstoff sorgt.

Dass Milei in den sozialen Netzen auf seine Niederlage mit dem Bild eines Terminators reagierte, der gegen die politische Elite – von ihm als „Kaste“ bezeichnet – zu Felde zieht, und dabei einzelne Abgeordnete persönlich benannte und ins Visier nahm, ist ein weiterer Schritt in der Selbstinszenierung eines Präsidenten, dem in seinem Handeln zunehmend das Maß der Dinge verloren geht. Es unterstreicht auch seine Neigung, jenseits der Institutionen zu handeln und in Autoritarismus und repressive Praktiken abzugleiten. Erneut versuchte Milei so den Kongress unter Druck zu setzen, indem er mit einem Referendum drohte, um auf diese Weise nicht nur die Abgeordneten, sondern auch die Gouverneure des Landes zur Annahme seines zusammengewürfelten Mammutpakets zu bewegen.

Milei operiert auf Basis der Polarisierung von Freund und Feind.

Milei steht damit gerade mal zwei Monate nach Amtsantritt vor einem Scherbenhaufen – nicht nur im Gesetzgebungsverfahren, sondern auch gegenüber der Bevölkerung, die seinem politischen Ansatz libertärer Politik mit wachsendem Befremden gegenübersteht. Wenn Ende Februar die Sommerferien in Argentinien zu Ende gehen, werden viele Bürgerinnen und Bürger die massive Abwertung des argentinischen Pesos, die Welle der Preiserhöhungen und die Kürzungen für viele Dienstleistungen, etwa im Transportwesen, deutlich spüren. Der Widerstand dürfte sich dann jenseits der traditionellen Oppositionskräfte, der Gewerkschaften und peronistischen Basisgruppen, stärker bemerkbar machen. Der Generalstreik vom 24. Januar 2024 könnte in dieser Hinsicht nur ein Auftakt gewesen sein.

Fest steht, mit der Neuauflage seiner Politshow und neuen Ideen seiner Webdesigner wird Milei immer weniger Anhänger gewinnen können. Mit diesen Auftritten verschießt er lediglich „sein Pulver“, ohne gleichzeitig Ergebnisse liefern zu können. Das Scheitern der Verhandlungsstrategie seiner Regierung im Kongress und die offene Auseinandersetzung mit den Gouverneuren, die er massiv in ihren Rechten und Finanzen beschneiden will, schieben den notwendigen Neuanfang für das krisengeschüttelte Land nur weiter hinaus. Gefragt wäre stattdessen die Fähigkeit zur Zusammenführung der wichtigsten politischen Kräfte und sozialen Akteure, nur passt das weder zum Projekt noch zum Naturell des Präsidenten. Milei operiert auf Basis der Polarisierung von Freund und Feind – Konsens fügt sich hingegen nicht in seine politische Propaganda ein. Argentinien, der bereits jetzt größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds, hatte gerade bei der jüngsten Überprüfung des 44 Milliarden Dollar schweren Hilfsprogramms IWF-Gelder in Höhe von 4,7 Milliarden Dollar zugebilligt bekommen, obwohl wichtige Ziele des vereinbarten Stabilisierungsprogramms nicht erreicht wurden. Das Land habe jedoch, so der IWF, „mutige Schritte“ unternommen, um Wachstumshindernisse zu beseitigen. Die sozialen Verwerfungen, die aus der Umsetzung des Milei-Programms folgen, werden Argentinien dennoch nachhaltig prägen.

Es ist nicht völlig auszuschließen, dass Milei versuchen könnte, sich selbst neu zu erfinden und sein konfrontatives Auftreten abzulegen – nur würde er damit genau das Bild bedienen, das viele Bürger des Landes ohnehin vom politischen „Geschäft“ haben: Wort und Handeln sind nicht in Einklang zu bringen, das persönliche Interesse bleibt letztlich entscheidend. Durch einen solchen Kurswechsel des Anti-Politikers Milei würden so bestehende Vorurteile und die Ablehnung gegen die Politiker des Landes weiter bestärkt werden.

Dabei steht Argentinien schon jetzt vor einer schweren Belastungsprobe und braucht internationale Unterstützung. Wenn aber manche deutsche Beobachter meinen, Milei sei ein Exempel „freiheitlicher Politik“, dann sollten die ersten beiden Monate dieser Regierung als deutliche Warnung dienen. Milei ist mit seinem politischen Projekt, das sich weitgehend aus politischen Parolen und persönlichen Vorlieben zusammensetzt, kein Vorreiter des notwendigen und vor allem berechenbaren Wandels in Argentinien und damit auch kein zuverlässiger Partner – eine Erkenntnis, die sich in den Nachbarländern Argentiniens bereits durchgesetzt hat. Diese Einsicht sollte auch in Deutschland ernst genommen werden, wenn immer wieder auf Milei als geeigneten Mitspieler gesetzt wird.