Beim ersten Amerikagipfel 1994 in Miami herrschte Euphorie. Die Phase der blutigen Diktaturen und Stellvertreterkriege in Lateinamerika war zu Ende und US-Präsident Bill Clinton verbreitete eine demokratische Aufbruchstimmung. Die Vision einer gesamtamerikanischen Freihandelszone weckte Hoffnungen auf eine Ära der Stabilität und des Wachstums. Nun kehrt der Amerikagipfel in seiner neunten Auflage vom 6. bis 10. Juni erstmals wieder in die USA zurück, diesmal wird Los Angeles Gastgeber sein. 

Doch anders als 1994 waren diesmal schon die Vorbereitungen ein wahres Fiasko. Ungewohnt stümperhaft und planlos wirkte die US-Diplomatie, die zahlreiche ihrer besten und in Lateinamerika versiertesten Diplomaten und Diplomatinnen in der Ära von Donald Trump verloren hat. Hinzu kommt, dass fast die Hälfte der US-Botschafterposten in der Region unbesetzt sind. Lange stand weder das Motto des Gipfels fest, noch die Tagesordnung – und schon gar nicht die Liste der Teilnehmenden. „Dafür gibt es keine Ausrede“, sagte Ryan Berg vom Center for Strategic and International Studies (CSIS). „Das ist unsere Chance, die regionale Agenda zu setzen, und ich fürchte, wir verpassen sie.“

Im März deutete der für Lateinamerika zuständige Präsidentenberater Juan González dann an, dass nur demokratisch legitimierte Staatschefs eingeladen würden – eine Absage an Autokratien wie Nicaragua, Venezuela und Kuba. Das ist an sich nicht außergewöhnlich: Da die Gipfel zusammen mit der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) veranstaltet werden, ist die Teilnahme von Nicht-Mitgliedern diplomatische Ermessenssache. Kuba wurde nach der Revolution 1962 aus der OAS ausgeschlossen und betont immer wieder, es habe keinerlei Interesse an einer Rückkehr. Erstmals sind nun aber auch zwei weitere Staaten betroffen. Das sozialistische Venezuela trat 2019 aus der OAS aus – und wird dort seither aufgrund eines Beschlusses der Vollversammlung von einem Diplomaten der bürgerlichen Opposition vertreten – und Nicaragua kündigte 2022 seinen Rücktritt an und konfiszierte entgegen aller diplomatischer Gepflogenheiten und Konventionen auch gleich noch die Vertretung der OAS in Managua. In allen drei Ländern gibt es keine demokratischen Standards genügenden Wahlen, keine Gewaltenteilung und keinen Rechtsstaat, was seit der Einführung der Demokratiecharta im Jahr 2001 Voraussetzung für die OAS-Mitgliedschaft ist.

Die US-Diplomatie wirkte in der Vorbereitung des Gipfels ungewohnt stümperhaft.

Das ist eine unbequeme Ausgangssituation, war doch die Teilnahme oder Nichtteilnahme Kubas schon in der Vergangenheit ein diplomatischer Drahtseilakt und eine propagandistisch ausgeschlachtete Machtprobe der sozialistischen Karibikinsel mit den USA. 2015 und 2018, bei den beiden letzten Gipfeln, schien dieses Dilemma endlich überwunden: Damals luden die jeweiligen Gastgeberländer Panama und Peru Kuba ein. Dessen Präsenz blieb bis auf das Handschüttelfoto zwischen US-Präsident Barack Obama und dem kubanischen Revolutionsführer Raúl Castro aber relativ farblos.

Dass das kubanische Drama diesmal wieder zurückkehrt, hat auch mit der US-Innenpolitik zu tun. Die rechten Exilgemeinden aus Kuba und Venezuela sind inzwischen auch über den Bundesstaat Florida hinaus und im Kongress einflussreich – und sie wehren sich vehement gegen jegliche Gesten gegenüber den Diktatoren ihrer Heimatländer. Den Hardlinern auf der einen Seite entsprechen die Reaktionen der versierten Strategen auf kubanischer Seite. Diesmal gelang es der Karibikinsel geschickt, andere Länder wie Mexiko, Honduras, Argentinien und Bolivien für ihre Belange einzuspannen. Alle vier Präsidentinnen und Präsidenten verorten sich im linken ideologischen Lager, alle liegen aus unterschiedlichen Gründen mit der US-Regierung im Clinch oder sehen kurzfristige innenpolitische Vorteile darin. 

Dass das kubanische Drama diesmal wieder zurückkehrt, hat auch mit der US-Innenpolitik zu tun.

Argentiniens Präsident Alberto Fernández will für sein hochverschuldetes Land bessere Bedingungen beim Weltwährungsfonds (IWF) herausschlagen und steht intern unter Druck seiner Vizepräsidentin Cristina Kirchner, die die linken Hardliner der Regierungspartei um sich schart. Boliviens Präsident Luis Arce wird von seinem Vorgänger Evo Morales, der die USA für seinen Sturz 2019 verantwortlich macht, unter Druck gesetzt. Und Mexikos Staatschef Andrés Manuel López Obrador ist anhaltend verärgert über Kritik der USA an seiner Drogenpolitik, seiner investitionsfeindlichen Wirtschaftspolitik und seinem autoritären innenpolitischen Kurs.

Die karibischen Inselstaaten wiederum drohten, dem Gipfel fernzubleiben, wenn der venezolanische Oppositionsführer Juan Guaidó eingeladen werde. Brasiliens rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro schert sich nicht um Kuba oder Venezuela, ist aber erbost über Kritik aus Washington an Regenwaldabholzungen und seinen Versuchen, die Wahlen im Oktober zu diskreditieren. Auch er wollte zunächst dem Gipfel fernbleiben – besann sich dann aber eines anderen und wird offenbar sogar ein bilaterales Treffen mit Joe Biden bekommen.

Lateinamerika ist in den vergangenen Jahren mit wenigen Ausnahmen erneut deutlich nach links gerückt.

„Die lateinamerikanischen Regierungen signalisieren so, dass sie gleichberechtigt mitreden wollen und sich nicht mit einer unilateralen Gästeliste aus Washington zufriedengeben“, analysiert Brian Winter in einem Leitartikel der Zeitschrift Americas Quarterly. „Aber gleichzeitig versteckt sich dahinter eine wenig schmeichelhafte Realität, nämlich ein nachlassendes Bekenntnis der Region zur Demokratie.“  Und James Bosworth vom Thinktank Hxagon bedauert, das sei „das übliche Theater um die Gästeliste, mit dem man Zeit verliert, um über die wirklich wichtigen, inhaltlichen Themen zu reden“. Vermutlich werde es letztlich darauf hinauslaufen, dass die meisten Staatschef doch kommen, prognostizierte er.

Dass sich die USA mit ihrer Agenda – Demokratieförderung, Migrationsbegrenzung und Eindämmung des chinesischen Einflusses – durchsetzen können, ist deshalb jedoch noch lange nicht garantiert. Lateinamerika ist in den vergangenen Jahren mit wenigen Ausnahmen wie Ecuador, Uruguay und Guatemala erneut deutlich nach links gerückt. In Bolivien, Argentinien und Honduras kehrten nach einem rechten Intermezzo linke Parteien an die Macht zurück. In Mexiko regiert seit 2018 der Linksnationalist López Obrador. In diesem Jahr könnten noch Kolumbien und Brasilien hinzukommen. Entsprechend weit verbreitet ist die Skepsis gegenüber den USA, die in der Region ohnehin an Boden verloren haben.

Lateinamerika hat seit dem Jahrtausendwechsel seine internationalen Beziehungen diversifiziert. Die Region hat ein strategisches Interesse daran, chinesische Kredite und Investitionen zu erhalten und seine Rohstoffe und Nahrungsmittel weiterhin auch an China und Russland zu liefern. Kein einziges Land des Subkontinents hat daher aufgrund des Ukrainekrieges – der als europäisches Problem gesehen wird – Sanktionen gegen Russland verhängt. „Lateinamerikas Staatschefs suchen händeringend wirtschaftliche Hebel, um die Krise durch die Pandemie hinter sich zu lassen“, sagt Eric Farnsworth vom Council of the Americas and the Americas Society. „Als Partner schielen sie dabei mehr auf China, das seine Präsenz ausbaut, als auf die USA, die die ihre abbauen.“ Von Brasilien, Chile und Peru ist China inzwischen der wichtigste Handelspartner; seit 2005 vergab Peking 141 Milliarden US-Dollar Kredite an die Region – mehr als die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank zusammen.

Von einer gemeinsamen Vision wie 1994 ist der Kontinent weiter entfernt denn je. 

Gelten die USA in Europa als Befreier und demokratische Schutzmacht, ist das Bild in Lateinamerika deutlich differenzierter. Hier werden sie von vielen noch als imperialistische Großmacht wahrgenommen, die auch vor Gewaltanwendung zur Durchsetzung eigener Interessen nicht zurückschreckt. Die letzten militärischen Interventionen sind zwar schon eine Weile her – 1989 zum Sturz des panamaischen Diktators Manuel Noriega und 1994 zum Sturz der haitianischen Militarjunta. Doch die Erinnerungen daran, wie die USA während des Kalten Krieges immer wieder progressive, vermeintlich pro-kommunistische oder dem US-Kapitol feindlich eingestellte Regierungen stürzten, prägt das Geschichtsbewusstsein auf dem Kontinent. Viele Länder waren Schauplätze von Stellvertreterkriegen – von Guatemala bis Chile – und zahlten dafür einen hohen Blutzoll. Das möchte man um keinen Preis wiederholen. Entsprechend wenig Interesse hat Lateinamerika an einer neuen Polarisierung der Weltordnung zwischen Demokratien und Autokratien.

Von einer gemeinsamen Vision wie 1994 ist der Kontinent weiter entfernt denn je. „Es ist unklar, ob und was bei diesem Gipfel vereinbart wird“, schreibt Bosworth. Zwar sei er sich sicher, dass einige Initiativen präsentiert würden. Doch seien diese vermutlich weit entfernt von den Herausforderungen, die der Region in wirtschaftlicher, sicherheits- und klimapolitischer Hinsicht bevorstünden.