Nach 540 Tagen in Haft ist er wieder da. Und seine Entlassung aus dem Gefängnis polarisiert so sehr wie sein Haftantritt im vergangenen Jahr. Millionen Menschen in ganz Brasilien jubeln über die Freilassung von Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva. Millionen Menschen verdammen sie. In 70 Städten kam es zu Protesten. Lula darf zwar nicht kandidieren, denn er ist rechtskräftig verurteilt. Seine Rückkehr auf die politische Bühne aber hat die politischen Kräfteverhältnisse bereits verändert. Bisher waren die progressiven Kräfte im Land in der Defensive. Lula ging bereits bei seiner ersten Rede in die Offensive.
Auch für notorische Optimisten unter Lulas Anhängern kam seine Freilassung überraschend. Allenfalls klammheimlich hatte man gehofft, das oberste Bundesgericht würde seine Entscheidung aus dem Jahr 2016 revidieren, die in den Augen vieler nur unter politischem Druck gefällt wurde. Nun wurde das Verfassungsgebot wiederhergestellt, dem zufolge niemand vor Ausschöpfung aller Rechtsmittel als schuldig zu betrachten ist und entsprechend auch nicht eine Strafe vorwegnehmend in Haft genommen werden kann. Lula kann nun in Freiheit seine Verhandlung vor dem obersten Bundesgericht abwarten. Ein Datum dafür hat das Gericht bisher nicht festgelegt. Um die 4 800 Menschen profitieren von dieser neuen Regelung.
Für die Hälfte der Brasilianer ist Luis Inácio Lula da Silva weiterhin der beste Präsident, den das Land je hatte. 62 Prozent bewerten die beiden Mandate des Ex-Präsidenten positiv. Die Erinnerung an seine Regierungszeit (2003 – 2011) und eine Dekade gesellschaftspolitischen Fortschritts verhinderten allerdings nicht, dass Ende 2018 der rechtsextreme Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt wurde. Lula durfte nicht kandidieren. Seine Verurteilung zu acht Jahren und zehn Monaten Haft wegen Korruption wurde im In- und Ausland als politisch motiviert in Frage gestellt. 58 Prozent der brasilianischen Bevölkerung sind laut Umfrage inzwischen davon ebenfalls überzeugt.
Allein die Predigt einer konservativ intoleranten Wende hätte für den politischen Umsturz aber nicht ausgereicht. Die juristische Aufarbeitung des Korruptionsskandals Lava Jato wurde instrumentalisiert.
Das Thema Korruption bestimmte die Wahlen. Im Zentrum stand der Skandal um die Staatsfirma Petrobras und große Bauunternehmen und die juristische Aufarbeitung dieses Skandals durch eine Sondereinheit der Untersuchungsbehörden unter dem Namen Lava Jato. Nach einer jahrelangen Kampagne war es gelungen, die Arbeiterpartei PT, die einst für Wandel, Hoffnung und Ethik stand, in das symbolische Zentrum des strukturell korrupten Systems zu rücken. Auch wenn sich weiterhin 29 Prozent der Wählerinnen und Wähler mit der PT identifizieren – weit mehr als mit jeder anderen Partei im Land – , sind es vor allem die Ärmsten und regional die Bevölkerung im Norden und Nordosten des Landes, die der Partei treu geblieben sind. Wählerinnen und Wähler mit mittleren Einkommen hat sie verloren. Bolsonaro konnte davon profitieren und sich, obwohl selbst Teil des Systems, als Außenseiter präsentieren.
Bolsonaros Wahlerfolg erklärt sich zudem aus der Mobilisierung konservativer und religiöser Werte. Ein vor allem von Moralisierung, Manipulationen und Fake News getragener Kulturkampf konnte an ein existierendes Unbehagen andocken. Die Linke und allen voran die PT wurde nicht nur für Korruption und Wirtschaftskrise verantwortlich gemacht, sondern gleichzeitig als moralisch verkommene Förderer der Sexualisierung und homosexuellen Verführung von Kindern, der Abtreibung und „Genderideologie“ gebrandmarkt. Menschenrechte sowie die Förderung der Rechte sozialer Gruppen, die sich über ihre Identität definieren, etwa von Afrobrasilianern oder LGBT, wurden als Privilegien auf Kosten der Arbeiter angeprangert.
Allein die Predigt einer konservativ intoleranten Wende hätte für den politischen Umsturz aber nicht ausgereicht. Die juristische Aufarbeitung des Korruptionsskandals Lava Jato wurde instrumentalisiert: Mit Lula wurde der Kandidat aus dem Rennen genommen, der die größten Chancen hatte, die Präsidentschaftswahlen zu gewinnen. Inzwischen ist es für jeden, der es wissen will, eindeutig: Die Justiz hat in bestimmten Fällen ganz und gar nicht unabhängig gehandelt, sondern politisch motiviert und im eigenen Interesse. Die grundlegenden Regeln eines ordentlichen und fairen Prozesses wurden systematisch verletzt. Das kann in allen Schattierungen in den Dutzenden von Veröffentlichungen geleakter Chats zwischen Staatsanwälten, dem zuständigen Richter und anderen Persönlichkeiten nachgelesen werden.
Die Unterstützung der Bevölkerung für Regierung und Präsidenten sinkt, denn die versprochene wirtschaftliche Erholung stellt sich nicht ein. Ein politischer Meinungsumschwung ist also möglich. Wer davon profitieren kann, ist unklar.
Die politische Wende war Resultat einer erfolgreichen Verschwörung von Teilen der Justiz, rebellierender konservativer Parteien und der in wenigen Händen konzentrierten Massenmedien. Aber die Konspiration geriet aus dem Ruder. Bolsonaro war der Kollateraleffekt. Seine Wahl wurde durch die Polarisierung der Gesellschaft und die massive Manipulation von Informationen über die sozialen Medien ermöglicht. Zwar ist Bolsonaro auch für die brasilianischen Eliten inakzeptabel. Sein von Wirtschaftsminister Paulo Guedes verfolgtes neoliberales Wirtschaftsprogramm entspricht aber ihrem Wunschbild.
Die Privatisierung sozialer Dienstleistungen, von Staatsunternehmen und Naturressourcen verspricht gigantische Geschäfte. Die Arbeitslosigkeit ist inzwischen stark angestiegen, der informelle Sektor ebenso. Die Leiharbeit wurde generalisiert, Arbeit auf Abruf boomt. Die Ungleichheit nimmt zu: Mehr als die Hälfte der Beschäftigten verdient weniger als den Mindestlohn und der Abstand zwischen den niedrigsten und den höchsten Einkommen nimmt wieder zu. Seit 2014 ist die extreme Armut in Brasilien um über 50 Prozent gestiegen.
Die Unterstützung der Regierung und des Präsidenten in der Bevölkerung sinkt, denn die versprochene wirtschaftliche Erholung stellt sich nicht ein und die sozialen Kosten sind hoch. Ein politischer Meinungsumschwung ist also möglich. Wer aber davon profitieren kann, ist unklar. Die nächsten Wahlen liegen in weiter Ferne. Und auch wenn immer mehr Menschen von Bolsonaro enttäuscht sind, bedeutet das nicht, dass sie bei den nächsten Wahlen die PT wählen werden. Die Kampagne der Arbeiterpartei war bisher reaktiv und konzentrierte sich auf die Freilassung Lulas. Umfragen zeigen aber, dass ehemalige und unentschiedene Wählerinnen und Wähler trotz ihrer Unzufriedenheit mit Bolsonaro auf diese Weise nicht zu gewinnen sind.
Bolsonaro verfügt weiterhin über eine große Anhängerschaft. Er könnte sogar gestärkt werden, indem das Thema Korruption und Straflosigkeit erneut instrumentalisiert wird.
Lulas Befreiung erlaubt es der PT nun aber, offensiv Positionen in den Vordergrund zu rücken, die diese Wählerschaft motiviert. Die Kritik der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik bietet sich an. Zudem sollte die Ungleichheit zum zentralen Problem des Landes erklärt werden, eine Sicht, die auch viele der Anhänger Bolsonaros teilen. Das Narrativ müsste Antworten auf die größten Sorgen der Bevölkerung bieten: Arbeitslosigkeit, sich verringernde Einkommen sowie die Prekarisierung der Arbeitsbedingungen. Dem Minimalstaat sollte ein Entwicklungsmodell entgegengesetzt werden, in dem der Staat vor allem in die Grundversorgung, in Bildung, Gesundheit und Rente investiert.
Lula gegen Bolsonaro zielt auf eine Polarisierung mit offenem Ausgang. Bolsonaro verfügt weiterhin über eine große Anhängerschaft. Seine Basis könnte sogar gestärkt werden, indem das Thema Korruption und Straflosigkeit erneut instrumentalisiert und der dumpf-aggressive Diskurs seiner Anhänger weiter befeuert wird. Selbst zunehmende politische Gewalt und eine militärische Intervention sind nicht auszuschließen.
Eine Polarisierung könnte aber auch den Schulterschluss demokratischer Kräften gegen den wachsenden Autoritarismus fördern, denn Lula wirkt über die Linke hinaus. 53 Prozent der Bevölkerung haben ein positives Bild von ihm. Nur vereint kann es den progressiven Kräften gelingen, ehemalige Wählerinnen und Wähler zurückzugewinnen.
Gerade die herausragende Bedeutung Lulas zeigt die Schwäche der brasilianischen Demokratie, sich gegen den Angriff des rechtsextremen Autoritarismus zu behaupten.
Aber der Weg dahin ist steinig. Ciro Gomes, Präsidentschaftskandidat der PDT bei den letzten Wahlen mit immerhin 12,5 Prozent der Stimmen, erteilte einer breiten Front der Mitte-Links Kräfte bereits eine Absage. Lula, der „Schlangenbeschwörer“, würde dem Land nur Schaden zufügen. Gomes versucht ebenso wie die konservativen Eliten, eine weniger aggressive Alternative aufzubauen, die das neoliberale Wirtschaftsprogramm aber fortsetzt. Nur so hätten auch die ehemals bestimmenden Mitte-Rechts Parteien MDB und PSDB wieder die Chance, ihren Bedeutungsverlust zwischen den politischen Fronten zu stoppen.
Sergio Moro, der ehemalige Richter und heutige Justizminister, verfügt als potentieller Kandidat über große Popularität. Von den Leitmedien wird die Schreckensgestalt einer Polarisierung zwischen zwei Extremen aufgebaut, der radikalen Rechten und der ebenso radikalen Linken. Sie werben für ein moderates Zentrum, das „Dritter Weg“ getauft wurde. Die Realität sieht derweil anders aus. Der bekannte Kolumnist Luis Nassif bezeichnet sie als Teil eines „globalen Disputs zwischen Sozialdemokratie und Ultrarechten“.
Aber es ist mehr: Brasilien befindet sich erneut in der Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autoritarismus und zwischen Sozial- und Minimalstaat. Lulas Freilassung verleiht den demokratischen Kräften wieder Orientierung. Aber gerade die herausragende Bedeutung dieses Mannes zeigt die Schwäche der brasilianischen Demokratie, sich gegen den Angriff des rechtsextremen Autoritarismus zu behaupten.